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Anna Hamer, Juli 1937
Anna Hamer, Juli 1937
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Anna Hamer * 1909

Kedenburgstraße 7 (Wandsbek, Wandsbek)


HIER WOHNTE
ANNA HAMER
JG. 1909
EINGEWIESEN 1929
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF WIEN
TOT 21.7.1945

Anna Hamer, geb. am 19.9.1909 in Wandsbek, verlegt am 16.8.1943 aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", verstorben am 21.7.1945

Kedenburgstraße 7

Emilie Dorothea Anna Hamer wurde als ältestes Kind von Johannes Heinrich Hamer (geb. 7.8.1885 in Segeberg) und Marie Dorothea, geborene Bührens (geb. 21.11.1889 in Klein Heuwisch bei Neunkirchen) in Wandsbek geboren. Sie hatte drei jüngere Brüder, von denen einer im Alter von etwa zwei Jahren an – wie es hieß – "Zahnkrämpfen" verstarb.

Der Vater war eigentlich Gärtner, verdiente aber seit 1920 den Lebensunterhalt der Familie als Straßenbahnschaffner. Seine Frau war vor der Heirat Dienstmädchen gewesen. Sie hatten am 14. August 1909 geheiratet. Anna kam am 19. September 1909 zur Welt. Die Familie wohnte in Wandsbek, ab 1919 in der Manteuffelstraße 7.

Anna, Anni genannt, besuchte von 1916 bis 1923 die Volksschule Hinschenfelde in der Volksdorfer Straße (heute Walddörferstraße). Obwohl sie eine gute Schülerin war, konnte sie anschließend keinen Beruf erlernen. Auch der Versuch, sie "in Stellung zubringen", scheiterte. Anna war an Knochentuberkulose erkrankt und litt seit ihrem 14. Lebensjahr an Epilepsie. Sie verletzte sich oft während ihrer "ziemlich schweren Anfälle".

Anna blieb bei ihrer Familie und half ihrer Mutter im Haushalt. Im Alter von 19 Jahren, am 23. März 1929, wurde sie erstmals in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) aufgenommen. Die Kosten ihrer Unterbringung übernahm die Fürsorgebehörde. In ihrer Krankenakte hieß es, ohne ärztliche Aufsicht und Pflege sei sie gefährdet. Im Jahr zuvor hatte sie einen Sohn zur Welt gebracht, der den Namen Werner erhielt.

Aus Sicht der Eltern war die Unterbringung ihrer Tochter in Alsterdorf nicht als Dauerlösung gedacht. Sie korrespondierten mit der Anstaltsleitung und stellten regelmäßige Anträge, Anna "auf Urlaub" nach Hause zu holen.

Ein Brief an Anna vom 1. Juli 1930 lautet:
"Liebe Tochter!
Wann möchtest Du wieder auf Urlaub, benachrichtige uns bitte darüber; Dein Bild ist sehr schön geworden, schade um Deine Krankheit, wenn die Oberschwester meint, Du wärst wohl um was anderes in der Anstalt, da is[t] sie schwer im Irrtum, hättest Du die Krämpfe nicht, so könntest Du Dein Brodt [sic.] genau so verdienen wie sie es selber muß. Übrigens wollen wir es diesen Winter noch ansehen und zum Frühjahr wirst Du dann sowieso geholt. Nun liebe Tochter haben wir von Freitag d. 8.8. bis Freitag d. 22.8. Urlaub für Dich eingereicht. Mutti holt Dich, Du sollst dann Deine Jacke und Dein[en] Schirm mitbringen.
Bis dahin viele Grüße und Küsse
Deine Eltern & Geschwister
kl. Werner."

Seit Anfang März 1931 drängte Johannes Hamer auf die Entlassung seine Tochter. Im April sah sich das Ehepaar Hamer "veranlasst zur Selbsthilfe zu greifen" und brachte Anna nach einem Familienaufenthalt nicht mehr nach Alsterdorf zurück.

Am 14. August 1934 wurde Anna Hamer nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zwangssterilisiert. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht in stationärer Behandlung, deshalb ist unklar, wer die Entscheidung des damaligen Erbgesundheitsgerichtes herbei führte.

Zu einer zweiten Aufnahme in Alsterdorf kam es am 2. Juni 1937. Anna ging es gesundheitlich schlechter, sie soll sich in einem "epileptischen Dämmerzustand" befunden haben und konnte zuhause nicht mehr ausreichend beaufsichtigt werden.

Anna wurde als "langsam, träumerisch und schwerfällig in ihren Handlungen" beschrieben. Ihre Nahrungsaufnahme galt als sehr schlecht, ihre Aussprache als undeutlich. Nach einigen Tagen wurde sie dann "zugänglicher und klarer", konnte sich jedoch nicht mehr an ihre Einweisung erinnern.

Anna Hamer wurde nun als "dauernd anstaltsbedürftig" eingestuft. Gegen ihre Krampfanfälle erhielt sie das in der Epilepsiebehandlung übliche Beruhigungs- und Schlafmittel Luminal.

Auch jetzt wurde sie in Alsterdorf wieder mit Haus- und Handarbeiten beschäftigt und vom Pflegepersonal als stets freundliche, hilfreiche und verträgliche Patientin beschrieben, die die ihr aufgetragenen Hausarbeiten sauber und ordentlich verrichtete.

In ihrer Krankenakte wurde vermerkt: "Zeigt Geschick und Verständnis für die ihr aufgetragenen Arbeiten, erledigt dieselben zufriedenstellend. Verträglich, ruhig, freundlich, gefällig." Gelegentlich wurde sie aber auch als "sehr unzufrieden" und "frech" beschrieben.

Ihre Familie hielt weiterhin Kontakt und holte Anna regelmäßig nach Hause.

Nach Ansicht des Pflegepersonals veränderte sich Anna ab Oktober 1938. Ständig habe sie nun Streit gehabt, sei auch "handgreiflich" und "widerspenstig" geworden, "sehr viel Schwierigkeiten" gemacht, meistens wenn sie von einem Familienaufenthalt zurückgekehrt sei. Wiederholt wurde sie im "Wachsaal" isoliert und im Bett angegurtet. Wenn sie sehr unruhig wurde, schrie und das Bettzeug zu zerreißen versuchte, bekam sie eine "Schutzjacke" und als Beruhigungs- und Schlafmittel Paraldehyd, ein heute nicht mehr gebräuchliches Mittel. "Wachsäle" gab es bereits in den 1910er Jahren, in den AlsterdorferAnstaten wurden sie erst Ende der 1920er Jahre eingeführt. Dort wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich die Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderen Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

Ein Eintrag von Juli 1942 hält Annas "sehr" eingeschränkte Arbeitskraft fest, sie sei nicht mehr in der Lage, den Schlafsaal alleine zu reinigen. Im selben Jahr hieß es im Bericht an die Fürsorgebehörde: "Pat.[ientin] leidet an Epilepsie mit nicht sehr häufigen, aber schweren Anfällen, auch Bewusstseinstrübungen und erheblichen charakterliche Veränderungen. Sie ist gereizt und unfreundlich, sitzt oft untätig herum und hat im ganzen sehr nachgelassen."

Am 16. Juli 1943 wurde in ihrer Krankenakte vermerkt: "Pat.[ientin] kam vom Pfingsturlaub zurück, blieb den nächsten Tag im Bett mit dem Vermerk, sie sei müde, schmutzt und näßt ein und ist obendrein noch frech."

Einen Monat später trug der leitende Oberarzt Gerhard Kreyenberg in die Anna Hamers Akte ein: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalt durch Fliegerangriff verlegt nach Wien".

Nach den massiven Luftangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 ("Operation Gomorrha") nutzte die Anstaltsleitung die Gelegenheit, hunderte Patientinnen und Patienten mit mehreren Transporten in andere Heil- und Pflegeheime zu verlegen, um Platz für Bombengeschädigte und Verwundete zu schaffen. Einer dieser Transporte mit 228 Mädchen und Frauen verließ die Alsterdorfer Anstalten am 16. August mit dem Ziel "Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt" in Wien. Zu ihnen gehörte Anna Hamer.

Bei ihrer Aufnahmebesprechung in Wien wurde Anna als ruhig und zufrieden, vollkommen orientiert beschrieben. Sie wog bei ihrer Ankunft 47 kg und wurde als pflegebedürftig eingestuft. "Wegen Unbeholfenheit" kam sie in ein Gitterbett, verhielt sich aber nach den Eintragungen in ihrer Akte weiterhin ruhig und fügsam.

Anna Hamer hat das Kriegsende in Wien im April 1945 noch erlebt. Im Sommer wurde vermerkt, sie sei schwach und verfalle zusehends. Anna Hamer starb am 21. Juli 1945. Als Todesursache wurde Epilepsie und Enterokolitis (Darmkatarrh) angegeben. Sie wog zum Zeitpunkt ihres Todes nur noch 34 Kilo. Dem herbeigeführten Hungersterben am Steinhof fielen von 1941 bis 1945 insgesamt mehr als 3.500 Patientinnen und Patienten zum Opfer.Anna Hamers Familie erfuhr erst auf Nachfrage von ihrem Tod: Ihr Bruder bat im April 1946 umgehend um Benachrichtigung: "Da die Eltern seit Juni 1944 ohne jede Nachricht blieben, sind sie begreiflicher Weise in sehr großer Sorge." Ein Antwortschreiben kam im Mai: "[...] muss Ihnen leider mitgeteilt werden, dass Frl. Anna Hamer bereits am 21. Juli 1945 an einem schweren Darmkatarrh gestorben ist. Die Verständigung der Angehörigen war damals infolge der bestandenen Sperre des Postverkehres von Österreich nach Deutschland nicht möglich. Die Leiche wurde am 24. Juli am Wiener-Zentralfriedhof durch die städt. Bestattungs-Unternehmung in einem gemeinsamen Grabe beerdigt."


Stand: Dezember 2019
© Susanne Rosendahl

Quellen: Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Sonderakte 330; StaH 332-5 Standesämter 4088 u 116/1909; StaH 332-5 Standesämter 4561 u 43/1913; Uwe Schmidt: Hamburger Schulen im "Dritten Reich". Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 3. Aufl. Stuttgart 2016.

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