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Bertha Kaufmann * 1878

Oberstraße 16-18 (Eimsbüttel, Harvestehude)


HIER WOHNTE
BERTHA KAUFMANN
JG. 1878
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Bertha Kaufmann, geb. am 20. 9. 1878 in Stuttgart, ermordet am 23. 9. 1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Oberstraße 18 (ehemals Klosterallee 14), Hamburg-Harvestehude

Bertha Kaufmann wurde am 20. September 1878 in Stuttgart als sechstes und jüngstes Kind einer dort ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater, Wilhelm Kaufmann, starb 1895 an Typhus. Bertha Kaufmanns Mutter Henriette zeigte stark wechselnde Stimmungen, mal zärtlich, mal gereizt und heftig. Sie drohte mit Selbsttötung. Gegen ihre Dienstboten war sie gewalttätig. 1907 kam sie in die "Flamm’sche Privat-Heilanstalt" im Schloss Pfullingen am Rande von Reutlingen, weil sie Wahnvorstellungen äußerte. Ende Juli 1908 hatte sich ihr Zustand soweit gebessert, dass sie entlassen werden konnte. Kurz darauf wurde sie auf eigenen Wunsch erneut aufgenommen und blieb bis zu ihrem Tode am 17. März 1913 in der Anstalt.

Bertha Kaufmann entwickelte sich schon in frühen Jahren zu einem "Problemkind". In der Schule soll sie wenig aktiv bis faul gewesen sein und negativ über Lehrer geredet haben. Später bezeichnete sie sich selbst als schlechte Schülerin und sah die Ursache dafür bei den Brüdern, die sie sehr verwöhnt hätten. Mit zwölf Jahren musste sie eine Höhere Töchterschule verlassen. Danach besuchte sie drei Jahre eine andere und schließlich 18 Monate eine Stickschule. Sie erhielt privat Musikstunden und von einer nach Berthas Erzählung "sehr frommen Pastorentochter" Malunterricht.

Bertha Kaufmann konnte es nach Angaben ihres Bruders Karl nie lange an einem Ort aushalten. Sie bekam überall Konflikte mit ihrer Umgebung, wusste nicht mit Geld umzugehen und war außerstande, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hielt sich von jeher für eine bedeutende Person, für eine sehr begabte Sängerin und Malerin. Sie las schwerverständliche Abhandlungen, suchte den Anschluss an "christliche Damen". Sie kleidete sich so auffällig, dass die Kinder spottend hinter ihr herliefen.

Am 15. Mai 1906, Bertha Kaufmann war 27 Jahre alt, wurde sie zum ersten Mal in eine "Irrenanstalt" aufgenommen, und zwar in die Psychiatrische Universitätsklinik Tübingen. Bei ihrer Einlieferung berichtete die von Bertha als "Missionarin" bezeichnete Begleiterin, Bertha sei von jeher eine Schwärmerin gewesen, ihr Kopf sei angefüllt mit Kunst und Literatur. Sie beschäftige sich mit Heiratsgedanken, richte ihre Aussteuer her, zerschneide dabei aber die schönsten Kleider in sinnloser Weise. Sie sei reizbar, vertrage keinen Widerspruch und sei sogar gewalttätig gegen ihre Mutter geworden. Als Bertha während eines Verhältnisses mit einem Maler schwanger geworden sei, habe sie Tobsuchtsanfälle bekommen und alles zertrümmert. Bertha selbst behauptete aber noch Jahre später, nicht zu wissen, wie sie schwanger geworden war. Als die Schwangerschaft bemerkt wurde, habe die Familie sie nach Berlin geschickt. Dort sei das Kind zur Welt gekommen, aber nach wenigen Tagen an "Lebensschwäche" gestorben.

Auf öffentlichen Straßen fühlte sich Bertha Kaufmann beobachtet und verfolgt. Sie meinte, jedermann sähe ihr ihre Vergangenheit an. Vermutlich bezog sich dies auf ihre nichteheliche Schwangerschaft. In Tübingen wechselten Stimmung und Verhalten. Manchmal war sie still und gedrückt, dann schimpfte sie mit unflätigen Ausdrücken auf die Pflegerinnen und unterstellte, dass Essen sei vergiftet. Auf Wunsch ihrer Mutter wurde Bertha Kaufmann am 13. Juli 1906 "ungeheilt" entlassen.

Nach Aufenthalten in der Heilanstalt Rottenmünster bei Rottweil, in der Heil- und Pflegeanstalt Pfullingen und in der "Kranken- und Irrenabteilung" des Bürgerhospitals Stuttgart lebte Bertha Kaufmann von Mai 1914 bis Juli 1920 in Freiheit. Sie wechselte sehr oft ihren Aufenthaltsort, bis sie schließlich nach Hamburg kam. Hier lebte ihr Bruder Karl, von dem sie sich Unterstützung erhoffte.

In der Zeit vor ihrer ersten Aufnahme in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg am 8. Juli 1920 wohnte sie im Christlich-Sozialen Frauenseminar des Vereins für Christliche Privat-Seminare e. V. in der Straße Wartenau 7a. Auch hier nahm die Leiterin sie als in ihren Stimmungen schwankend wahr. Bei ihrer Ankunft war sie erregt und völlig ruhelos. Am liebsten saß sie in einem Zimmer allein. Eine Anstellung in einem Stickereigeschäft gab sie nach wenigen Tagen auf, weil ihr der Umgang nicht zusagte. Im Haus des Frauenseminars fühlte Bertha Kaufmann sich immer zurückgesetzt, missverstanden und benachteiligt. Die Mitarbeiterinnen dort empfanden sie als sehr schwierig.

Aufgrund eines Attestes des Leiters der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Professor Wilhelm Weygandt, wurde Bertha Kaufmann am 8. Juli 1920 dort aufgenommen. Sie gab bei der Aufnahme über ihre Familienverhältnisse laut Patientenakte zutreffend Auskunft, berichtete jedoch stark überzeichnet über ihren eigenen Werdegang. Ihre erste Aufnahme in einer "Irrenanstalt" sei auf ihr eigenes Betreiben erfolgt. Sie habe sich absichtlich "immer gemeiner" benommen, um einer geplanten Ehe mit einem ungebildeten Manne zu entgehen. Einen Mann habe sie sehr geliebt, wolle darüber aber nicht sprechen. Sie sei immer in die Anstalten gelaufen, wenn ihr etwas nicht passte. Nach dem Tod ihrer Mutter (März 1913) sei sie viel umhergereist, habe auch mal in ein katholisches Kloster gewollt. Schließlich sei sie in Hamburg gelandet, nachdem sie in Stuttgart "grässlich viele Schulden" (1000 RM) zurückgelassen habe. Sie empfinde es als selbstverständlich, dass ihre Brüder für sie sorgten.
Als Bertha Kaufmann am 16. Oktober 1920 aus der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg entwich, wurde sie nach einigen Stunden von ihrem Bruder Karl Kaufmann zurückgebracht. Am 18. April 1921 schließlich wurde Bertha Kaufmann mit Einwilligung ihres Vormunds, Pastor Herdmüller, "gebessert" aus Friedrichsberg entlassen. Ihre Adresse lautete nun Siechenheim Elim in Hamburg-Eppendorf. Am 10. Dezember 1921 kam es zur zweiten Aufnahme in Friedrichsberg. Die Berichte über ihren Krankheitszustand lesen sich wie die während des ersten Aufenthalts. Viereinhalb Jahre später, am 13. Juli 1926, durfte sie Friedrichsberg wiederum verlassen, und zwar mit der Beurteilung "gebessert".

Bertha Kaufmann lebte nun in verschiedenen Pensionen und bei Privatpersonen. Nach einer Zwischenstation in einer Anstalt in Schleswig-Holstein will sie zwangsweise "in Tücher gewickelt" mit 80 anderen Kranken in die Anstalt Kropp bei Schleswig überstellt worden sein. Ein Rabbiner (Dr. Benjamin Cohen, von 1928 bis 1938 Bezirksrabbiner von Friedrichstadt) habe sie aus der Anstalt gerettet. Sie habe dann bei ihm wohnen dürfen. Nach einem Streit, in dem sie dem Rabbiner erklärte, "Jetzt hab’ ich Eure Frömmigkeit aber satt, adieu!", kehrte sie nach Hamburg zurück. Sie wohnte kurzzeitig bei ihrem Bruder, danach in einem jüdischen Mädchenpensionat. Hier wollte sie sich ein Klavier kaufen, um mit Gesang großartig aufzutreten. Doch weil ihr die Noten fehlten, kam es nicht zu der Darbietung, sondern zu einem heftigen Streit, in dessen Folge der herbeigerufene Vormund für ihre zwangsweise Einweisung in das Krankenhaus Eppendorf sorgte.
Seit dem 22. Juni 1930 befand sich Bertha Kaufmann wiederum in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. In den beiden Folgejahren bis zu ihrer Entlassung am 11. März 1932 wurde ihr Verhalten wie schon bei ihren früheren Aufenthalten beschrieben. Anschließend wohnte Bertha Kaufmann in der Pension der Witwe Regina Bachrach in der Klosterallee 14 zum letzten Mal außerhalb von Anstalten. Am 30. August 1933 wurde sie wiederum in Friedrichsberg aufgenommen und von dort am 13. Juli 1934 mit der Diagnose "Schizophrenie" in die Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn verlegt.

Über Bertha Kaufmanns Verhalten bzw. ihr Krankheitsbild in Langenhorn mag die in ihrer Krankenakte vom Oktober 1934 enthaltene Notiz einen Eindruck vermitteln:
"Hat noch viel Reibungen mit Mitpatientinnen, über deren derbe Ausdrucksweise oder ‚Antisemitismus’ sie wehklagend pathetische Beschwerden vorbringt. Schimpft auf der Abt. dauernd auf die Ärzte und Schwestern, alles ist ihr nicht gut genug. Sie verlangt dauernd Garderobestücke, die gar nicht mehr vorhanden sind. Sucht die Schwestern zu überreden, für sie feine Kleider, Lackschuhe usw. zu kaufen. ‚Mein Bruder wird schon alles bezahlen’. Schimpft tüchtig auf die Christen."

Nach knapp einem Jahr, am 3. April 1935, wurde Bertha Kaufmann in die Heilanstalt Strecknitz in Lübeck verlegt, wo aufgrund der überfüllten Hamburger Einrichtungen immer wieder Hamburger Patienten untergebracht wurden. Die Berichte über Bertha Kaufmanns Verhalten gleichen vorhergehenden, sind nun jedoch in deutlich diskriminierender Tendenz abgefasst: "Überschüttet den Arzt immer noch mit ihrem gleichzeitig konfusen und stereotypen Redeschwall, hat dauernd zu querulieren, zu nörgeln, sich zu beklagen und zu beschweren, erinnert oft an das wohlbekannte Zustandsbild der ‚jüdischen Quengelpsychose’. Unbeeinflussbar und unbelehrbar, ganz einsichtslos. Stereotyp hoheitsvoll-herablassend in ihrem Wesen. Schreibt konfuse Briefe voller dringender Wünsche."

Nach einer längeren Phase relativer Ruhe wechselte Bertha Kaufmann am 5. Juni 1936 in eine private Pflegestelle in Lübeck. Schon elf Tage später musste dieser Versuch wieder aufgegeben werden. Bei ihrer Wiederaufnahme in Strecknitz schimpfte sie wieder über ihre Unterbringung, redete unaufhaltsam und zeigte laut Aktennotiz einen lebhaften und "ganz gleichbleibenden Affekt (expansiv, reizbar-empfindlich mit querulatorischer Färbung)‚ jüdische Quengelpsychose’". Ein weiterer Versuch, Bertha Kaufmann in Familienpflege zu geben, wurde trotz einer Anregung ihres neuen Vormunds, Dr. N. M. Nathan, Syndikus der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg, nicht mehr unternommen. Sie blieb nun in der Heilanstalt Lübeck-Strecknitz.

Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Bertha Kaufmann traf am 16. September 1940 in Langenhorn ein. Am 23. September 1940 wurde sie mit weiteren 135 Patientinnen und Patienten aus norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Menschen umgehend in die Gaskammer und ermordete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe www.stolpersteine-hamburg.de).

Es ist nicht bekannt, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Bertha Kaufmanns Tod erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm, einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Bertha Kaufmanns Bruder Karl, geboren am 17. März 1872 in Stuttgart, war mit Amalie Bodenheimer, geboren am 3. Mai 1873, verheiratet. Das Ehepaar lebte am Woldsenweg 14 in Hamburg-Eppendorf, später in der Straße Vogelreth 9a im Stadtteil Steinwerder. Karl und Amalie Kaufmann verließen Hamburg 1933 und zogen nach Prag. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Ein weiterer Bruder soll sich infolge finanzieller Probleme das Leben genommen haben. Das Schicksal der beiden anderen Brüder ist unbekannt. Berthas einzige Schwester war in Amerika verheiratet.

Stand: Mai 2022
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 8. 1939 bis 27. 1. 1941; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Bertha Kaufmann der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; UKE/IGEM, Archiv, Patientenakte Bertha Kaufmann der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; IMGWF Lübeck, Archiv, Patientenakte Bertha Kaufmann der Heilanstalt Lübeck-Strecknitz; Stadtarchiv Stuttgart, Geburtenbuch Stuttgart-Mitte Geburtsregister Nr. 3277/1878 Bertha Kaufmann; JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein", Datenpool Erich Koch, Schleswig.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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