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Günther von Borstel * 1919
Am Torbogen 4 (Altona, Bahrenfeld)
HIER WOHNTE
GÜNTHER
VON BORSTEL
JG. 1919
EINGEWIESEN 7.3.1942
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 16.4.1943
HEILANSTALT
MESERITZ-OBRAWALDE
ERMORDET 9.3.1944
Günter von Borstel, geb. am 5.12.1919, am 7.3.1942 eingewiesen in die Anstalt Langenhorn, am 16.4.1943 verlegt in die Anstalt Meseritz-Obrawalde, dort vermutlich am 9.3.1944 ermordet
Am Torbogen 4 (Drosselweg)
Günter Paul Ernst von Borstel kam am 15. Dezember 1919 zur Welt als Sohn von Heinrich Joachim von Borstel, geboren 1887, und seiner 1889 geborenen Frau Alwine, geb. Heins. Die Eltern hatten 1914 geheiratet.
Der geistig behinderte Junge lebte in seiner Familie in der Steenkampsiedlung in Groß-Flottbek im Drosselweg 4 (heute Am Torbogen, Bahrenfeld). Sein Vater war Geschäftsreisender, seine Mutter Klavierlehrerin. Günter hatte zwei Jahre lang die Hilfsschule besucht, bis er im Alter von elf Jahren als "bildungsunfähig" entlassen wurde. Er trug manchmal Milch und Zeitungen aus und half in einem Zeitungsstand beim Verkauf. Demnach konnte er sich selbstständig im Wohnumfeld bewegen und scheint sozial integriert gewesen zu sein. Bis zu dem verhängnisvollen Vorfall am 13. September 1941 war er polizeilich nicht aufgefallen.
An diesem Tag wurde der 21-Jährige von einem Diplomingenieur Schmidt in der Grünanlage zwischen Cranach- und Böcklinstraße beim Onanieren beobachtet. Dieser verständigte sofort die Polizei.
Das Landgericht Hamburg kam unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Karl Henningsen am 10. Februar 1942 zu folgendem Urteil:
"Der Angeklagte hat gegen § 183 StGB (Strafgesetzbuch) verstoßen. Er kann für sein Tun jedoch nicht verantwortlich gemacht werden. Wie schon sein Äußeres und sein Gebaren vor Gericht verraten, und sich im übrigen aus dem Gutachten des Obermedizinalrats Dr. Koopmann ergibt, handelt es sich um einen hochgradig schwachsinnigen Menschen, der nicht fähig ist, das Unrechte seiner Tat einzusehen, noch viel weniger, danach zu handeln. Dem Angeklagten wird vom Sachverständigen eine äußerst ungünstige Prognose erteilt. Es besteht erhebliche Wiederholungsgefahr. Außerdem besteht die Gefahr, dass er sich, nachdem er jetzt in das Pubertätsalter gekommen ist, an Kindern vergreift und dabei auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Deshalb erscheint die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt dringend geboten."
Der § 183 StGB betrifft auch heute noch die "Erregung öffentlichen Ärgernisses". Der gerichtlich bestellte Gutachter Hans Koopmann galt in der Zeit des Nationlsozialismus als Experte für sogenannte Sittlichkeitsverbrechen, insbesondere die damals strafbare Homosexualität. Er vertrat dabei abstruse erbbiologische Theorien und eine extrem rigide Sexualmoral und sprach sich für sehr harte Strafen und meist auch für die Kastration der Delinquenten aus. Seine schlechte Prognose, insbesondere hinsichtlich der behaupteten möglichen Gewalttätigkeit Günter von Borstels, erschien völlig unbegründet. Auch die Schilderung des Vorfalls im Landgerichtsurteil ergab keinerlei Hinweise auf Gefährlichkeit oder Pädosexualität.
Dennoch wurde Günter von Borstel am 7. März 1942 gem. § 42 b StGB als "krimineller Geisteskranker" in der Heilanstalt Langenhorn geschlossen untergebracht, weil er seine "Straftat", nämlich das einmalige Onanieren in der Öffentlichkeit, im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen hatte. Eine Chance auf Entlassung hatten die sogenannten "42er" kaum. Die Einweisung in eine Heilanstalt bedeutete für die meisten quasi die Todesstrafe, denn die Patientengruppe der "kriminellen Geisteskranken" wurde vorrangig in die Tötungsanstalten deportiert.
Behinderten und psychisch kranken Menschen sprachen NS-Mediziner den Lebenswert ab. Der ersten Phase der Euthanasie, den "T4-Aktionen", benannt nach der Begutachtungszen-trale in der Berliner Tiergartenstraße 4, fielen 70 273 Menschen durch Tötung durch Gas zum Opfer. Das Ende der Gastötungs-Euthanasie nach Protesten der Bevölkerung, insbesondere der berühmten Predigt des Münsteraner Bischofs Graf Galen im August 1941, bedeutete nicht das Ende der Patienten-Tötungen. Diese gingen unvermindert weiter, allerdings wurde nun – diskreter – durch Verabreichung von Medikamenten und Verhungern-Lassen getötet. Insgesamt wurden im Rahmen der "Euthanasie" bis zu 300.000 Menschen ermordet. In der Zeit zwischen August 1939 und März 1945 wurden von Langenhorn aus 4.097 psychiatrische Patienten in Tötungsanstalten verlegt, was der Krankenanstalt den Namen "Drehscheibe des Todes" eintrug.
Die Verlegung Günter von Borstels nach Meseritz-Obrawalde wurde im März 1943 von der Oberstaatsanwaltschaft geprüft und befürwortet. Die Eltern müssen hiervon gewusst haben. Vielleicht ahnten sie die Gefahr, denn Anfang April schrieb der Vater einen Brief an den Langenhorner Arzt Friedrich Kerl und bat eindringlich um Günters Entlassung:
"Sehr geehrter Herr Doktor, Mein Sohn Günter befindet sich seit dem 7.3.42 in der dortigen Anstalt und hat sich immer gut geführt. Er ist ein ruhiger, harmloser Mensch, der nie jemandem etwas getan hat. Dass er durch Erregung öffentlichen Ärgernisses sich strafbar gemacht haben soll, begreift er nicht und er weiß auch nicht, dass er sich deshalb in einer Anstalt befindet. Meine Frau und ich sind nach einiger Überlegung zu der Überzeugung gekommen, dass, wenn wir ihn beaufsichtigen, und das können wir gut, dieser genannte Vorfall nicht wieder eintreten kann. Wir bitten Sie daher, sich dafür einzusetzen, dass Günter dort wieder entlassen wird. Wir würden volle Garantie dafür übernehmen, dass es zu weiteren Klagen keinen Anlass geben wird. Wir sagen uns, dass Günter bei uns am besten untergebracht ist und die Anstalt um einen Menschen entlastet wird. Wir bewohnen ein Fünfzimmerhaus mit Garten; Günter hat ein eigenes Zimmer zur Verfügung. Wir werden Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie unseren Wunsch erfüllen.
Heil Hitler, Heinrich von Borstel"
Die Antwort des Arztes war ablehnend: "Nach Überprüfung des Falls und Einsichtnahme in die Gerichtsakte teilen wir Ihnen mit, dass eine Entlassung Ihres Sohnes, des Patienten Günter von Borstel, anstaltsseitig nicht befürwortet werden kann".
Günter von Borstel wurde am 16. April 1943 von Langenhorn nach Meseritz-Obrawalde deportiert.
Im August 1943 gaben die Eltern Nachricht, dass ihr Haus intakt geblieben sei, sie also nicht von der Bombardierung Hamburgs betroffen seien. Eventuell stand dies mit weiteren Versuchen im Zusammenhang, Günters Entlassung nach Hause zu erreichen.
Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde wurde erst nach dem Stopp der Euthanasie-Vergasungsaktionen im August 1941 in eine Tötungsanstalt umgewandelt, was von dem Verwaltungsdirektor Walter Grabowski, der schon an den Patientenmorden im besetzten Polen beteiligt gewesen war, betrieben wurde. Er sorgte auch für den Wechsel der ärztlichen Leitung und reaktivierte hierfür den Pensionär Theophil Mootz.
Systematisch gemordet wurde in Meseritz-Obrawalde seit Frühjahr 1942, was auch die Todesdaten der Hamburger Patienten zeigen. Als 1943 immer häufiger große Transporte anrollten, wurde die Zahl der täglichen Tötungen von anfänglich drei bis vier auf bis zu 40 gesteigert. Im Jahr 1944 lag die Zahl der registrierten Todesfälle nur leicht unter der Zahl der knapp 4000 Neuaufnahmen.
Die Selektion nahm der Arzt Mootz bei seinen Visiten per Fingerzeig vor. Die tödlichen Medikamente verabreichten dann die Pflegekräfte. Mootz und seine Oberärztin Hilde Wernicke zeichneten später in den Krankenakten die Todesmeldungen ab und trugen die angeblichen Todesursachen ein.
Eine erste Selektion fand bereits bei der Ankunft der Patienten auf dem anstaltseigenen Bahngleis statt. Dort wurden die als arbeitsfähig Eingeschätzten aussortiert, denn man brauchte ihre Arbeitskraft dringend. Eine mit Knüppeln und Gewehren ausgerüstete Wachmannschaft verhinderte Fluchtversuche.
Gemordet wurde in Meseritz-Obrawalde mit hochdosierten Medikamenten. Entweder wurde den Patienten eine tödliche Dosis von Barbituraten wie Luminal, Evipan oder Veronal aufgelöst in Wasser verabreicht, was nach mehreren Tagen zum Tode führte und zwar meist mit qualvollen Erstickungssymptomen. Wenn der Tod rascher eintreten sollte, wurden Morphium oder Scopolamin gespritzt. Viele Menschen starben auch an Hunger, Entkräftung und mangelhaften hygienischen Bedingungen, ohne dass medikamentös nachgeholfen werden musste. Auch der gezielte Entzug der ohnehin knappen Nahrung war eine Mordmethode.
Günter von Borstel wurde ermordet. Die Todesmeldung vom 9. März 1944 trägt die Unterschrift des Arztes Mootz. Oft wurden die Todesdaten im Nachhinein festgelegt, auch um in den Akten Häufungen tagsüber und an bestimmten Tagen zu vermeiden. Als Grundleiden ist angegeben: Geisteskrankheit, angeborener Schwachsinn. Als Todesursache und Begleiterkrankungen sind genannt: Darmgrippe mit Fieber, Furunkulose. Diese Diagnosen gelten als typische Tarndiagnosen bei Mord im Rahmen der Euthanasie.
Einen Tag vor dem bescheinigten Tod schrieb Mootz den Eltern, der gesundheitliche Zustand ihres Sohnes habe sich deutlich verschlechtert. Solche Mitteilungen und damit die Vorbereitung auf die Todesmeldung finden sich manchmal in den Akten von Patienten, deren Angehörige sich oft erkundigten. Das Sterben war dann bereits medikamentös eingeleitet, der Mord also schon im Gange.
Günter von Borstels Eltern telegrafierten nach Erhalt der Todesnachricht am 11. März: "Wir kommen Montag früh zum Abschied nehmen."
Als die russische Armee am 16. Februar 1945 in Meseritz-Obrawalde eintraf, fanden die Soldaten ein frisches Massengrab mit ca. 1.000 Toten, weitere Massengräber wurden vermutet, aber nicht geöffnet. Vorgefunden wurden auch über 2.000 Ampullen Veronal und 1.000 Ampullen Morphium. Außerdem schien alles für den Bau eines Krematoriums vorbereitet.
Über die Anzahl der in Meseritz-Obrawalde Getöteten gibt es keine gesicherten Angaben. Die Schätzung von bis zu 18.000 Todesopfern beruht vor allem auf den Aussagen der Oberpflegerin Amanda Ratajcak, die ebenso wie die Ärztin Hilde Wernicke zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Mootz und der Verwaltungsleiter Grabowski kamen nicht vor Gericht, denn von ihnen fehlte jede Spur.
Stand September 2015
© Dorothee Freudenberg
Quellen: Archiv in Gorzow, Archiwum Panstwowe w Gorzowie Wielkopolskim, Krankenakte Günter von Borstel, sygnatura: 66/256/0/414; Beddies, Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde; Ebbinghaus, Dokumentation: Krankenschwestern; Faulstich, Hungersterben; Illiger, Sprich nicht drüber; Klee, Euthanasie; Klee, Was sie taten; Lohalm, Völkische Wohlfahrtsdiktatur; Rönn, von, u. a., (Hrsg.): Wege in den Tod; Schwarz, Hans Koopmann.