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Gertrud Breslauer (geborene Goldschmidt) * 1890

Loogestieg 17 (Hamburg-Nord, Eppendorf)

1941 Riga

Weitere Stolpersteine in Loogestieg 17:
Rosa Kahn, Fritz Kahn

Gertrud Breslauer, geb. Goldschmidt, geb.11.3.1890 in Nordhausen/Harz, am 6.12.1941 nach Riga deportiert

Loogestieg 17

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es unzählige Kriegerwitwen, die ihre Kinder allein aufziehen mussten. Eine von ihnen war Gertrud Breslauer. Ihr Mann Fritz, geb. am 21. Februar 1883 in Bauerwitz, Oberschlesien, den sie 1914 geheiratet hatte, war im September 1916 in Frankreich gefallen. Fritz Breslauers Name findet sich auf dem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf dem Jüdischen Friedhof Ihlandkoppel in Hamburg-Ohlsdorf. Nach Angaben des Sohnes lebten die Eheleute nur vier Monate zusammen. Die andere Zeit sei sein Vater an der Front gewesen, so der Sohn später im Interview. In diesen zweimal zwei Monaten wurden die Kinder Ilse, geboren am 15. Februar 1915, und Fritz Ernst Joseph, geboren am 22. Oktober 1916, gezeugt. Gertrud war also, als sie mit 26 Jahren Witwe wurde, mit ihrem Sohn Fritz Ernst hochschwanger.

Sie wuchs in Erfurt auf, wo die Familie seit 1897 lebte. Ihr Vater, der Kaufmann Josef Julius Goldschmidt, betrieb dort ein Schuhwarenlager. Ihre Mutter Henriette, geborene Plaut, stammte aus Witzenhausen. Gertrud war das jüngste der sechs Kinder, die Henriette Goldschmidt innerhalb von zehn Jahren zur Welt gebracht hatte: Hans 1880, Paul 1882, Martha 1884, Ernst 1886, Fritz 1888 und Gertrud 1890. Hans wurde am 8. November 1941 von Hamburg aus nach Minsk deportiert, Paul konnte auswandern, Mar­tha ist in Riga verschollen, Ernst starb 1904. Das Schicksal von Gertruds Bruder Fritz ist unbekannt. Ihr Vater Julius starb 1905 in Erfurt, ihre Mutter Henriette 1928 in Hamburg.

Ihren Mann, der zu der Zeit schon in Hamburg wohnte, lernte Gertrud auf der Hochzeit von Freunden kennen. Nach seinem Tod versuchte sie, seine Firma allein weiterzuführen, um den Lebensunterhalt für ihre kleine Familie aufzubringen. Fritz Breslauer hatte einen Vertrieb von Lederresten, die Jacob Schönhof GmbH, am Cremon 2. Von lederverarbeitenden Firmen, z. B. Möbelherstellern, hatte er die Reststücke aufgekauft, diese sortiert und dann an Leute, die Brieftaschen und andere kleine Gebrauchsgegenstände daraus herstellten, weiterverkauft. Bis 1927 oder 1928 gelang es Gertrud, die Firma zu halten, dann wurde während der Weltwirtschaftskrise die finanzielle und auch die psychische Belastung zu groß. Die Firma wurde liquidiert.

Zuerst wohnte Gertrud Breslauer mit ihren Kindern in der Isestraße 69. Es war "bequem, aber nicht luxuriös" erinnerte sich der Sohn. Im Hamburger Telefonbuch von 1933 war die Familie unter der Adresse Hansastraße 23 eingetragen, von dort aus ging es in die Parkallee 3. 1934 erfolgte der Umzug ins Nachbarhaus Parkallee 4. Von den dortigen großen Woh­nun­gen, zuletzt einer Sechszimmerwohnung, vermietete Gertrud drei oder vier Zimmer an Untermieter. Von den Mieteinnahmen konnte sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. "Wir waren arm, aber wir wussten es nicht. Unser Leben war normal für uns", so der Sohn Fritz. Dieser hatte zunächst die Lichtwarkschule besucht, musste sie aber verlassen, weil er Jude war und lebte ab März 1933 bei seinem Onkel Paul Goldschmidt in Offenbach am Main. Dieser zweite Bruder seiner Mutter hatte dort in eine wohlhabende Familie eingeheiratet. Sie besaß eine Schuhfabrik mit mehreren hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und nahm Fritz bei sich auf, sodass er in dem Werk eine Ausbildung machen konnte. Die Schuhfabrik Hassia Gebr. Liebman stellte hochwertige Erzeugnisse her, für die das Unternehmen Auszeich­nun­gen und Patente erhielt. Fritz verbrachte fortan nur noch ein Mal im Jahr die Ferien bei seiner Mutter in Hamburg. "Wir unternahmen nicht viel, weil wir nie viel Geld hatten. Ich war mit ihr zusammen, und wir gingen spazieren, …, und nach einer Woche nahm ich den Zug zurück nach Offenbach", erinnerte er sich.

Ob seine Mutter zwischen 1933 und 1938 besondere Schwierigkeiten hatte, wusste der Sohn nicht zu sagen. Seine Schwester Ilse, die er nach dem Krieg wiederfand und die mit der Mutter bis zu ihrer Emigration in Hamburg gelebt hatte, konnte ihm nichts erzählen, hatte alle Erinnerungen ausgeblendet.

In Offenbach führte Fritz ein abgeschirmtes Leben. Die Schuhfabrik war erfolgreich, seine Verwandten waren für die Stadt wichtig. Kontakte beschränkten sich auf andere Juden – er musste nach eigener Aussage keine "schrecklichen Erfahrungen" machen. Eine Auswanderung stand zunächst nicht zur Debatte.

Infolge der Pogromnacht im November 1938 änderte sich für ihn alles. Zusammen mit anderen jüdischen Männern aus Offenbach wurde der knapp 22-Jährige festgenommen und ins KZ Dachau gebracht, wo er fünf Wochen Haft erleiden musste. Da er Mitglied einer jüdischen Jugendgruppe gewesen war, aus der einige in die USA hatten auswandern können, wandte sich seine Mutter an seine ehemaligen Kameraden dort und bat sie um Hilfe. Sie versuchte, auf diesem Weg einen Bürgen für ihren Sohn zu finden, denn Häftlinge mit Auswanderungspapieren wurden aus den Konzentrationslagern entlassen. Die Mutter eines seiner Freunde arbeitete als Kellnerin in New York und immer, wenn sie jemanden bediente, der ihrer Meinung nach "jüdisch" aussah, fragte sie, ob er die Bürgschaft "für einen Jungen im Konzentrationslager" übernehmen wolle. Sie war tatsächlich erfolgreich. Jemand erklärte sich bereit. Mit diesem Affidavit ging Gertrud Breslauer zur Gestapo, aber damals galt schon das Quoten­zu­wanderungssystem der USA, und Fritz hatte noch nicht einmal eine Warte­nummer.

Fritz charakterisierte seine Mutter als tüchtige Frau. Wie unzählige jüdische Eltern tat sie alles, um ihre Kinder zu retten. Zu derselben Zeit, als sie um Fritz‘ Entlassung aus Dachau kämpfte, suchte sie für ihre Tochter Ilse eine Stelle als Hausangestellte in England. Mit Erfolg. Eine Familie, deren Tochter sie 1930 beherbergt hatte, als sie zum Deutschlernen nach Ham­burg gekommen war, stellte Ilse ein. Ilse konnte ihren Freund Max Conu heiraten, im Mai 1939 emigrierten beide nach England, wo Max als Chauffeur für dieselbe Familie arbeitete. Es gab noch einen Briefkontakt zwischen Mutter und Kindern über das Rote Kreuz, sodass Gertrud von der Geburt ihrer Enkeltochter erfuhr.

Auch Fritz konnte schließlich mithilfe seiner Mutter nach England flüchten. Gertrud Breslauer schaffte es, über entfernte Verwandte den Kontakt zu einer britischen Schuhfabrik herzustellen. Diese wollte ihre Produktion auf u. a. hochmoderne orthopädische Damenschuhe im Stil der Offenbacher "Hassia" umstellen. Dafür stellte sie Fritz‘ ehemaligen Chef ein und der verwendete sich für ihn. Der britische Firmeninhaber war froh, einen Angestellten zu bekommen, der fünf Jahre bei Hassia ausgebildet worden war. Mit der daraufhin erteilten Einwanderungsgenehmigung suchte Gertrud Breslauer wiederum die Gestapo auf. Fritz wurde aus dem KZ entlassen und fuhr zurück nach Offenbach. Am nächsten Tag reiste er nach England aus. Seine Mutter sah er nie wieder.

Gertrud Breslauer lebte in bescheidenen finanziellen Verhältnissen. Sie bezog eine Kriegshinterbliebenenrente von 88 RM monatlich, dazu kamen die Einnahmen aus der Untervermietung. Fritz muss ihr, wie aus einem Rote-Kreuz-Brief hervorgeht, mindestens einmal Geld aus England geschickt haben. Als sie im Juni 1941 aus der Wohnung Parkallee vertrieben wurde und nicht länger untervermieten konnte, entfiel ein Großteil ihrer Einnahmen. Sie be­zog nun selbst ein Zimmer zur Untermiete bei Fritz und Rosa Kahn (s. dort) im vierten Stock des Hauses Loogestieg 17. Couragiert, wie Gertrud Breslauer war, hatte sie ihren Nachmieter in der Parkallee auf Bezahlung der von ihm übernommenen Wohnungseinrichtung verklagt und sogar Recht bekommen. Das erstrittene Geld zog die Oberfinanzdirektion allerdings sofort ein.

Fritz und Rosa Kahn wurden am 25. Oktober 1941 nach "Litzmannstadt"/Lodz deportiert und kamen dort um. Gertrud Breslauer musste sechs Wochen später die Fahrt nach Riga antreten und wurde dort ermordet.

Ihre Tochter Ilse blieb mit ihrer Familie in England, Sohn Fritz wanderte später von dort in die USA aus.

© Sabine Brunotte

Quellen: 1; 4; StaH 351-11 AfW Abl. 2008/1, 100390 Breslauer, Gertrud; StaH 522-1 Jüd. Gemeinden, 992e2 Band 4; StaH 332-8 Meldewesen, A 51/1 (Gertrud Breslauer); FZH/WdE 957, Interview vom 24.6.2004; Hamburger Telefonbuch von 1933; wikipedia.org/wiki/Schuhfabrik_Hassia_Gebr._Liebman, 13.5.2010; schriftliche Auskunft Stadtarchiv Erfurt vom 20.5.2010; www.bundesarchiv.de/gedenk­buch/ directory, Zugriff 27.5.2010.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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