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Selig Leiba Goldstein * 1885

Grüner Deich 165 (Hamburg-Mitte, Hammerbrook)


HIER WOHNTE
SELIG LEIBA
GOLDSTEIN
JG. 1885
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Selig Leiba Goldstein, geb. am 16. 8. 1885 in Wilkawiski (Vilkaviskis), Litauen, ermordet am 23. 9. 1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
Grüner Deich 165 (ehemals Hessenstraße 38)

Der am 16. August 1885 in Wilkawiski im heutigen Litauen geborene Selig Leiba Goldstein war der Sohn jüdischer Eltern. Über sie ist außer ihren Namen, Isac (Isaac) und Ilsar Goldstein, nichts bekannt. Selig Leiba Goldstein muss spätestens 1919 nach Hamburg zugewandert sein, denn seit 1920 ist er im Hamburger Adressbuch zu finden. Er wohnte zunächst in der heute nicht mehr existierenden Hessenstraße 38 in Hammerbrook, dann in der Süderstraße 334 bei Schulz in Hamm und schließlich in der Wohldorfer Straße 14 in Barmbek-Süd.

Die folgenden Informationen über Selig (im folgenden Zitat Seelig) Leiba Goldstein sind dem Schreiben seiner damaligen nichtjüdischen Verlobten Marta Rother an die "Beratungsstelle für Entschädigungsansprüche" in Hamburg aus dem Jahr 1945 entnommen. Sie schrieb: "Seit dem Jahre 1924 bin ich mit Herrn Seelig Goldstein, geboren am 16. August 1885 in Litauen, wohnhaft in Hamburg 15, Hessenstraße 38 verlobt gewesen und habe mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt.

Mein Verlobter besaß eine im gleichen Hause befindliche Zahnpraxis mit einem anschließenden Friseurgeschäft. Ich selbst war im Kaufhaus "Produktion" als Kassiererin beschäftigt. Wir gründeten uns im Laufe der Jahre einen gemeinsamen Hausstand, die Geschäftseinrichtung wurde erneuert und die Zahnpraxis mit modernen Gegenständen ausgestattet. All diese Neuanschaffungen waren uns nur durch gemeinsame Arbeit möglich.

Nachdem wir mit der Neugestaltung und Aufbesserung fertig waren, wurde ich im Jahre 1931 aus der ‚Produktion’ wegen Doppelverdienens entlassen und war 4 ½ Jahre arbeitslos.

Bei dem Judenboykott im Jahre 1933 erlitt mein Verlobter einen Nervenzusammenbruch und mußte ich ihn einem Krankenhaus zuführen. Eine Weiterführung durch mich war infolge des Judenboykotts aller jüdischen Unternehmen nicht möglich; ferner auch aus dem Grunde, daß ich mich trotz des Verbotes durch die Nazi-Regierung auch weiterhin als Verlobte des Herrn Goldstein betrachtete. Ich mußte daher das Geschäft verkaufen. Der Erlös von RM 800,-- wurde der Wohlfahrt zum Zwecke der Krankenhauskosten zugeführt. Ich möchte hierbei noch bemerken, daß ich damals sämtliche Sachen unter dem derzeitigen Druck zu Unterpreisen abgeben mußte.

Auf eigenen Wunsch übernahm ich die Vormundschaft über meinen Verlobten. Mein Verlobter war im Krankenhaus St. Georg und, nachdem der Geschäftserlös verbraucht war, brachte man ihn ohne mein Befragen nach der Nervenheilanstalt Friedrichsberg. Nach Besserung seines Zustandes wurde mein Verlobter entlassen. Ich mietete ihm ein Zimmer, richtete es ein – Hamburg, Wohldorferstraße 14 bei Paul – und verpflegte ihn, da er keinerlei Unterstützung bekam.

Herr Goldstein besuchte öfters den neuen Besitzer seines Geschäftes (sein früherer Gehilfe) und hatte wahrscheinlich eine Auseinandersetzung wegen unrechtmäßigen Verkaufes seines Geschäftes mit dem neuen Inhaber. Dieser zeigte daraufhin meinen Verlobten an und Herr Goldstein wurde aus seinem von mir gemieteten Zimmer heraus ohne mein Wissen nach der Heilanstalt in Friedrichsberg gebracht.

Von dort wurde mein Verlobter nach der Nervenheilanstalt Langenhorn verlegt.

Bis zum Jahre 1940 besuchte ich dort meinen Verlobten ständig, und zwar 2- bis 3-mal in der Woche.

Dortselbst bekam er nie genügend Verpflegung, sodaß ich ihn selbstverständlich auch mit genügender Nahrung versorgte.

Mein letzter Besuchstag war am 22. September 1940, denn, als ich eine Woche nach diesem Datum wieder meinen Verlobten aufsuchte, wurde mir der Bescheid gegeben, daß der Patient Seelig Goldstein weggebracht worden ist. Auf mein ständiges Befragen warum und wohin, bekam ich keine Antwort, trotzdem der Anstalt meine Adresse stets bekannt war.

Endlich im Dezember 1940 erhielt ich auf einer Postkarte von der Nervenheilanstalt in Langenhorn den Bescheid, daß mein Verlobter auf ‚Anordnung des Reichsministers nach Chelm bei Lublin, Postschließfach 822’ verlegt worden ist. Ein Schriftwechsel mit meinem Verlobten zu führen war infolge des Krieges nicht möglich.

Nach dem Einmarsch der engl. Truppen in Hamburg begab ich mich sofort nach Langenhorn, um nach seinem Verbleib zu forschen. Dort erhielt ich zur Antwort, daß sich der verantwortliche Direktor erschossen habe und man mir infolge Fehlens von Beweismaterial keinen befriedigenden Bescheid erteilen konnte.

Ich habe deshalb über die jüdische Gemeinde einen Suchantrag nach Herr Seelig Goldstein gestellt.

Durch den Judenboykott verloren wir
1) das gutgehende Friseurgeschäft und die Zahnpraxis
2) verlor ich meine Stellung als Kassiererin,
3) " " " Wohnung,
4) " " " meinen Lebensunterhalt und
5) wurde meine ganze Zukunft vernichtet.

gez. Marta Rother"

Marta Rothers Schilderung des Schicksals von Selig Leiba Goldstein lässt sich durch einige Informationen ergänzen, die ihre Darstellung bestätigen oder verdeutlichen.

Das Branchenverzeichnis des Hamburger Adressbuches von 1921 weist Selig Leiba Goldstein als selbstständigen Friseur an der Wohnadresse Hessenstraße 38 aus. Er betrieb also schon im Jahr 1920 ein eigenes Friseurgeschäft. Wenige Jahre später, 1924, firmierte er nicht mehr als Friseur, sondern als Zahnbehandler. Er war nicht Zahnarzt, sondern anscheinend nichtapprobierter Zahnbehandler, ein Beruf, der nach Freigabe der Heilkunde im Norddeutschen Bund (1869) bzw. im Deutschen Reich (1872) starken Zulauf hatte. Bei seiner Aufnahme in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg nannte Selig Leiba Goldstein als Beruf "Friseur und Dentist".

Selig Leiba Goldstein zahlte seit 1925 regelmäßig Kultussteuern an die Jüdische Gemeinde in Hamburg. Erst ab 1932/33 wurde er nicht mehr zur Steuer veranlagt. Das Finanzamt St. Georg informierte die Jüdische Gemeinde darüber, dass Selig Leiba Goldstein ab 1. Januar 1934 als Steuerpflichtiger gelöscht sei. Der Boykott jüdischer Geschäfte hatte auch Selig Leiba Goldschmidts Existenz vernichtet.

Marta Rothers Entlassung bei der "Produktion" wegen "Doppelverdienens" im Jahre 1931 beschreibt eine Maßnahme, die in der damaligen Wirtschaftskrise viele traf. Der männliche Einkommensbezieher in der Familie sollte für deren Versorgung ausreichen. Dabei spielte es offenbar keine Rolle, ob die Angehörigen einer Hausgemeinschaft gegenseitig zu Unterhalt verpflichtet waren. Der Begriff "Doppelverdiener" entwickelte sich zu einer Art sozialer Diskriminierung meist berufstätiger Frauen, die bis weit in die Zeit der Bundesrepublik im Bewusstsein der Bevölkerung nachwirkte.

Aus Selig Leiba Goldsteins noch existierender Patienten-Karteikarte der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg ergibt sich, dass er zweimal in der Krankenanstalt war, erstmalig 1933, wie Marta Rother schrieb. Nach der Krankenhausentlassung und dem Verlust seines Geschäftes wohnte Selig Leiba Goldschmidt zunächst in der Süderstraße 334 bei Schulz in Hamburg-Hamm und dann in der von Marta Rother erwähnten Wohldorferstraße 14 bei M. Paul in Barmbek-Süd. Die erneute Krankenhauseinweisung nach dem von Marta Rother beschriebenen Zusammenstoß zwischen Selig Leiba Goldschmidt und seinem früheren Friseurgehilfen und nunmehrigen Geschäftsinhaber Hermann Kunert fand am 9. April 1935 statt, wie sich aus der Friedrichsberger Karteikarte ableiten lässt.

Die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg war damals die zentrale Aufnahmeanstalt für psychisch kranke Menschen in Hamburg. Je nach Diagnose wurde dort über deren weitere Krankenbehandlung entschieden. Selig Leiba Goldstein wurde am 1. Juli 1935 aus Friedrichsberg in die Staatskrankenanstalt Langenhorn überführt und blieb dort in den nächsten Jahren.

Während Marta Rother ihren Verlobten in der Staatskrankenanstalt besuchte und half, seine dürftige Ernährung aufzubessern, plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, im Sommer 1940 eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen. Nachdem alle jüdischen Patienten aus den norddeutschen Anstalten in Langenhorn eingetroffen waren, wurden sie gemeinsam mit den dort bereits länger lebenden jüdischen Patienten am 23. September 1940 nach Brandenburg an der Havel transportiert. Noch am selben Tag wurden sie in dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses mit Kohlenmonoxid getötet. Nur eine Patientin, Ilse Herta Zachmann, entkam diesem Schicksal zunächst (siehe dort).

Die Angaben auf der von Marta Rother erwähnten Postkarte vom Dezember 1940 über den Verbleib ihres Verlobten in Chelm entsprechen nicht den Tatsachen. Oft erhielten Angehörige Mitteilungen, in denen behauptet wurde, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm, einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Stand: Juli 2019
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 8; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 351-11 Amt für Wiedergutmachung 25287 Marta Rother; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 8. 1939 bis 27. 1. 1941; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Selig Leiba Goldstein der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Groß, Dominik, Beiträge zur Geschichte und Ethik der Zahnheilkunde, Würzburg 2006, S. 104.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen"

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