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Erna Grospitz
Erna Grospitz
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Erna Grospitz * 1909

Sternstraße 123 (Hamburg-Mitte, Sternschanze)


HIER WOHNTE
ERNA GROSPITZ
JG. 1909
EINGEWIESEN 1924
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 21.4.1944

Erna Grospitz, geb. am 4.6.1909 in Hamburg, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 22.1.1924, verlegt am 16.8.1943 nach Wien in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, dort gestorben am 21.4.1944

Sternstraße 123 (St. Pauli)

Von ihren 34 Lebensjahren verbrachte Erna Grospitz ungefähr 20 Jahre in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Sie war das jüngste der zehn Kinder von Adolfine Grospitz, geborene Mönk, geboren am 29. November1869 in Osnabrück, und Ludwig Grospitz, geboren am 21. März 1865 in Hamburg. Beide Eltern waren evangelisch-lutherisch getauft. Sie hatten am 25. Februar 1888 in Osnabrück geheiratet. Dort wurden die vier älteren Kinder geboren: Emma Henriette, genannt Henny, am 15. August 1888, Elisabeth am 23. August 1889, Emma Maria Hermine am 7. Januar 1892 und Heinrich am 9. Januar 1894.

Ludwig Grospitz, von Beruf Drechsler, stammte aus einer alteingesessenen Familie von Hufschmieden in Hamburg-Hamm. Dorthin zog er mit seiner Familie um 1895 zurück. Die Söhne Gustav, geboren am 2. Dezember 1896, Otto, geboren am 2. Oktober 1898, und Hugo, geboren am 24. November 1901, kamen in Hamm zur Welt. Nach dem Umzug der Familie in den Kinkelsweg 10 in Eilbek folgten die Töchter Frieda, geboren am 23. Januar 1904, und Erna, geboren am 4. Juni 1909. (Der Kinkelsweg, heute nicht mehr vorhanden, war eine kleine Straße im dicht bewohnten "Dichterviertel" zwischen Seume- und Rückertstraße.)

Erna Grospitz kam im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg zur Welt, nicht wie seinerzeit üblich in der Wohnung der Eltern. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass sie ein frühgeborenes Kind war. Anders als in solchen Fällen üblich, wurde sie nicht sofort getauft, auch nicht später als Kind.

Als Erna geboren wurde, hatten die älteren Schwestern schon die Wohnung der Eltern verlassen. Henny arbeitete als "Dienstmädchen" und heiratete den Bleicher Berthold Volkland. Sie betrieben in der Gluckstraße 69 in Eilbek eine Wäscherei. Nicht weit von ihnen, in der Gluckstraße 33, wohnte Elisabeth. Sie hatte die Volksschule in Hamm absolviert und war danach Plätterin geworden. Emma arbeitete als Schneidereigehilfin, Heinrich befand sich in der Ausbildung zum Maler.

Wer außer Heinrich von den Brüdern am Ersten Weltkrieg teilnahm, ist nicht bekannt. Heinrich, der "Heini" genannt wurde, starb als Soldat am 16. November 1916 in Nordfrankreich.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebten Erna Grospitz‘ Eltern vorübergehend getrennt. Ludwig Grospitz sattelte zum Maschinenbauer um. Die Familie zog nach St. Pauli in die Sternstraße 123. Am 30. Juni 1922, zwei Wochen nach Ernas dreizehntem Geburtstag, starb ihre Mutter Adolfine Grospitz im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg.

Erna Grospitz hatte sich als Kleinkind "normal" entwickelt, das heißt, sie lernte mit 1 ¼ Jahren gehen und mit zwei Jahren gut sprechen. Sie wurde 1915 oder 1916 eingeschult, nach einem halben Jahr aber als "unbeschulbar" wieder entlassen. Ihre Entwicklung bis zu ihrem 14. Lebensjahr kennen wir nicht.
Nach dem Ende der Schulpflicht war sie unfähig, eine Ausbildung zu beginnen oder einem Erwerb nachzugehen. Das Wohlfahrtsamt schaltete sich ein und ließ sie ärztlich begutachten. Im Ergebnis wurde die Diagnose "Schwachsinn" gestellt. (Der heute nicht mehr verwendete Begriff "Schwachsinn" bezeichnete eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche.) Die Eltern stellten am 5. Dezember 1923 einen Antrag auf Aufnahme in die Alsterdorfer Anstalten. Kurz darauf, am 22. Januar 1924, wurde Erna Grospitz dort aufgenommen und dort am 10. Februar 1924 getauft. Das Wohlfahrtsamt übernahm die Kosten für den Aufenthalt.

Im Aufnahmeprotokoll wurde festgehalten, dass Erna Grospitz ihren Namen wusste, ihre Umgebung erkannte, Personen und Gegenstände benennen konnte, umgänglich und heiter war. Besonders bemerkt wurden ihr feines Gehör und ihre eingeschränkte Sehfähigkeit. Was ihre alltäglichen Fähigkeiten anging, gab es mit dem Essen und der Reinlichkeit keine Probleme, aber sie konnte sich nicht richtig an- und auskleiden.

Erna wurde als Spiel-, nicht als Pflegekind eingestuft. Sie entwickelte zunächst keine weiteren Fähigkeiten oder Interessen.

Sie erhielt regelmäßig Besuche von Familienangehörigen und anlässlich der Hochzeit ihrer Schwester Frieda am 23. April 1924 auch Urlaub bis zum 30. August.

Nach dem ersten Jahr in den Alsterdorfer Anstalten wurde in Erna Grospitz‘ Patientenakte notiert, sie sei ängstlich, weinerlich, habe Wutanfälle mit Zerstörungstrieb, könne weder lesen noch schreiben, müsse gewaschen und gekämmt werden. Sie spreche deutlich, ihr Wortschatz entspreche ihrem Alter. Schul- und arbeitsfähig sei sie jedoch nicht, sondern nur für einfache Handreichungen geeignet.

Erna wuchs und nahm an Gewicht zu, von 81 Pfund bei ihrer Ankunft auf 125 Pfund am Jahresende 1929. Bis April 1940 pendelte ihr Gewicht um 66 kg, danach sank es Schritt für Schritt auf 46 kg im Januar 1943.

Bis 1931 notierte das Personal Jahr für Jahr Erna Grospitz’ Unbeholfenheit, aber ebenso ihre klare Sprache und ihre leichte Auffassung von Melodien. Als Ursache für ihr Ungeschick galt ihre Sehschwäche. Auf besondere Ereignisse in ihrer Umgebung reagierte sie entweder intensiv mit Freude oder mit Ärger und fand ihr Gleichgewicht wieder auf ausgedehnten Spaziergängen, bei denen sie sang und Selbstgespräche führte.

1940 erlitt Erna Grospitz erstmals einen kleinen Anfall, einen weiteren im Juni 1941. Ein Jahr später lautete der Bericht über den Krankheitsverlauf: "Pat.[ientin] besorgt ihre Körperpflege selbst, muss nur gekämmt werden, ist an sich sehr ordentlich. Im Wesen ist sie gutmütig, sehr empfindlich, oft eigensinnig, tobt dann sehr. Sie wird in der Abteilung mit Laufwegen und leichten Arbeiten beschäftigt, die sie gewissenhaft ausführt."

Der letzte Eintrag datiert vom 16. August 1943: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien. Dr. Kreyenberg." Gerhard Kreyenberg, Oberarzt der Anstalt sowie NSDAP- und SA-Mitglied, bezog sich auf die "Operation Gomorrha", die alliierten Luftangriffe im Sommer 1943 auf Hamburg.

Die damaligen Alsterdorfer Anstalten mussten Bombenverwirrte und verwundete Soldaten aufnehmen. Zur Entlastung der Anstalt holte Pastor Lensch, der Leiter der Anstalt, bei der Hamburger Gesundheitsbehörde die Genehmigung ein, Patientinnen und Patienten in "luftsichere" Anstalten zu verlegen. Ein Transport von 228 Mädchen und Frauen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verließ Hamburg am 16. August 1943 und ging nach Wien in die "Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien". Unter ihnen befand sich auch Erna Grospitz.

Bei der Aufnahme in Wien zeigten sich bei der ärztlichen Untersuchung keine Befunde an Lunge und Herz. In ihrer Patientenakten wurde notiert, sie sei ruhig, desorientiert, unrein und bettlägerig. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit sei sie jedoch orientiert gewesen, habe Fragen richtig beantwortet und von ihren Geschwistern erzählt.

Die erste Nachricht aus Wien, die die Familie Grospitz erreichte, datiert vom 1. November 1943. Der behandelnde Arzt informierte ihren Vater, dass Erna sich auf Pavillon 21 befinde. "Es handelt sich um einen Fall von angeborenem Schwachsinn. Pat.[ientin] hat sich in die geänderten Verhältnisse gut eingefunden. Der körperliche Zustand ist unverändert. […]".

Anfang 1944 soll Anna Grospitz ihr Bett nicht mehr verlassen haben, desorientiert gewesen sein und kaum etwas gegessen haben. Sie habe Blut gespuckt. Daraufhin wurde eine Lungen- und Rippenfellentzündung diagnostiziert.

Simon Grospitz, Erna Grospitz‘ Onkel, erkundigte sich im April 1944 nach seiner Nichte in Wien. Er erhielt mit Datum vom 10. Mai 1944 die Nachricht: "Pat.[ientin] ist am 18.4.44 plötzlich erkrankt. Drei Tage später am 21.4. d.J. um 5 Uhr 15 früh trat infolge Herzschwäche der Tod rasch ein." Das Sektionsprotokoll führt demgegenüber "Pneumonie" als Todesursache an.

Erna Grospitz wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt.

Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen 257 bis Ende 1945 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: Februar 2023
© Hildegard Thevs

Quellen: Hamburger Adressbücher; StaH 332-5, Personenstandsregister; 332-8 Meldewesen, 741-4, K 6161; 352-8/7, Abl. 1985/1, Staatskrankenanstalt Langenhorn, 20812; Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, Einwohnerakte V 337; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr, Stuttgart, 3. Aufl. 2016.

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