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Foto auf der Krankenakte, Porträt 1939
Marie Bugzer 1939
© Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv

Marie Lena Bugzer * 1909

Vierländer Damm 270 (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


HIER WOHNTE
MARIE LENA BUGZER
JG. 1909
EINGEWIESEN 1930
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 15.12.1943

Marie Bugzer, gen. Buegsel, geb. 1.12.1909 in Bremen, am 16.8.1943 Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, Tod dort am 15.12.1943

Vierländer Damm 270

Bei der Aufnahme Marie Bugzers am 17. August 1943 in der "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dem ehemaligen "Steinhof", wurde in der Krankenakte notiert: "Körper gänzlich verkrümmt, kann nicht gehen, ruhig, pflegebedürftig"; Gewicht 25 kg, Temperatur 36. Die Diagnose "Schwachsinn nach Kopfgrippe" wurde aus der Krankenakte der damaligen Alsterdorfer Anstalten, die Marie Bugzer begleitete, übernommen. Gemeint war mit "Kopfgrippe" eine Gehirnentzündung, oft durch Viren ausgelöst. Damit war die Frage nach der Erblichkeit des Leidens negativ entschieden. Sie war von zentralem Interesse für Maries Ärzte, die sich sämtlich der "Erbgesundheit des Volkes" verpflichtet hatten. Diese Antwort erklärte jedoch nicht Marie Bugzers besondere Entwicklung in ihren ersten zwanzig Lebensjahren.

Am 1. Dezember 1909 wurde Marie Helene Bugzer, gen. Buegsel, in Bremen in eine römisch-katholische Familie hinein geboren. Sie war das sechste Kind von Marianna Bugzer, geb. Owsianna, und ihrem Ehemann, dem Schmied Wladislaus/Ladislaus Bugzer, gen. Buegsel. Beide stammten aus Polen, der Familienvater aus Lodz, die Mutter aus Billhoff in Posen. Die Schreibweisen ihrer Namen wechseln selbst in amtlichen Dokumenten. Ladislaus Bugzer verdingte sich auf Gütern in der preußischen Provinz Posen, zunächst in Krempa, Kreis Ostrowo, wo er am 8. Oktober 1898 heiratete. Dort wurden auch die Töchter Stanislawa (1899) und Klementina (1900) geboren wurden. Sein nächster Arbeitsplatz war das Gut Zembrow im Kreis Topola. Dort kam Wanda (1902) zur Welt. Nach ihrem Umzug nach Bremen wurden Stephan (1908) und Marie geboren. Über einen Bruder Eduard ist nur bekannt, dass er in den Bergbau im Ruhrgebiet ging.

Maries Geburt verlief normal, doch nahm die Mutter nach zwei Tagen ein Zittern ihrer Ärmchen wahr. Im Alter von zwei Wochen erkrankte Marie. Als sie nach einer Woche wieder gesund zu sein schien, blieb ihr Kopf stark zurück gebogen, und ihr Schreien klang anders als das ihrer älteren Geschwister. Sie lernte erst mit drei Jahren Laufen und setzte dabei die Füße über Kreuz. Ein Jahr später begann sie zu sprechen, blieb aber zeitlebens schwer zu verstehen. Ihre Hände versteiften in einer gekrümmten Stellung. Sie war fast sechs Jahre alt, als am 16. November 1915 noch eine Schwester, Katharina, geboren wurde. Da war die Familie bereits nach Hamburg-Rothenburgsort gezogen. Katharina starb noch vor ihrem ersten Geburtstag in der elterlichen Wohnung. Das Zuhause leerte sich: Als erste heiratete 1918 Stanislawa, genannt Sacha, den Arbeiter Josef Milde. 1921 folgten Wanda, verheiratete Mens, und Klementina, genannt Klara, verheiratete Skiba. Die Familie bewahrte ihren Zusammenhalt.

Für Marie kam ein Schulbesuch nicht infrage, auch nicht der einer "Hilfsschule", aber mit zehn Jahren konnte sie allein zum Krämer gehen. Sie nahm dann einen Einkaufszettel mit, auf dem stand, was sie mitbringen sollte.
Mit der Pubertät traten verstärkt von ihr nicht zu kontrollierende Bewegungen des Kopfes und der Mimik auf. Weihnachten 1928 erkrankte sie an der oben erwähnten Gehirnentzündung, die sie für einige Tage ans Bett fesselte. Nach einigen Wochen zitterten und schmerzten ihre Beine so sehr, dass sie weder gehen noch stehen konnte, ihre Hände und die Muskeln des Schultergürtels wurden steif. Am 1. Dezember 1929 nahm das Allgemeine Krankenhaus Barmbek sie wegen Monate lang andauernder Ohrenbeschwerden auf. Eine Behandlung mit Atropin brachte den gewünschten Erfolg.

Marie äußerte sich kaum einmal spontan, zeigte auch selten Gefühlsäußerungen, freute sich aber sichtbar über die Besuche ihrer Eltern und Geschwister, die ihr Schokolade und Marzipan mitbrachten.
Doch Maries Grundleiden besserte sich nicht. Die Ärzte gelangten zu der Annahme, dass sie an den Folgen einer Kinderlähmung litt und entließen sie am 17. April 1930 in die Obhut des Hausarztes.
Zwei Monate später wurde Marie Bugzer im Alter von 20 Jahren in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Die Angaben für den dabei fälligen "Abhörungsbogen" füllte ihr Bruder Stephan aus, denn die Mutter sprach nur schlecht Deutsch und der Vater war infolge eines Unfalls invalide geworden.
Es dauerte Monate, bis sich Marie eingelebt hatte, und sie wiederholte häufig, dass sie nach Hause wolle. Trotz ihrer Hilflosigkeit, zeitweiliger Schmerzen und ihres kümmerlichen Zustands war sie dem Pflegepersonal gegenüber freundlich und machte einen zufriedenen Eindruck. Sie konnte sich in undeutlicher Sprache mit den Schwestern verständigen, und wenn ihr etwas missfiel, äußerte sie deutlich ihren Unmut.
Zu ihren Geburtstagen wurde Marie nach Hause beurlaubt oder erhielt Besuch, wenn es nicht eine Sperre wegen einer Erkrankung gab. Sie litt des Öfteren an grippalen Infekten und Erbrechen. 1939 verschlechterte sich ihr Zustand bis hin zur Bewegungsunfähigkeit. Der letzte Eintrag in der "Alsterdorfer" Akte datiert vom 22. Oktober 1942 und lautet:
"Die Patientin liegt immer ruhig und still im Bett. Die Vorgänge in der Abteilung verfolgt sie stets mit den Augen. Wünscht sie etwas, ruft sie. Das linke Bein lässt sich nicht mehr geradeziehen, es ruht mit dem linken Knie auf dem rechten Oberschenkel. In den letzten Wochen hat sie an Gewicht zugenommen, sie isst mit gutem Appetit." Ihr Körpergewicht war von 22 kg auf 25 kg gestiegen!
Neun Monate zuvor, am 25. Januar 1942, war Marianna Buegsel an einer Lungenentzündung im Kreis ihrer Familie gestorben.

Als stark pflegebedürftige junge Frau von beinahe 33 Jahren wurde Marie Bugzer am 16. August 1943 zusammen mit 227 Mädchen und Frauen aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien verlegt. Die Anstaltsleitung entlastete sich nach den Zerstörungen großer Teile Hamburgs durch alliierte Flächenbombardements im Juli/August 1943 mit der Verlegung von Hunderten von Patienten und Patientinnen in "luftsichere" Gebiete. Sie wählte die zu verlegenden Patienten und Patientinnen selbst aus, Marie Bugzer ist ein Beispiel für die "Schwächsten der Schwachen".

Ihre Angehörigen waren inzwischen "ausgebombt" worden und erfuhren erst nachträglich von der Verlegung. Der Schwager Joseph Milde erkundigte sich noch im September 1943 bei der Wiener Anstaltsleitung nach Marie. Er war inzwischen beruflich seinem Vater gefolgt und arbeitete bei der Desinfektionsanstalt in Altona, deren Postanschrift er benutzen konnte. Ihm wurde geantwortet, dass Maries geistiger und körperlicher Zustand gänzlich unverändert und sie in jeder Hinsicht pflegebedürftig sei. Sie verfiel und starb vierzehn Tage nach ihrem 34. Geburtstag am 15. Dezember 1943 an "Auszehrung bei Psychose, akuter Dünndarmentzündung und Herzschwäche". Über den Verbleib ihres Leichnams ist nichts bekannt.

© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 371; StaH 332-5 Standesämter, 759-518/1916; 1158-54/1942; 3328-359/1918; 7339-434/1956; Wunder, Michael, Ingrid Genkel, Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Hamburg, 2. Aufl. 1988; Dokumente und mündliche Mitteilungen von Holger Bugzer, Febr. 2013.

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