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Chaja Rywa Balck (geborene Skop) * 1895
Lottbeker Weg 24 (Wandsbek, Wohldorf-Ohlstedt)
HIER WOHNTE
CHAJA RYWA BALCK
GEB. SKOP
JG. 1895
DEPORTIERT 1942
AUSCHWITZ
ERMORDET
Chaja Rywa Balck, geb. Skop, geb. 22.4.1895 in Diewin, damals Russland, am 11.7.1942 nach Auschwitz deportiert
Lottbeker Weg 24
Das Mahnmal St. Nikolai ist Hamburgs zentraler Erinnerungsort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft der Jahre 1933–1945. Die ehemalige Hauptkirche St. Nikolai wurde während der Luftangriffe auf Hamburg 1943 zerstört. In der Ruine erinnert ein Museum an Ursachen und Folgen des Luftkriegs in Europa. Eines der Ausstellungsstücke dort ist ein Brief vom 1. September 1942 an die "Vermögensverwertungsstelle", eine Dienststelle, die u.a. den Besitz deportierter Jüdinnen und Juden zugunsten des Deutschen Reiches einzog und "verwertete". Verfasserin war eine Frau "G. von T.", der Name ist geschwärzt. In dem Schreiben heißt es: "... erlaube mir hiermit zwecks Anfrage über die Wohnung der Jüdin Balk in Wohldorf Ohlstedt ... Da dieselbe für Bombengeschädigte gedacht ist, möchte ich hiermit anfragen, ob es wohl gestattet wäre, einen Tausch vorzunehmen. ... Da ich mit meinem Jungen gerne in Ohlstedt in der Nähe meiner Eltern wohnen möchte, bitte ich Sie hiermit, mein Angebot [!] wohlwollend zu prüfen ... Heil Hitler ...". Frau G. von T. wurde geraten, "sich dieserhalb an das Wohnungspflegeamt zu wenden". Dort wurde ihre Anfrage abschlägig beschieden. Bei der erwähnten "Jüdin Balk" handelte es sich um die Eigentümerin des Hauses Lottbeker Weg 24: Chaja Rywa Balck hatte dort bis zu ihrer Deportation und Ermordung 13 Jahre lang gelebt.
Chaja bedeutet auf Hebräisch "sie lebt". Ob ihre Eltern, der Tischler Selig Skop und seine Frau Eva, geb. Rosenzweig, ihre Tochter so nannten, weil sie ein besonders zartes Kind war, wissen wir nicht, über ihre Kindheit und Jugend besitzen wir keine Informationen. Ihr Geburtsort Diewin liegt im Kreis Kobryn östlich von Brest-Litowsk im heutigen Weißrussland. 1878 lebten dort 2.490 Einwohnerinnen und Einwohner, 998 davon jüdischen Glaubens.
Auskunft über Chaja Balcks Leben geben nur wenige Dokumente. Sie war am 21. Januar 1919 aus Warschau nach Hamburg zugezogen, in die Straße Brauerknechtgraben 8 III bei Schmidt. Auf der Meldekartei wurden ihr Beruf – Schneiderin – und ihre polnische Staatsangehörigkeit notiert. Wenig später, am 1. März, ließ sie sich in der St. Michaeliskirche evangelisch taufen. Am 22. April 1919 heiratete sie dort den Arbeiter Paul Balck, geboren am 29.5.1878 in Hamburg, lutherischer Religion. Chajas Vermieter Wilhelm Schmidt fungierte als Trauzeuge. Paul Balck wohnte in demselben Haus. Seine Eltern lebten nicht mehr. Sein Vater, der Arbeiter Christoph Joachim Friedrich Balck, christlicher Religion, war im August 1917 im Alter von 79 Jahren im Werk- und Armenhaus gestorben, seine Mutter Catharina Margareta Henriette, geb. Mohnsen, hatte er schon 1886 kurz vor seinem achten Geburtstag verloren. Über Pauls Kindheit und Werdegang wissen wir nichts, eventuelle Geschwister sind nicht bekannt. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg als Soldat in Russland, vielleicht lernte er so die 17 Jahre jüngere Chaja kennen. Der Kreis Kobryn war zeitweilig von deutschen Truppen besetzt gewesen.
Über die ersten Ehejahre des Paares wissen wir nichts, 1929 wohnte es in der Wilhelmsburgerstraße 83 III. Im selben Jahr ließ Paul Balck als Schwerkriegsbeschädigter einen Teil seiner Versorgungsbezüge in eine Kapitalabfindung "zum Erwerb und zur wirtschaftlichen Stärkung" umwandeln und konnte so das Grundstück Lottbeker Weg 24 kaufen. Im März 1929 wurde er als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen, im Juni empfing er ein Darlehen von der Stadt zur Errichtung eines Einfamilienwohnhauses. Zudem erhielt er aus Mitteln des Reichswohnungsfürsorgefonds für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene ein Zusatzdarlehen. Ende September 1929 erfolgte der Umzug nach Ohlstedt. Wahrscheinlich um den Hausbau zu finanzieren, lebten von Anfang an Untermieter mit im Haus, als erster ein ehemaliger Mitbewohner aus der Wilhelmsburgerstraße.
Wegen einer offenen Tuberkulose, die er sich in Russland zugezogen hatte, wurde Paul kriegsbeschädigt entlassen und war dann "stetig 80% rentenberechtigt". Ärztlicherseits wurde dem Ehepaar wegen seiner Krankheit abgeraten, Kinder zu bekommen. Sonst hätten sie sicher Kinder bekommen, sie seien beide sehr kinderlieb gewesen, schrieb Chaja später.
Im Adressbuch von 1932 war Paul Balck unter der Anschrift Lottbeker Weg 24 mit dem Beruf "Fruchtpacker" eingetragen. Sechs Jahre später starb er im Marienkrankenhaus, knapp 60-jährig, vielleicht an den Spätfolgen des Krieges. Damit verlor Chaja nicht nur ihren Lebenspartner, sondern auch den Schutz ihres "arischen" Ehemanns. Als Alleinerbin wurde sie Eigentümerin des Hauses.
Wie aus dem folgenden Dokument hervorgeht, muss sie nach dem Tod ihres Mannes ein sehr zurückgezogenes Leben geführt haben. Am 10. Oktober 1941 schrieb Chaja Balck an das Polizeipräsidium und bat darum, das "Judenabzeichen" nicht tragen zu müssen: "als Witwe eines Weltkriegsinvaliden und auf Grund meiner Führung und meines ganz zurückgezogenen Lebens ... zumal in meinem Hause nur arische Menschen und Kinder wohnen, in deren Interesse es auch nicht liegen kann, wenn ich nun dieses Zeichen tragen muss." Ob sie darauf jemals eine Antwort erhielt, geht aus der [Straf!]-Akte nicht hervor. Stattdessen wurde sie zur Polizei Wohldorf-Ohlstedt vorgeladen, weil sie auf dem Schreiben "nicht Kennort und Kenn-Nummer Ihrer Kennkarte angegeben [hat] ... Es handelt sich hier um eine Zuwiderhandlung gegen ... den Kennkartenzwang." Chaja Balck sagte zu ihrer Verteidigung: "Ich habe bestimmt in Unwissenheit gehandelt. Ich lebe hier allein und komme hier mit niemandem zusammen. Irgendwelche Beziehungen zu anderen Juden habe ich nicht. Auch nicht zur jüdischen Religionsgemeinschaft." Sie wurde zu einer Geldstrafe von fünf Reichsmark (RM) oder einem Tag Gefängnis verurteilt und musste die Kosten des Verfahrens tragen. Am 26. November 1941 zahlte sie 7,50 RM bei der Gerichtskasse Hamburg ein. Zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung erhielt sie monatlich 88, 95 RM "Militärrente", hinzu kamen wahrscheinlich noch Mieteinnahmen.
Acht Monate später wurde Chaja Balck nach Auschwitz deportiert. Auf der Deportationsliste wurde ihr Beruf als Arbeiterin angegeben, sie hat also wohl vorher noch Zwangsarbeit geleistet. Der Oberfinanzpräsident zog das Grundstück Lottbeker Weg 24 zugunsten des Deutschen Reiches ein. 1943 wurde es an einen Schwerbeschädigten des Zweiten Weltkriegs weiterverkauft.
Stand Juli 2016
© Sabine Brunotte
Quellen: 1; 5; StaH 332-5 3337 Nr. 280; StaH 314-15 OFP Akte 23; StaH 332-8 Meldewesen K 6988; StaH 332-5 1932 Nr. 2567; StaH 332-5 3337 Nr. 280; StaH 332-5 193 Nr. 1781; StaH 332-5 6963 Nr. 1504; StaH 213-11 643/42; StaH 332-5 7204; StaH 741-4 Fotoarchiv K 4379; StaH 522-1 Jüd. Gemeinden 992 e1 Bd. 5; Grundbuchakte Lottbeker Weg 24, Ohlstedt, Blatt 377, Einsichtnahme 14.2.2013;
Taufregister der Kirche St. Michaelis Hamburg 1916 bis 1920, Anno 1919 S. 140 Nr. 36;
Trauregister St. Michaelis 1919–1923, Anno 1919, S. 22 Nr. 106; www.mahnmal-st-nikolai.de, Zugriff vom 21.11.2015; https://en.wikipedia.org/wiki/Dyvin, Zugriff 10.11.2015; www.agora.subuni-hamburg.de, Hamburger Adressbuch 1932 online, Zugriff vom 21.6.2016.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".