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Sabine Hilsenrath-Parnass * 1884
Kieler Straße 75 (Altona, Altona-Nord)
HIER WOHNTE
SABINE
HILSENRATH-PARNASS
GEB. HILSENRATH
JG. 1884
DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
1943 AUSCHWITZ
ERMORDET
Sabine Hilsenrath-Parnass, geb. am 14.1.1884 in Delatyn, Galizien (heute Deljatyn, Ukraine), deportiert am 24.3.1943 in das Getto Theresienstadt, weiterdeportiert nach Auschwitz am 6.9.1943, ermordet
Kieler Straße 75 (Altona-Nord)
Der Name Hilsenrath-Parnass auf dem Stolperstein zur Erinnerung an Sabine Hilsenrath-Parnass folgt behördlichen Bezeichnungen in den 1930er Jahren in Hamburg. "Hilsenrath" entspricht dem Geburtsnamen, "Parnass" deutet auf den Namen des Ehemannes hin, dessen Nachname richtig "Parnes" lautete. Aus der Kombination ergab sich der bürokratisch bestimmte Nachname. Im Folgenden wird, soweit die Zeit nach der Eheschließung berührt ist, der Name Sabine Parnes benutzt.
Sabine Hilsenrath, geboren am 14. Januar 1884, stammte aus dem Ort Delatyn im damals österreichischen Galizien (heute Deljatyn/Westukraine). Ihr Vater war Juda Hilsenrath, den Namen der Mutter kennen wir nicht.
Delatyn war infolge der Auflösung Österreich-Ungarns und der anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg an Polen gefallen. Die daraus folgenden staatsrechtlichen Komplikationen führten bei vielen der vorher österreichischen Staatsangehörigen zu Verwirrungen hinsichtlich ihrer neuen Staatsangehörigkeit, offenbar auch bei Sabine Parnes. Laut Steuerkarte der Jüdischen Gemeinde in Hamburg (Kultussteuerkarte) war sie staatenlos. In ihrem Antrag auf Ausreise nach Amerika vom Juli 1938 gab sie demgegenüber an, die polnische Staatsangehörigkeit zu besitzen.
Sabine Hilsenrath, über deren Kindheit und Jugend nichts bekannt ist, hatte den am 15. März 1859/1858 in Szczerec/Galizien (heute Schtschyrez/Westukraine) geborenen Leib Hersch Parnes geheiratet, der sich in Deutschland Hermann nannte. Beide Eheleute waren jüdisch.
Hermann Parnes war erstmals 1905 aus Grodek/Galizien (heute Horodok/Westukraine) nach Deutschland gekommen und hatte sich am 30. Oktober im damals noch preußischen Harburg als Handelsmann angemeldet. Dort hatten sich schon mehrere Verwandte aus Grodek und umliegenden Orten niedergelassen. Im Mai 1906 holte Hermann Parnes seine Frau aus Galizien nach Deutschland.
Das Paar muss Deutschland kurze Zeit später wieder verlassen haben, denn am 4. August 1907 oder 6. Juli 1907 wurde die gemeinsame Tochter Paula (Perl, Pepi) im damals ungarischen Körösmezö/Westkarpaten (heute Jassinja/Ukraine) geboren. Das zweite Kind, Jakob, kam am 23. September 1909 in Delatyn zur Welt. Der Sohn trug zunächst den Nachnamen Parnes, später aber den Namen Hilsenrath. Den Grund für die Namensänderung kennen wir nicht. Die Familie lebte nach der Geburt des Sohnes wieder in Harburg/Elbe. 1912 erfolgte ein weiterer Ortswechsel. Von Harburg kommend, meldete sich die Familie im Großherzogtum Oldenburg an. Zwei Jahre später (1914) ließ sich die Familie in Lüneburg nieder, zunächst in der Straße Münze 8. Nach dem Kauf des Gebäudegrundstücks Salzstraße 4 im Februar 1919 begründete sie hier ihren Wohnsitz. Auf Wunsch beider Eheleute wurde Sabine Parnes als Eigentümerin in das Grundbuch eingetragen.
Hermann Parnes betrieb in Lüneburg in den folgenden Jahren einen Textilhandel. Er starb im Alter von 64 Jahren am 15. Februar 1924 in seinem Wohnhaus. Von nun an übernahm Sabine Parnes das Textilgeschäft.
Ihre Tochter Paula heiratete am 23. Juni 1925 in Hamburg den 1922 aus Polen zugewanderten jüdischen Kaufmann Moses Moritz Mojzesz Brandstein, der in Lüneburg ein "Abzahlungsgeschäft" betrieb (d.h. die dort gekauften Gegenstände konnten in Raten abbezahlt werden).
Als Heiratsausstattung (Mitgift) erhielt Paula Brandstein von ihrer Mutter die Hälfte des Grundstücks Salzstraße 4 und das halbe Geschäftsvermögen. Der hälftige Übergang des Eigentums an dem Grundstück Salzstraße 4 wurde notariell beurkundet und in das Grundbuch eingetragen. Paula Brandstein brachte beides, Grundstücks- und Geschäftsanteil, in die Ehe ein. Rechtlich blieb die von der Mutter erhaltene Grundstückshälfte zwar in Paula Brandsteins Eigentum, doch Moritz Brandstein wurde auf diesem Wege wirtschaftlicher Miteigentümer des Grundstücks Salzstraße 4, ebenso Gesellschafter des Textilhandels. Er betrieb sein Abzahlungsgeschäft zunächst weiter, bis er ab 1929 in dem Textilwarengeschäft in der Salzstraße 4 direkt tätig wurde.
Paula und Moritz Brandstein bekamen während ihrer Zeit in Lüneburg zwei Kinder: Jenni Lilly am 4. Juli 1926 und Horst am 4. November 1927. Der Junge starb schon nach zweieinhalb Jahren am 18. Juli 1930.
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten ging auch in Lüneburg ein Boykott jüdischer Geschäfte einher, der zu wirtschaftlichen Einbrüchen führte. Sabine Parnes und ihr Schwiegersohn wurden aus ihrer Geschäftstätigkeit verdrängt. Am 28. März 1933 verließen sie und die Familie Brandstein Lüneburg.
Sabine Parnes zog im damals noch selbstständigen Altona in die Stresemannstraße 27 und anschließend in die Grüne Straße 5 (heute Kirchenstraße). In diesem damals dem "Isaac Hartwig Vermächtnis" gehörenden Wohnhaus lebten mehrere jüdische Bewohner und auch der Israelische Humanitäre Frauenverein e.V. hatte hier seinen Sitz genommen. (Isaac Hartwig war ein 1839 in Hamburg verstorbener Stifter, der u.a. den Bau der Synagoge in Friedrichstadt (Schleswig-Holstein) ermöglicht hatte.)
Moritz Brandstein fand mit seiner Familie zunächst in der General-Litzmann-Straße 19 (heute Stresemannstraße, Stadtteil St. Pauli) eine Wohnung. Er war nun als Reisender für Weine tätig. Die Familie wechselte mehrmals den Wohnsitz. Im Altonaer Adressbuch ist Moritz Brandstein in der Wohlersallee 7 (heute Wohlers Allee, Stadtteil Altona-Altstadt), in der Lerchenstraße 25 (St. Pauli) und schließlich 1938 in der General-Litzmann-Straße 110 (heute Stresemannstraße, Altona-Altstadt) verzeichnet.
Sabine Parnes zog von der Grüne Straße zu der Familie ihres Sohnes Jakob in die Kieler Straße 75 in Altona-Nord. Jakob, der "Hilsenrath" als seinen Familiennamen führte, war von Beruf Zahntechniker. Er war Ende 1930 nach einer kurzen Zwischenstation in Dortmund von Lüneburg aus nach Hamburg gezogen. Am 25. März 1931 gingen Jakob Hilsenrath und die ebenfalls jüdische, am 12. Juni 1908 in Radymor/Galizien geborene Chane (Hanna) Bleiberg in Hamburg die Ehe ein. Das Paar wohnte in Hamburg-Eimsbüttel in der Margarethenstraße 72 und in der Straße Bei der Apostelkirche 24, bevor es 1931 in der Kieler Straße 75 in Altona eine Wohnung fand. Hier kam am 30. März 1932 Sabine Parnes‘ Enkelkind Judith (Jutta) zur Welt. 1933 wurde die zweite Tochter geboren, deren Vorname und genaues Geburtsdatum uns nicht bekannt sind.
Jakob Hilsenrath zog 1935 mit seiner Familie nach Hagen in Westfalen, Chane Hilsenraths Wohnort vor ihrer Ehe. Er hatte sich offenbar schon vor dem Wechsel nach Hagen mit Emigrationsabsichten getragen und zur Vorbereitung auf das neue Leben an einer Ausbildung im Kibbuz Schachal im Steubenweg 36 (heute Grotiusweg) in Blankenese teilgenommen. Noch im Jahr 1935 flüchteten Jakob, Chane und Judith Hilsenrath nach Palästina.
Damit endete auch Sabine Parnes‘ Wohnmöglichkeit in der Kieler Straße. Sie zog nun zur Untermiete in die General-Litzmann-Straße 47 (heute Stadtteil Sternschanze) zur jüdischen Familie Ornstein.
Im Juli 1938 beantragte Sabine Parnes die Genehmigung für die Emigration in die USA. Doch sie war völlig mittellos. Der Emigrationsversuch blieb erfolglos.
Am 28. Oktober 1938 wurden etwa 17000 Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft im Rahmen der sogenannten Polenaktion aus dem Deutschen Reich nach Polen abgeschoben. Die polnische Regierung hatte zuvor gedroht, die Pässe der im Ausland lebenden Polen nicht zu verlängern. Die Betroffenen wären dadurch zu Staatenlosen geworden. Die NS-Regierung befürchtete, tausende "Ostjuden" würden dauerhaft auf deutschem Territorium bleiben. Ohne Vorwarnung und ohne Ansehen der Person wurden daraufhin im gesamten Deutschen Reich Männer, Frauen und Kinder von ihren Arbeitsplätzen oder aus ihren Wohnungen geholt, an verschiedenen Plätzen zusammengefasst und noch am selben Tag mit der Eisenbahn bei Zbaszyn (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien über die polnische Grenze abgeschoben. Aus Hamburg, zu dem seit dem 1. Januar 1938 auch Altona gehörte, wurden etwa 1000 Menschen an den deutschen Grenzort Neu Bentschen (heute Zbąszynek) gebracht und von dort mit Gewalt über die deutsch-polnische Grenze nach Zbaszyn (Bentschen) getrieben.
Die Abschiebung erfolgte gewaltsam und kam für die Betroffenen völlig überraschend. Zu ihnen gehörten auch Sabine Parnes‘ Tochter Paula, deren Ehemann Moritz Brandstein, deren Tochter Jenni Lilly und die Familie Ornstein, bei der Sabine Parnes wohnte. Auch sie selbst sollte nach Polen abgeschoben werden, doch ihre Deportation wurde wegen Transportunfähigkeit infolge Krankheit zurückgestellt.
Im Frühjahr/Sommer 1939 lag Sabine Parnes längere Zeit als Patientin im Israelitischen Krankenhaus. Näheres ist nicht bekannt. Sie fand danach erneut Unterkunft in der Grüne Straße 5 in Altona. Hier wie auch in anderen Wohngebäuden der Jüdischen Gemeinde wurden jüdische Menschen nach der massiven Einschränkung der freien Wohnungswahl durch das "Reichsgesetz über die Mietverhältnisse mit Juden" nach dem 30. April 1939 auf engstem Raum in "Judenhäusern" konzentriert.
Im Grundbuch von Lüneburg waren Sabine Parnes und ihre Tochter Paula immer noch als Eigentümerinnen des Grundstücks Salzstraße 4 in Lüneburg eingetragen. Am 27. März 1939 machte Sabine Parnes auch in Vollmacht für ihre Tochter dem Werkmeister Emil Götze aus Lüneburg ein Verkaufsangebot, der dies am 1. April 1939 annahm. Der Kaufpreis für das Grundstück betrug 4.100 RM. Die Grundbuchakte gibt keinen Aufschluss über die Gründe des Verkaufs. Aus diesem blieben Sabine Parnes keinerlei Mittel, denn sie musste "den gesamten Überschuß aus dem Hausverkauf und der Hausverwaltung an die Sozialverwaltung Hamburg" abführen.
Am 25. Oktober 1941 begannen in Hamburg die Deportationen von jüdischen Menschen "in den Osten". Die Liste für den ersten Transport am 25. Oktober 1941 nach Lodz enthielt auch den Namen von Sabine Parnes, dort als Sabine Hilsenrath bezeichnet. Aus uns nicht bekannten Gründen wurde ihr Name wieder von der Transportliste gestrichen.
Sabine Parnes wurde schließlich am 24. März 1943 in einem Transport von 50 Menschen in das Getto Theresienstadt deportiert. Ihre letzte Adresse in Hamburg lautete Beneckestraße 6, wie die Grüne Straße 5 ein "Judenhaus", wobei in der Beneckestraße vor allem ältere Jüdinnen und Juden untergebracht wurden. Von Theresienstadt wurde Sabine Parnes am 6. September 1943 nach Auschwitz weiterdeportiert und dort ermordet.
Moritz Brandstein war am 16. Juni 1939 mit einer Aufenthaltserlaubnis bis 4. September 1939 aus Polen nach Hamburg zurückgekehrt, um seine Vermögensangelegenheiten und die seiner Ehefrau zu regeln sowie die Auswanderung über Polen in die USA einzuleiten. Er erklärte, dass sich seine Frau und seine Tochter in Bukaczowce bei Lemberg (heute West-Ukraine) aufhalten würden und nicht nach Deutschland kommen wollten.
Am 17. November 1939 befand sich Moritz Brandstein im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel in Haft. Vermutlich hatte sich seine Ausreise verzögert, und er wurde wie Tausende noch im Deutschen Reich verbliebene männliche polnische Juden nach Kriegsbeginn am 1. September 1939 als "feindlicher Ausländer" inhaftiert. Wann er von Fuhlsbüttel abtransportiert wurde, ist ebenso wenig bekannt wie das Ziel des Abtransports.
Das Internationale Rote Kreuz teilte nach dem Kriege mit, Moritz Brandstein sei am 9. August 1942 vom Konzentrationslager Groß-Rosen kommend im Konzentrationslager Dachau (Häftlings-Nr. 33884) eingeliefert und am 19. Oktober 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz überstellt worden (Häftlings-Nr. 69006). Bis zum 14. November 1942 habe er sich im Häftlingskrankenhaus aufgehalten. Danach verliert sich seine Spur. Moritz Brandstein wurde auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt.
Moritz Brandsteins Information, dass Paula und Jenni Lilly Brandstein sich 1939 in Bukaczowce bei Lemberg aufgehalten hätten, ist die letzte uns bekannte Adresse über den Verbleib dieser beiden Menschen. Es ist davon auszugehen, dass sie im besetzten Polen zu Tode kamen. Im Verfahren zur Todeserklärung wurde als letzte Adresse Stresemannstraße 110 in Altona-Altstadt angegeben.
Stand: April 2023
© Ingo Wille
Quellen: Adressbücher von Hamburg und Altona, StaH213-13 Landgericht Hamburg Wiedergutmachung 12690 Brandstein Paula, 33846 Hilsenrath Jakob, 20766 Brandstein Moritz und Paula, 314-15 Oberfinanzpräsident Devisenstelle R1938_1163 Hilsenrath-Parnass, F199B Brandstein Moritz und Ehefrau, 332-5 Standesämter 13631 Heiratsregister Nr. 115/1931 Jakob Hilsenrath/Chane Bleiberg, 351-11 Amt für Wiedergutmachung 25960 Brandstein Moritz, 34369 Brandstein Salomon 43889 Brandstein, 741-4 Fotoarchiv diverse Melderegistereinträge in Altona und Harburg über Sabine Hilsenrath, Jakob Hilsenrath, Moses Moritz Brandstein und Familie; Arolsen Archives, Haftnachweise Moses Moritz Brandstein sowie Hinweise zur Todeserklärung von Paula und Jenni Lilly Brandstein; Stadtarchiv Lüneburg: diverse Meldedaten Sabine Parnes, Paula und Moritz Brandstein, Stadt ALg_PSLG-R_319_1930_318 Sterberegisterauszug Horst Brandstein; Sterberegister Lüneburg, Nr. 58/1924 Hersch Leib Parnes; Amtsgericht Lüneburg, Grundbuchamt, Grundbuch Lüneburg Band 28 Blatt 13; Stadtarchiv Oldenburg, Meldeauskünfte über die Familie Parnes.