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Ursula Grabbe * 1939
Annenstraße 17 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)
HIER WOHNTE
URSULA GRABBE
JG. 1939
EINGEWIESEN 1943
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM SPIEGELGRUND
"KINDERFACHABTEILUNG"
ERMORDET 30.9.1944
Ursula Grabbe, geb. 7.11.1939 in Hamburg-Altona, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 6.7.1943, verlegt nach Wien am 16.8.1943, dort gestorben am 30.9.1944.
Annenstraße 17 (St. Pauli)
Ursula Grabbe kam am 7.11.1939 in Altona als einziges Kind des Schlossers Albert Bernhardt Grabbe, geboren am 24.10.1901 in Neuhaus/Oste, und seiner Ehefrau Erna Luise Frieda, geb. Münster, geboren am 28.4.1917 in Altona, zur Welt. Albert und Erna Grabbe hatten am 15. August 1939, wenige Monate vor Ursulas Geburt, geheiratet. Sie wohnten in der Annenstraße 17 im Stadtteil St. Pauli.
Ursula zeigt – so ihre Patientenakte - seit der Geburt Anzeichen einer Behinderung, die nicht näher beschrieben wurden. Aufgrund eines Attestes des Altonaer Gesundheitsamtes wurde sie am 21. April 1942 mit der Diagnose "Erethische Imbezillität" und "Verwahrlosung" in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn eingewiesen.
Das Kind habe, so heißt es in seiner Langenhorner Patientenakte, in seiner geistigen Entwicklung keine Fortschritte gezeigt. Im Kindergarten sei es dadurch aufgefallen, dass es die Hände merkwürdig verdreht und einen merkwürdigen Blick habe. Ursulas Vater äußerte gegenüber der Anstalt in Langenhorn, dass er glaube, dass sich seine Tochter noch "normal" entwickeln könne.
In Langenhorn befand sich Ursula in der sog. Kinderfachabteilung, in der die "Kinder-Euthanasie" vorgenommen wurde, also die Forschung an und die Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig behindert waren. Ihre Ermordung wurde den Eltern gegenüber zur Tarnung als "Behandlung" bezeichnet. In Ursula Grabbes Akte heißt es: "Bezüglich einer Behandlung will die Mutter noch mit ihrem Mann Rücksprache nehmen."
Wir wissen nicht, was über Ursulas "Behandlung" im Einzelnen mit der Mutter besprochen wurde. Aus anderen Fällen ist bekannt, dass Eltern in der Regel eine neue, nur vage erklärte Therapie empfohlen wurde, die eine Chance auf Heilung eröffne, aber sich auch lebensbedrohlich auswirken könne. In ihrer Verzweiflung stimmten viele Eltern zu. Sollte dies auch Frau Grabbe vorgeschlagen worden sein, so scheint sie ihre Einwilligung verweigert zu haben. Sie nahm ihr Kind am 29. April 1942 aus der Anstalt heraus und wieder zu sich nach Hause.
Ursulas Vater starb am 22. Juli 1942 mit nur 40 Jahren im Hamburger Universitäts-Krankenhaus in Eppendorf. Von nun an musste Ursulas Mutter allein für ihre Tochter und für sich sorgen.
Am 27. April 1943 wurde Ursula Grabbe ein zweites Mal in Langenhorn aufgenommen. Nach Angaben der Mutter hatte sie Ursula fremden Menschen in Elmshorn zur Pflege anvertrauen müssen. Sie selbst habe sich wegen Gelenkrheumatismus im Krankenhaus befunden und im Anschluss einen Betriebsunfall mit der Folge einer Gehirnerschütterung erlitten. Während der acht Monate, während der Ursula in Elmshorn lebte, habe das Kind "es nicht gut gehabt". Die Pflegeeltern hätten sich Ursulas geschämt und sie nicht aus dem Haus gelassen. Die Mutter habe ihre Tochter stark abgemagert und verstört zurückbekommen. Bei jedem Geräusch auf der Straße sei das Kind zusammengezuckt.
Die Mutter verband die erneute Aufnahme in Langenhorn mit der Hoffnung, dass Ursula geholfen werde. Ob damit eine "Behandlung" wie oben beschrieben gemeint war, muss offen bleiben.
Ursula schwebte auch während ihres zweiten Aufenthaltes in Langenhorn in der Gefahr, der "Kindereuthanasie" zum Opfer zu fallen. Dies ergibt sich aus einem in ihrer Akte befindlichen Schreiben des "Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" vom 12. Mai 1943 an das Staatliche Gesundheitsamt des Kreises Pinneberg, zu dem auch Elmshorn gehörte. Diese Tarnorganisation der "Kindereuthanasie" bestimmte darin, dass Ursula Grabbe in "die Kinderfachabteilung bei der Landesheilanstalt Schleswig" aufgenommen werden solle. Weiter heißt es: "Hier kann auf Grund der durch den Reichsausschuss getroffenen Einrichtungen die beste Pflege durchgeführt werden."
Die Einweisung in Schleswig konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da Ursula Grabbe bereits in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn untergebracht worden war. Deshalb leitete das Staatliche Gesundheitsamt des Kreises Pinneberg das Schreiben an das Gesundheitsamt Hamburg und dieses es an die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn weiter. Weitere Hinweise über Ursula Grabbes Schicksal in Langenhorn sind in ihrer Akte nicht enthalten.
Aus einem uns nicht bekannten Grund wurde Ursula Grabbe am 6. Juli 1943, sie war nun 3 ½ Jahre alt, in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) verlegt. Möglicherweise hatte ihre Mutter interveniert. In Alsterdorf wurde notiert, dass Ursula nicht sprechen könne und viel weine. Nach der Ursache wurde offenbar nicht gesucht. Doch "wenn man sich mit ihr beschäftige," heißt es in der Akte, "wird sie fröhlicher, versucht nachzusprechen."
Sechs Wochen später, am 16. August, wurde Ursula Grabbe zusammen mit 227 Frauen und Mädchen aus den Alsterdorfer Anstalten und 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die dortige Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien abtransportiert.
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Juli/August 1943 ("Operation Gomorrha") hatten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden erlitten. Der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Zwischen dem 7. und dem 16. August 1943 gingen aus Alsterdorf neben dem Transport nach Wien weitere Transporte ab. Insgesamt wurden 468 Mädchen und Frauen, Jungen und Männer aus den Alsterdorfer Anstalten abtransportiert.
Ursula Grabbe kam am 17. August 1943 in der Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, Wien 14, Baumgartnerhöhe, an. Bei der Aufnahme wurde sie als "unruhig, pflegebedürftig, unrein" beschrieben. Die lange Reise von Hamburg nach Wien wurde dabei nicht berücksichtigt. Als Ergebnis der Aufnahmebesprechung mit Ursula am 26. August hielt das Personal fest: "Verblödet. Hält sich hier ruhig, Gang unsicher, achtet die Fragen nicht. Hat den Mund immer offen. [….] Macht schaukelnde Bewegungen." Im Wachstum sei sie zurückgeblieben.
Auch Ursulas Mutter war während der massiven Luftangriffe auf Hamburg ausgebombt worden und wohnte nun zur Untermiete in Wilstorf, einem Stadtteil südlich der Elbe. Auf ihre besorgte Anfrage erhielt sie unter dem 5. Oktober 1943 die Mitteilung: "Ihr Kind befindet sich seit dem 17. August in h.o. [hier ortiger] Anstalt auf Pav. 21. Den Transport hat es gut überstanden. Der allgemeine Zustand ist unverändert. Gez. Dr. Podhajsky". Dieser Arzt Wilhelm Podhajsky schrieb am 8. Oktober: "Ergänzend auf dem vom Schreiben v. 5.10.43 wird noch mitgeteilt, dass Ihr Kind, dass sich wegen angeborenen Schwachsinns i.h.o. Anstalt befindet, völlig teilnahmslos verhält, unselbständig ist und vollends gepflegt werden muss."
Am 25. September 1944 wurden vierzehn der Alsterdorfer Mädchen in die "Kinderfachabteilung" der Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder (auch bekannt als Anstalt Am Spiegelgrund) überstellt, darunter als jüngste Ursula Grabbe. Die Ärztin Marianne Türk nahm die Aufnahmeuntersuchung vor und notierte, das Kind sei scheu, verschreckt und sehr ängstlich. Es falle auf, dass es zwischendurch Lieder richtig singe, z.B. "Lebewohl, auf Wiedersehen". In einer vorläufigen Zusammenfassung ist vermerkt: "Über Sippe und Vorgeschichte keinerlei Angaben vorhanden. Diagnose: Idiotie Ia?".
Vier Tage später litt Ursula an hohem Fieber, das weiter anstieg, eine schwere Bronchitis und eine "beginnende Lungenentzündung" verschlimmerten ihr Allgemeinbefinden bedenklich. Die Nahrungsaufnahme war schlecht. Trotz zunehmender Schwäche war das Kind "zeitweise sehr unruhig".
Am 30. September 1944 starb Ursula Grabbe an eitriger Bronchitis und Lungenentzündung. Ärztin Türk vermerkte noch: "Die Sektion ergab Lungentuberkulose."
Wir wissen nicht, wodurch konkret Ursula Grabbes hohes Fieber und die dramatische Verschlechterung des Allgemeinbefindens ausgelöst wurde. Es muss aber als sicher angenommen werden, dass das Mädchen keines natürlichen Todes gestorben ist. Alle 14 Alsterdorfer Mädchen wurden innerhalb von dreieinhalb Monaten nach ihrer Aufnahme in der sog. Kinderfachabteilung getötet. Kurz vor dem Tod erhielten die Eltern regelmäßig ähnliche Post von Türk. Der Wortlaut der "Warnbriefe" und der weitere Ablauf waren fast in allen Fällen identisch. Ob Ursula Grabbes Mutter einen derartigen Brief erhalten hat, lässt sich aus der Patientenakte nicht rekonstruieren.
Am Beispiel des an den Vater eines Mädchens, das mit Ursula Grabbe nach Wien verlegt wurde, gerichteten "Warnschreibens" wird deren Inhalt deutlich: "Ihr Töchterchen Friedl ist seit gestern an einer fieberhaften Grippe erkrankt. Da sich heute noch dazu eine linksseitige Lungenentzündung entwickelt, erscheint der Zustand bedrohlich." Und wenige Tage später erhielt der Vater folgende Mitteilung: "Zu meinem Bedauern muss ich Sie hiervon in Kenntnis setzen, dass ihr Kind Friedl heute um 1.45 Uhr von seinem unheilbaren Leiden durch einen sanften Tod erlöst wurde."
Seit 2002 befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof ein Gräber- und Gedenkfeld "Zur Erinnerung an die Kinder und Jugendlichen, die als ‚lebensunwertes Leben‘ in den Jahren 1940 bis 1945 in der damaligen Kinderklinik ‚Am Spiegelgrund‘ der NS-Euthanasie zu Opfer gefallen sind". Dort sind auf acht Tafeln die Namen der ermordeten Kinder und Jugendlichen aufgeführt, auch der von Ursula Grabbe.
Von den am 16. August 1943 insgesamt aus Hamburg nach Wien deportierten 300 Frauen und Mädchen (228 aus Alsterdorf, 72 aus Langenhorn) fanden 257 bis Ende 1945 den Tod.
Stand: Juli 2021
© Ingo Wille
Quellen: StaH 332-5 Standesämter 9931 Sterberegister Nr. 1222/1942 Albert Bernhardt Grabbe; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Nr. 86223 Grabbe Ursula; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 341 Grabbe Ursula; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331 ff., insbes. S. 345; Waltraud Häupl, Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund, Wien 2006, S. 148; Peter Schwarz, Mord durch Hunger, "Wilde Euthanasie" und "Aktion Brandt" am Steinhof in der NS-Zeit in eForumzeitGeschichte 1/2001 http://www.eforum-zeitgeschichte.at/1_01a1.html, Zugriff am 31.5.2021.