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Gertrud Schmidt, November 1930
Gertrud Schmidt, November 1930
© StaH

Gertrud Schmidt * 1901

Wulfsdorfer Weg 139 (Wandsbek, Volksdorf)


HIER WOHNTE
GERTRUD SCHMIDT
JG. 1901
SEIT 1921 IN MEHREREN
HEILANSTALTEN
"VERLEGT" 23.9.1941
HEILANSTALT EICHBERG
ERMORDET 20.10.1941

Gertrud Helene Christine Schmidt, geb. am 6.2.1901 in Hamburg, seit 1921 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg und später in andere Heime und Anstalten eingewiesen, am 20.10.1941 in der Landes-Heilanstalt Eichberg verstorben.

Wulfsdorfer Weg 139 (Volksdorf)

Gertrud Helene Christine Schmidt wurde am 6. Februar 1901 als erstes von insgesamt sechs Kindern in Hamburg geboren. Ihre Eltern, Karl Martin Wilhelm Schmidt und Helene Christine Tiedemann, hatten im Juli 1900 geheiratet. Die Ehe wurde im August 1914 ein erstes Mal geschieden. Im Februar 1917 hatten Karl und Helene Schmidt ein zweites Mal geheiratet, doch Gertruds Mutter verließ ihren Mann bereits nach fünf Monaten erneut, die Ehe wurde am 28. März 1919 ein zweites Mal geschieden.

Gertrud Schmidt zog spätestens während der zweiten Ehe der Eltern von zuhause aus und arbeitete als Hausangestellte. Der Kontakt zum Vater bestand nur minimal. Im Testament von 1934 wies er seinen Kindern nur den Pflichtanteil zu, da er mit ihnen "nicht in näherer Verbindung" stehe.

Gertrud besuchte die Bismarckschule bis zur heutigen 5. Klasse (heute Oberstufenhaus des Kaifu- und Helene-Lange-Gymnasiums). Danach ging sie "in Stellung", d.h. sie arbeitete als Hausangestellte. Auch den Besuch eines Handelskursus begann sie, brach diesen aber anscheinend ab. Ihre Anstellungen als "Dienstmädchen", wie es damals hieß, bzw. Hausangestellte wechselten öfter. Mal arbeitete sie nur wenige Wochen oder Monate in einem Haushalt, maximal blieb sie drei Jahre. Zwischendurch lebte sie immer wieder bei der Mutter.

Zum ersten Mal wurde Gertrud Schmidt 1921 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg eingewiesen, als sie umherirrend in Othmarschen aufgegriffen und von der Feuerwehr dorthin gebracht worden war. Der Aufenthalt dauerte vom 11. März 1921 bis zum bis zum 11. Januar 1922. Die 20-jährige wurde mit der Diagnose Dementia Paecox - Schizophrenie aufgenommen. Das Personal beschrieb sie als ruhig und zurückhaltend.

Ab dem 24. November 1921 durfte sie auf Beurlaubung zu ihrer Mutter und direkt anschließend wurde sie im Januar 1922 entlassen. Ihre Mutter hatte zwischenzeitlich am 29. September 1920 Karl Sauer geheiratet und wohnte mit ihm und einer gemeinsamen Tochter in der Rendsburgerstraße 8.

Gertrud Schmidt nahm eine Anstellung in einem Haushalt an, in dem sie ca. drei Jahre arbeitete. Zum 2. November 1925 wurde sie ein zweites Mal stationär in Friedrichsberg aufgenommen. Mit einer Unterbrechung von insgesamt 1,5 Jahren verbrachte sie fortan ihr Leben bis zu ihrem Tod in Anstalten.

Am 13. April 1927 wurde sie in die Staatskrankenanstalt Langenhorn verlegt. Die Berichte über ihren Krankheitsverlauf veränderten sich wenig. Zeitweise übernahm sie Arbeiten in der Anstalt. Zum 9. November 1927 wurde sie beurlaubt und lebte über mehrere Monate bei der Mutter, kehrte aber am 16. Juli 1928 zurück. Nach ihrer Wiederaufnahme beschrieb das Anstaltspersonal sie als stark verwirrt, apathisch und verwahrlost. Nach einem guten Jahr (8.5.1929) holte die Mutter sie erneut auf Urlaub, diesmal wurde Gertrud Schmidt am 20. Oktober 1929 entlassen.

Ihre Wohnadresse vor der nächsten Einlieferung in Langenhorn, ein Jahr später, am 7. November 1930, lautete "Mädchenheim Alexanderstraße 21/23" (Mädchenheim der Inneren Mission). Inwieweit sie dort arbeitete, ist offen. Während der nächsten Jahre bestand ein steter Kontakt zu ihrer Mutter. Diese holte sie zu Spaziergängen ab, einmal auch auf Urlaub. Aus ihrer Patientinnenakte gehen Auf und Abs hervor, "wohl" fühlte sich Gertrud Schmidt offensichtlich nicht.

Am 28. April 1931 wurde Gertrud Schmidt wegen "Geistesschwäche" entmündigt. Im Gutachten heißt es unter anderem: "Die Familienverhältnisse sind jedoch so ungünstig, dass ein Verbleiben bei der Mutter nicht ratsam ist." Diese lasse die Tochter verwahrlosen. Als Vormund wurde der Anwalt Walther George aus Volksdorf bestimmt. Mit ihm stand Gertrud in direktem Briefkontakt.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verschlechterte sich die Situation von Patientinnen und Patienten in den Anstalten gravierend, so auch die von Gertrud Schmidt. Kurz nach dem Inkrafttreten des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurde sie am 16. Juni 1934 im Universitätskrankenhaus Eppendorf zwangssterilisiert. Am 28. August 1939 wurde sie für wenige Tage in die Alsterdorfer Anstalten verlegt, aber aus Platzmangel am 2. September wieder nach Langenhorn zurück geschickt. Die Notizen in der Patientenakte werden in dieser Zeit immer kürzer. Oft findet sich nur ein Vermerk "Zustand unverändert" oder "wie früher".

Am 3. März 1941 wurde sie in die Heilanstalt Strecknitz nach Lübeck verlegt. Ihre Mutter, davon nicht informiert, fragte noch am 31. März in Langenhorn an, ob Gertrud auf Urlaub kommen dürfe. Aus der Heilanstalt Strecknitz erhielt sie am 16. April 1941 die Antwort: "Das Befinden Ihrer Tochter Fräulein Gertrud Schmidt ist zufriedenstellend. Außer dauerndem Fortdrängen und vollständiger Einsichtslosigkeit in ihre Krankheit wird Patientin nicht auffällig. Sollte der augenblickliche Krankheitszustand sich nicht zum Schlechteren wenden, stände einer Beurlaubung nichts im Wege."

Helene Schmidt besuchte ihre Tochter in Lübeck, ob es auch zu der angefragten Beurlaubung kam, ist unbekannt. Die Notizen, die sich aus der Strecknitzer Zeit in der Krankenakte befinden, sind weiterhin äußerst dünn. Nur wenige Sätze finden sich zu ihrem fast einjährigen Aufenthalt in Lübeck.

Am 23. September 1941 wurde die Heilanstalt Strecknitz aufgelöst. 605 Patienten verließen an diesem Tag den Bahnhof Lübeck. Gertrud Schmidt war eine von 263 Frauen und Männern, die in einem Sammeltransport nach Eichberg verschickt wurden, wo sie am nächsten Tag eintrafen.

Die Anstalt Eichberg war bis zum Ende der T 4-Aktion einen Monat zuvor ein Übergangslager für die Tötungsanstalt Hadamar. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Patienten aus Strecknitz ankamen, war Eichberg bereits hoffnungslos überbelegt. Von den dorthin Verlegten überlebten nicht einmal ein Viertel, den ersten Monat. Unter den Verstorbenen befand sich Gertrud Schmidt.

Berichten von Angestellten aus Eichberg ist zu entnehmen, dass eine Krankenschwester für 80-100 Patienten zuständig war. Pflege, Reinigung oder gar Hilfestellung beim Essen bei bettlägerigen Patienten entfiel. Auch wenn die gezielte Tötung der T4-Aktion gestoppt worden war, starben durch die dezentrale "Euthanasie" im ersten Jahr in Eichberg 83 % der Patienten den Hungertod, an Durchfallerkrankungen und Mangelerscheinungen oder anderen Folgen von Vernachlässigung.

Gertrud Helene Schmidt starb am 20. Oktober 1941. Der Totenschein gibt "Herzschwäche bei Siechtum und Spaltungsirresein" als Todesursache an. Es darf jedoch angenommen werden, dass sie keines natürlichen Todes starb.

Noch am 8. Oktober 1941 war ein neuer Vormund bestimmt worden. Die Gründe dafür und seinen Einfluss auf die Behandlung von Gertrud Schmidt kennen wir nicht.

Die Anstalt verständigte zunächst die Stiefmutter Lydia Schmidt per Telegramm über den Tod von Gertrud Schmidt. Ihre Mutter erfuhr erst verspätet von dem Tod ihrer Tochter und schrieb am 23. Oktober: "Heute erst und ganz überraschend und tiefbetrübt erhielt ich Ihre traurige Mitteilung. Vor weniger Zeit war ich noch in Strecknitz b. Lübeck zu Besuch bei meiner Tochter […] Warum hat man denn meine Tochter nach Eichberg […] geschickt? Und mir nichts mitgeteilt?"

Eine Erkrankung machte es der Mutter nicht möglich zu kommen. Einen Monat später jedoch fragte sie erneut in Eichberg, wie es zu dem unerwarteten Tod ihrer Tochter hatte kommen können: "Nun habe ich von Ihrer Seite immer noch keine Nachricht u. ist es doch berechtigt, daß ich als Mutter erfahre […] wie meine Tochter gestorben ist. Inzwischen habe ich mich mit Lübeck Strecknitz in Verbindung gesetzt und von dort die Mitteilung erhalten, daß meine Tochter dort die Anstalt körperlich gesund verlassen hat und sie dort über das Ableben meiner Tochter keine Angaben machen können, da sie sie ja nicht behandelt haben. Nun muß ich Sie ganz dringend bitten, mir baldmöglichst u. offen mitzuteilen, wie es gekommen ist, daß meine Tochter dort so schnell gestorben ist. Ohne etwas zu wissen, bin ich denkbar unglücklich darüber."

Die lapidare Notiz unter dem Brief lautete am 17. November 1941: "Ihre Tochter ist an Herz- und Kreislaufschwäche bei allgemeinem Siechtum eingeschlafen. Gelitten hat sie nicht mehr."

Als Wohnort Gertrud Schmidts ist auf ihrer Todesanzeige die Adresse ihrer Mutter angegeben: Wulfsdorfer Weg 139 in Volksdorf. Ob und wie oft sie in dieser Wohnung zu Besuch war, ist unklar. Ihre Mutter hatte dort mit ihrem zweiten Ehemann Karl Sauer und der gemeinsamen Tochter spätestens seit 1941 gelebt (im Sept. 1939 lebte sie noch in der Grindelallee 150). Da die Mutter der einzige stete Bezug zu ihrer Familie war und Gertrud Schmidt selber nie längere Zeit einen festen Wohnsitz hatte, erinnert ein Stolperstein unter dieser Adresse an Gertrud Helene Schmidt.

Stand: Januar 2023
© Dorothea Lepper

Quellen: Geburtsurkunde Gertrud Helene Christine Schmidt. StaH 332-5_13613/393/1901. In Ancestry (Stand: 24. Oktober 2020); Hamburger Adressbücher. In: SUB: https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/start (Stand: 10. August 2020); Heiratsurkunde der Eltern Helene Tiedemann u. Karl Schmidt (inkl. Scheidungsvermerk). StaH 332-5_8602/173/1900. In Ancestry (Stand: 24. Oktober 2020); Heiratsurkunde (2. Heirat) Helene und Karl Schmidt. StaH 332-5-8718-31-1917; Heiratsurkunde (3. Heirat) Helene Tiedemann (gesch. Schmidt) und Karl Sauer. StaH 332-5-3376-883-1920; Meldekarteien: Meldekartei 332-8-A30; Meldekartei 332-8 A37; Meldekartei 332-8 A39. StaH Hausmeldekartei; Patientenakte Gertrud Helene Schmidt. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 430/1 Nr. 11051; Sterbeurkunde Hilde Berta Schmidt (Schwester von Gertrud Helene Schmidt). StaH 3359782/1253/1920. In Ancestry (Stand: 24. Oktober 2020); Sterbeurkunde Gertrud Helene Christine Schmidt. StA Erbach (Rheingau) Nr. 308. In: Ancestry (Stand: 24. Oktober 2020); Taufbescheinigung Gertud Helene Christine Schmidt. Ev. Kirchenbücher Rheinland, Taufregister Altona. In: Ancestry (Stand: 24. Oktober 2020); Böhme, Klaus und Uwe Lohalm (Hg.): Wege in den Tod. Hamburg 1993; Jenner, Harald und Michael Wunder: Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939 – 1945. Landeszentrale für politische Bildung u.a. (Hg.), 2017; URL: http://www.hamburger-euthanasie-opfer.de/ (Stand: 22.10.2020); Marien-Lunderup, Regina: Die Verlegung in die Lübecker Heilanstalt Strecknitz. In: Böhme, Klaus und Uwe Lohalm (Hg.): Wege in den Tod, Hamburg 1993, S. 233 – 255; Marien-Lunderup, Regina: Die Anstalten Eichberg und Weilmünster. In: Böhme, Klaus und Uwe Lohalm (Hg.): Wege in den Tod, Hamburg 1993, S-S. 305 – 319; von Rönn, Peter: Die Entwicklung der Anstalt Langenhorn in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Böhme, Klaus und Uwe Lohalm (Hg.): Wege in den Tod, Hamburg 1993, S. S. 27 – 61; Wunder, Michael: Die Spätzeit der Euthanasie. In: Böhme, Klaus und Uwe Lohalm (Hg.): Wege in den Tod, Hamburg 1993, S. 397 – 424; Wille, Ingo: Transport in den Tod, Hamburg/Berlin 2017; Delius, Peter, Das Ende von Strecknitz, Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941, Kiel 1988, S. 69 ff.

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