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Lieselotte Brandt * 1936

Holsteiner Chaussee 34 (Eimsbüttel, Eidelstedt)


HIER WOHNTE
LIESELOTTE BRANDT
JG. 1936
EINGEWIESEN 1943
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM SPIEGELGRUND
"KINDERFACHABTEILUNG"
ERMORDET 17.1.1944

Lieselotte Edith Brandt, geb. 12.7.1936 in Hamburg, "verlegt" am 16.8.1943 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die "Wagner von Jauregg – Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", gestorben am 17.1.1944 in Wien

Holsteiner Chaussee 34 (früher Kieler Straße 768), Eidelstedt

Lieselotte Brandt war die Tochter des bei der Reichsbahn beschäftigten Schweißers Walter Brandt und seiner Ehefrau Edith, geb. Möller. Die Familie lebte in der Kieler Straße 768 in Eidelstedt (heute Holsteiner Chaussee 34). Lieselotte kam im siebten Schwangerschaftsmonat mit einem Gewicht von nur einem Kilogramm zur Welt. Ihr Zwillingsbruder starb bei der Geburt.

In früher Kindheit hatte Lieselotte Windpocken, Keuchhusten und Lungenentzündung überstanden. Sie war vor ihrer Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) Patientin im Krankenhaus Alten Eichen und im Krankenhaus Eppendorf. "Wegen Ausbombung und Wegzugs der Eltern" wurde Lieselotte, wie ihrer Patientenakte zu entnehmen ist, im Alter von sieben Jahren Heimkind. Bei der Aufnahme soll sie "fröhlicher Stimmung" gewesen sein, freundlich gelacht und auf Fragen gut verständlich geantwortet haben. Ihre Beine seien gelähmt gewesen. Sie habe wegen einer weiteren teilweisen Lähmung gefüttert werden müssen.

Von den schweren Luftangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 (Operation Gomorrha) waren auch die Alsterdorfer Anstalten betroffen. Der Anstaltsleiter, Pastor Friedrich Lensch, bat die Gesundheitsbehörde um Zustimmung zur Verlegung von 750 Patientinnen und Patienten, angeblich um Platz für Verwundete und Bombengeschädigte zu schaffen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen in die "Wagner von Jauregg – Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" aus Alsterdorf ab. Unter ihnen befand sich auch Lieselotte Brandt.

In Wien nahm die Ärztin Marianne Türk die Aufnahmeuntersuchung vor und notierte: "Gesicht recht hübsch und nett im Ausdruck, schmal, blass […] der körperliche Defekt des Kindes ist beträchtlicher als sein geistiger. […] Das Kind ist zugänglich und beobachtet mit Interesse seine Umgebung […] es spricht in kleinen Sätzen […] es benennt, ohne gefragt zu werden, die im Zimmer befindlichen Dinge […] zum Führerbild sagt sie ‚Heil Hitler‘ […] es erkundigt sich, wo die Schwester, die sie gebracht hatte, hingegangen ist, als es das Stethoskop und den Reflexhammer sieht, fragt sie, ‚Was ist das‘ […]. Zusammenfassung: Wahrscheinlich geburtstraumatisch erworbenes hirnorganisches Leiden […] mit geistigem Rückstand mittleren Grades."

Lieselottes Mutter erkundigte sich in Wien nach dem Befinden ihrer Tochter und erhielt unter dem 20. Oktober 1943 folgende Mitteilung: "Ihr Töchterchen Lieselotte ist im Zuge der Verlegung einer größeren Anzahl von Kindern am 24. September aus der Wagner von Jauregg – Heil- und Pflegeanstalt in die hiesige Klinik überstellt worden. Die Kleine hat sich hier recht gut eingelebt und äußert kein Heimweh. In den letzten Tagen hatte sie eine leichte Temperaturerhöhung, die mit einem Mittelohrkatarrh in Zusammenhang steht. Zur Besorgnis besteht jetzt kein Anlaß."

Unterschrieben hatte den Brief Dr. med. habil. Ernst Illing, vom 1. Juli 1942 bis April 1945 Direktor der "Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder ‚Am Spiegelgrund‘", dem eine der etwa 30 sogenannten Kinderfachabteilungen im Deutschen Reich unterstand.

Der Begriff "Kinderfachabteilung" wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie in Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der "Kinder-Euthanasie" dienten, also der Forschung an und der Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig behindert waren. Während des Zweiten Weltkrieges wurden in der Wiener "Kinderfachabteilung" mindestens 789 behinderte und/oder verhaltensauffällige Kinder durch Verabreichung von Schlafmitteln, durch Mangelernährung oder Unterkühlung getötet.

Lieselotte war am 24. September in den Pavillon 15 der Anstalt "Am Spiegelgrund" ‚verlegt‘ worden, in dem die "Euthanasie"-Morde stattfanden. In einem nicht datierten "Gutachten" kam Ernst Illing zu dem Schluss, das Kind Lieselotte "muß gefüttert werden und ist vollständig unrein, es ist völlig hilflos und pflegebedürftig. Bei der Schwere des Zustandes ist eine Besserung nicht anzunehmen. Das Kind wird voraussichtlich dauernd bildungs- und arbeitsunfähig bleiben." Damit war Lieselotte Brandts Schicksal besiegelt.

Ab 10. Dezember 1943 bis zu ihrem Ableben am 17. Januar 1944 sind folgende Eintragungen in Lieselottes Patientenakte enthalten: "Schlechtes Aussehen, weitere Gewichtsabnahme trotz ausreichender Ernährung, Verdacht auf Tbc." "Weitere Gewichtsabnahme, hat nur mehr 11,2 kg […] klagt nie über Schmerzen […] beginnender Dekubitus [Gewebsverlust infolge Wundliegens] in der Kreuzbeingegend […] Verständigung der Mutter nicht mehr nötig, da sie spontan erschienen ist, Kind darüber sehr erfreut […]". "Sieht von Tag zu Tag noch schlechter aus, schwerer Dekubitus am ganzen Rücken. Nimmt noch gut die Nahrung." "Hohes Fieber 39,9, sehr geringe Nahrungsaufnahme." "Morgens [am 17. Januar] schon moribund [sterbend]. Mutter kam nachm. noch zu Besuch. 18 Uhr Exitus letalis."

Als Lieselottes Todesursache wurde "hochgradige allgem. Atrophie [Gewebsschwund] mit Verdacht auf Tbc" notiert.

Der Stolperstein, der an sie erinnert, wurde in der Holsteiner Chaussee 34 (früher Kieler Straße 768) verlegt, wo sie noch in ihrer Familie gelebt hatte.

Ernst Illing wurde zusammen mit den Ärztinnen Marianne Türk und Margarethe Hübsch (stellvertretende Leiterin der Anstalt "Am Spiegelgrund" und Beteiligte an der Kinder-Euthanasie) vom 15. bis 18. Juli 1946 im ersten Steinhof-Prozess vor dem Volksgericht Wien angeklagt. Während Türk eine zehnjährige Haftstrafe erhielt und Hübsch aus Beweismangel freigesprochen wurde, erhielt Illing die Todesstrafe. Er wurde aufgrund der Verabreichung todbringender Medikamente und medizinisch nicht begründeter Lumbalpunktionen [Entnahme von Nervenwasser auf Höhe der Lendenwirbel] in etwa 200 Fällen verurteilt. Das Urteil wurde durch Hängen im November 1946 vollstreckt.

Stand: August 2020
© Ingo Wille

Quellen: Hamburger Adressbücher; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 375 (Lieselotte Brandt); Herwig Czech, Erfassung, Selektion und "Ausmerze" Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945, Wien 2003, S. 91 bis S. 94; Waltraud Häupl, Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien, Wien 2006, S. 74, 75; https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Illing, Zugriff am 4.1.2020; https://de.wikipedia.org/wiki/Margarethe_Hübsch, Zugriff am 8.1.2020.

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