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Harry Jacob * 1899

Schultzweg 2 (Hamburg-Mitte, Hammerbrook)


HIER WOHNTE
HARRY JACOB
JG. 1899
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Harry Jacob, geb. am 29.9.1899 in Hannover, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Schultzweg 2 (früher Westerstraße 27)

Harry Jacob kam am 29. September 1899 in Hannover als Sohn des jüdischen Händlers Moritz Jacob und seiner Ehefrau Rosalie, geborene Moses, zur Welt. Er besuchte die Realschule bis zur Untersekunda und soll ein guter Schüler gewesen sein. Anschließend begann er eine kaufmännische Lehre. Harry Jacob nahm ab 1916 als Soldat beim Infanterie Regiment 73 am Ersten Weltkrieg in Russland und in Frankreich teil. Zeitweise war er als Sanitäter tätig. Zur Überwindung dauernder Müdigkeit erhielt er von einem Stabsarzt Morphium. Da er zu dieser Droge ohne Probleme Zugang hatte, entwickelte sich eine Rauschgiftsucht.

Nach der Entlassung aus dem Wehrdienst im Frühjahr 1919 arbeitete Harry Jacob im Geschäft seines Vaters, wo er diesem 1000 Mark stahl, um sich Morphium kaufen zu können. Zwischen 1920 und 1922 unterzog er sich auf Kosten seines Vaters in Anstalten in Ilten und Langenhagen im Raum Hannover sowie in Göttingen und in Hildesheim mehreren Entziehungskuren, jedoch ohne Erfolg. Daraufhin verwies Harrys Vater seinen Sohn aus der elterlichen Wohnung. Harry Jacob war nun auf sich allein gestellt und beging wiederholt Diebstähle zur Finanzierung seines Rauschgiftkonsums. Bis September 1933 erhielt er insgesamt vierzehn Gefängnis- oder Zuchthausstrafen wegen Beschaffungsdiebstahls. Zwischen den Haftstrafen arbeitete er als Bauarbeiter. Nach seiner letzten Haftentlassung fand er von 1936 bis September 1937 Arbeit zunächst bei der Gartenbaudirektion in Hannover, danach bei der Hoch- und Tiefbaufirma Häntzsche & Klingenhöfer, die Staatsaufträge ausführte. Sie entließ Harry Jacob, weil er "Nichtarier" war. Am 11. November 1937 fuhr Harry Jacob nach Hamburg, weil er fürchtete, wegen eines Diebstahls zu Lasten seines Mitbewohners in Hannover gesucht zu werden. Er übernachtete unter falschem Namen in verschiedenen Hotels am Hauptbahnhof und auf St. Pauli. Die Unterkünfte und das mehrfach von Ärzten verschriebene Morphium finanzierte er durch den Verkauf von Diebesgut. Vom 19. bis 21. November 1937 kam Harry Jacob im Daniel-Wormser-Haus unter, einer jüdischen Hilfseinrichtung für Obdachlose in der damaligen Westerstraße 27 in Hamburg-St. Georg. Kurz darauf, am 29. November 1937, entwendete er einem Dentisten in Eimsbüttel den Mantel, wurde von dem Geschädigten gestellt und in das Polizeigefängnis Hütten eingeliefert. Harry Jacob erklärte auf der Polizeiwache: "Ich habe aus Not gehandelt, da ich seit 2 Tagen nichts gegessen habe."

In einem zur Vorbereitung des Strafprozesses vor dem Hamburger Landgericht eingeholten Gutachten über Harry Jacobs Schuldfähigkeit wird ausgeführt: "Unter Anerkennung einer seit Jahren bestehenden Rauschgiftsucht glaube ich annehmen zu müssen, daß für die hier in Frage stehenden Vorfälle, die in engem Zusammenhange mit der Rauschmittelsucht stehen, die Voraussetzungen des Abs. 2 des § 51 bejaht werden müssen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Rauschgiftsüchtige dem Drange, sich Rauschmittel zu verschaffen, im allgemeinen nicht zu widerstehen vermögen und daß sie unter einem solchen Zwange auch vor verbrecherischen Handlungen nicht zurückschrecken. Ich kann mich aber nicht entschließen, die Voraussetzungen des § 51 zu bejahen, besonders deshalb nicht, weil offenbar das Quantum, das J. an Rauschmitteln in der letzten Zeit genommen hat und das er nicht mehr wie früher intracutan [Injektion unter die Lederhaut], sondern per os [orale Einnahme] nahm, nicht erheblich gewesen ist.

Ich halte die Unterbringung des J. in einer Anstalt für nötig. Ich halte es für am zweckmäßigsten, ihn in einer Entziehungsanstalt unterzubringen. [...] Die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt halte ich [...] nicht für zweckmäßig. Gez. Unterschrift".

Das Amtsgericht Hamburg verurteilte Harry Jacob am 5. April 1938 "wegen fortgesetzten Diebstahls im Rückfall zu 2 (zwei) Jahren Gefängnis. [...] Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird angeordnet." Die Urteils-begründung enthielt die Androhung der Sicherungsverwahrung für den erneuten Rückfall bzw. eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt "wegen einer möglichen geistigen Erkrankung infolge ‚ewigen’ Genusses von Rauschmitteln".

Harry Jacob trat die Haftstrafe am 19. August 1938 an. Er verbüßte sie teilweise in der Strafanstalt Wolfenbüttel und wurde am 30. Juli 1940 aus dem Zuchthaus Fuhlsbüttel entlassen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn teilte der Staatsanwaltschaft Hamburg mit, "Harry Jacob Israel wurde hier am 9. 8. 1940 eingeliefert. Von diesem Tage ab wird die endgültige Unterbringung an Jacob vollstreckt."

Am 6. August 1942 teilte die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn der Oberstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg lapidar mit:
"Harry Jacob wurde am 23. 9. 1940 auf Anordnung des Reichsinnenministers nach Chelm b. Lublin verlegt".

Dieser angeblichen Verlegung war folgendes vorausgegangen: Im Rahmen einer von der "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, geplanten Sonderaktion gegen Jüdinnen und Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten hatte das Reichsinnenministerium angeordnet, solche aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg zum 18. September 1940 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn zusammenzuziehen. Die Langenhorner Anstalt beantragte mit Schreiben vom 18. September 1940 das Einverständnis der Hamburger Staatsanwaltschaft: "Auf Veranlassung des Reichsministers des Innern vom 30. 8. 1940 sollen geisteskranke Juden in eine Sammelanstalt verlegt werden. Für die Verlegung kommen nur Volljuden deutscher oder polnischer Staatsangehörigkeit sowie staatenlose Juden in Frage. Der Abtransport erfolgt am 23. 9. 1940. Für den Transport kommt auch Harry Israel Jacob, geb. 29. 9. 1899 zu Hannover, in Frage. Um Kenntnisnahme und Zustimmung zu dieser Verlegung wird gebeten." Das Einverständnis kam postwendend.

Nachdem alle jüdischen Frauen und Männer aus den norddeutschen Anstalten in Langenhorn eingetroffen waren, wurden sie gemeinsam mit den dort bereits länger lebenden jüdischen Menschen am 23. September 1940 in die sogenannte Landes-Pflegeanstalt nach Brandenburg an der Havel gebracht und am selben Tag in dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses mit Kohlenmonoxid getötet. Zur Verschleierung dieser Mordaktion wurde in Sterbemitteilungen behauptet, dass die Betroffenen in einer Anstalt in Chełm (polnisch) oder Cholm (deutsch) östlich von Lublin verstorben seien.

Es ist nicht bekannt, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Harry Jacobs Tod erhielten. Die in Brandenburg Ermordeten waren nie in Chelm/Cholm. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Harry Jacob wurde auf Beschluss des Amtsgerichts Hannover auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt. Auch seine Mutter Rosalie kam im Holocaust ums Leben. Sie wurde am 15. Dezember 1941 von Hannover nach Riga deportiert. Sein Vater war schon früher gestorben.

Stand: Juli 2019
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht 03886-38 Harry Jacob; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.8.1939 bis 27.1.1941; Niedersächsisches Landesarchiv, Hannover, Nds. 725 Hannover Acc. 103/96 Nr. 236 Todeserklärungsverfahren Harry Jacob; Stadtarchiv Hannover, I 6053-Geburtsregister Nr. 5733/1899 Harry Jacob.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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