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Walter Schulz am Tag seiner Aufnahme in der Jugendhaftanstalt Herford am 7.2.1944
Walter Schulz am Tag seiner Aufnahme in der Jugendhaftanstalt Herford am 7.2.1944
© Landesarchiv Ostwestfalen-Lippe, Detmold

Walter Schulz * 1928

Kegelhofstraße 14 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
WALTER SCHULZ
JG. 1928
VERHAFTET 8.10.1943
GEFÄNGNIS HERFORD
TOT 10.5.1945

Walter Richard Otto Schulz, geb. 18.1.1928 in Hamburg, verhaftet am 8.10.1943, am 6.1.1944 vom Sondergericht beim Hanseatischen Oberlandesgericht verurteilt, am 10.5.1945 im Katholischen Krankenhaus Herford gestorben

Kegelhofstraße 14 (Hamburg-Nord, Eppendorf)

Gegen Ende des vierten Kriegsjahres, am 4. Oktober 1943, gegen 20.30 Uhr - wegen des Verdunkelungsgebotes herrschte Finsternis auf Hamburgs Straßen - überfiel eine Gruppe von fünf Jugendlichen zwei uniformierte Hitlerjungen. Diese verließen gerade das HJ-Bannhaus am Loogeplatz 14/ Eppendorf. Sie gehörten zum Streifendienst der HJ und wollten ihr Revier kontrollieren. Noch ehe sie sich versahen, waren sie mit Fausthieben eingedeckt, gingen zu Boden, und kassierten noch einige heftige Tritte hinterher.

Die fünf Angreifer machten sich davon zu ihrem üblichen Treffpunkt am Röhrenbunker an der Kreuzung Lokstedter Weg/ Tarpenbekstraße. Dort trafen sie andere Jugendliche. Die Stimmung war nach dem gelungenen Blitz-Schlag bestens.
Die versammelten Jungen gehörten den Jahrgängen 1926 bis 1928 an, waren also 15 bis 17 Jahre alt. Sie kamen allesamt aus dem bescheideneren Viertel Eppendorfs zwischen Tarpenbekstraße, Lokstedter Weg, Frickestraße, Niendorfer Straße (der heutigen Geschwister-Scholl-Straße). Ihre Eltern waren Arbeiter und kleine Angestellte, sie selbst Lehrlinge in Industrie oder Handwerk oder gingen einfacher Lohnarbeit nach. Zu ihnen gehörte Walter Schulz, geboren am 18.1.1928, Jungarbeiter. Ihn traf die Rache der NS-Justiz später am härtesten.

Durch den Erfolg gestärkt, versuchten die HJ-Gegner ihren Sieg noch auszubauen. Zunächst mit verstellter Stimme, dann unter Nennung seines vollen Namens und HJ-Dienstranges, rief einer von ihnen, der Schlosserlehrling Karl-Heinz Soost (*24.2.1926), HJ-Oberrottenführer und Mitglied der HJ-Motorradgefolgschaft Nord, von einer Telefonzelle aus im "Bannhaus" an und meldete mit Nachdruck in der Stimme die "Zusammenrottung von grölenden und herumrandalierenden Halbstarken" am Röhrenbunker. Im "Bannhaus" jedoch erkannte man die Falle und schickte einen größeren Trupp kräftiger Burschen los. Die Clique am Röhrenbunker lief auseinander, es kam zu Verfolgungsjagden und vereinzelten Schlägereien in den Straßen, in denen die HJ-Gegner wohnten. Dabei wurde einer von ihnen festgenommen und zunächst ins "Bannhaus" gebracht.

Die Eppendorfer Clique versuchte es auf ähnliche Weise noch einmal in der nächsten Nacht des 5. Oktober. Doch die Polizei war diesmal vorgewarnt, und als einige Beamte anrückten, stoben die Jugendlichen schnell in alle Richtungen davon, so dass die Polizei mit leeren Händen wieder abzog. In den nächsten Tagen jedoch wurden die Unruhestifter einer nach dem andern verhaftet, schließlich waren es ihrer zehn. Einige waren von den HJ-lern erkannt worden, andere hatten im Verhör Namen genannt.
Zwei Gestapo-Männer nahmen Walter Schulz am 10. Oktober in der elterlichen Wohnung in der Kegelhofstraße 14 fest. Die Gestapo war also eingeschaltet. Das ließ nichts Gutes erwarten.

Walters Mutter erinnerte sich nach dem Krieg: "Abgeholt wurde er mit der Bemerkung, er solle nur zu einer Aussage mitkommen und wäre spätestens am Abend wieder bei uns! Den ersten Bescheid seines Aufenthalts erhielt ich, nach langem vergeblichen Suchen, im November aus dem Untersuchungsgefängnis, wo ich ihn dann auch einmal besuchen durfte. Da hatte er am rechten Auge oben eine dicke mit Salbe beschmierte Stelle, desgleichen an der linken Wange, welche stark geschwollen war. Auf Befragen meinerseits nach dem Woher der Wunden konnte er mir nichts antworten, da ja ein Beamter dem Besuch beiwohnte! …"

Doch was hatte die Halbwüchsigen, in der NS-Propaganda die "Garanten der Zukunft", zu ihrer Attacke gegen die HJ, speziell den Streifendienst, bewogen? Sie alle hatten direkte oder indirekte Erfahrungen mit der HJ gesammelt, spätesten seitdem im März 1939 die Mitgliedschaft in HJ bzw. im Bund Deutscher Mädel (BDM) Pflicht geworden war. Wie die heutige Forschung zeigt, weckten der ständige Drill, das stumpfsinnige Herumkommandiert-Werden, die zunehmenden Dienstverpflichtungen im eskalierenden Kriegsverlauf, die immer härteren vormilitärischen Übungen, die Unterdrückung jeder Eigeninitiative im Zusammensein von Jugendlichen, steigenden Widerwillen, ja Hass, auf die Institution HJ und besonders auf den Streifendienst (SRD). Dessen Rolle war im Laufe des Krieges durch eine Reihe von Verordnungen fortwährend gestärkt worden: Der SRD hatte die Aufgabe, das Leben der Jugendlichen außerhalb der HJ zu überwachen, gegen selbstständige Zusammenkünfte vorzugehen – wie hier am Röhrenbunker - und abweichendes Verhalten an die Polizei und die Gestapo zu melden. Der HJ-Streifendienst pflegte engen Kontakt zur Gestapo und auch zur SS, als dessen Nachwuchsreservoir er angesehen wurde. Ein Angriff auf den Streifendienst war somit indirekt ein Stoß gegen eine zentrale Einrichtung des NS-Gewalt-Regimes.

Die Gruppe vom Röhrenbunker war nicht die einzige ihrer Art in Hamburg, vermutlich aber die letzte, die zerschlagen wurde. Gebildet hatten sich seit 1941/42 eine ganze Reihe vergleichbarer Zusammenschlüsse in anderen Stadtvierteln in den bescheideneren sozialen Milieus, so in Eimsbüttel ("Die Pfennigbande"), Barmbek, Altona oder Hoheluft. Es gab sie auch in anderen Großstädten wie München ("Die Blasen"), Leipzig ("Die Meuten"), Krefeld oder Köln, wo sie sich zu den "Edelweißpiraten" rechneten.
Alle Hamburger Gruppen waren entstanden aus geselligen, friedlichen Treffpunkten junger Leute nach Feierabend an einem bestimmten Platz oder einer bestimmten Straßenecke ihres Viertels. Erst durch die andauernden Belästigungen des HJ-Streifendienstes schlossen sie sich fester zusammen und wollten etwas gegen ihre Unterdrückung unternehmen. Politische Ziele im strengen Sinne gab es nicht. Die verschiedenen Gruppen hatten keinen oder kaum Kontakt zueinander, dazu waren sie zu unstrukturiert. Gemeinsam war ihnen: Sie waren noch vor 1933 geboren, ihre Jugendzeit erlebten sie aber in der NS-Zeit. Als Jugendorganisation kannten sie eigentlich nur die HJ oder die ihr gleichgeschalteten Vereine. Alternativen gab es nicht mehr.

Wo sollten die Heranwachsenden in ihrer Wut Orientierung und Halt finden? Die Eppendorfer Jungen stammten nicht aus akademisch gebildeten Elternhäusern, sie konnten sich nicht an Universität oder Hochschule mit Philosophie und politischen Fragen beschäftigen wie etwa die Geschwister Scholl und ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen. Die Anhänger der Hamburger Swing-Jugend wiederum stammten nahezu alle aus wohlsituierten Verhältnissen und konnten es sich leisten, sich in ihrem gepflegten oppositionellen Stil zusammenzufinden, obwohl auch das gefährlich war. Nur wenige Jugendliche, wie der im Alter von 17 Jahren hingerichtete Helmuth Hübener (8.1.1925 - 27.10.1942) (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) entwickelten aus eigener Initiative ihren Widerstand, sie sind höchst beeindruckende Ausnahme-Erscheinungen.

Was die Eppendorfer und auch die anderen Hamburger Jungen – Mädchen waren in solchen Aktionen wie die gegen den HJ-Streifendienst gar nicht vertreten - aber kannten, war die Gewalt. Sie kannten sie aus ihren Familien, der Schule, dem Betrieb, der HJ. Gewalt bestimmte das NS-Gesellschaftssystem ohnehin und der Vernichtungskrieg wirkte auf die deutsche Gesellschaft zurück. Eine, wenn nicht die prägende Erfahrung ihres jungen Lebens war also Gewalt. Wenige Monate vor ihrer Aktion gegen die HJ-Streifen waren im Juni/Juli 1943 weite Teile Hamburgs in Schutt und Asche versunken und zigtausende Menschen verletzt oder umgekommen. Warum sollten sie nicht reinhauen und reintreten in ihrer Wut, vielleicht sogar in ihrer Verzweiflung?

Die NS-Justiz jedenfalls schlug ohne Pardon zu. Alle oben erwähnten Hamburger Gruppen wurden ausgehoben, die Beteiligten zum Teil zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt und einige von ihnen anschließend auf Todeskommandos an die Front geschickt, die sie nicht überlebten. In einer Anweisung des Reichssicherheitshauptamtes vom 25.10.1944 hieß es: "Überwachung und Bekämpfung der Cliquen sind kriegswichtig".

Die zehn Verhafteten vom Röhrenbunker standen nach mehrmonatiger Untersuchungshaft am 6.1.1944 vor dem Sondergericht des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Ihr Verfahren trug das Aktenzeichen 11 Js. P. Sond. 411/43 (38c) Sond. Ger. 253/43. Das "P" zeigte, dass die Attacke auf die HJ-Streife als politisches Delikt galt (im Unterschied zu V/Volksschädling oder W/Wirtschaftsverbrechen). Das Sondergericht machte kurzen Prozess im wahrsten Sinne des Wortes. Die Anklageschrift lag den Beschuldigten erst am Gerichtstag vor. Ein Verteidiger konnte nur mit Zustimmung des Gerichts bestellt werden. Entlastungszeugen durften nicht benannt, Anträge nicht gestellt und Rechtsmittel gegen das Urteil nicht eingelegt werden.

Die Anklage lautete: "Die Angeklagten haben sich auf der Straße zusammengetan, um gemeinschaftlich den Streifendienst der HJ an der Ausübung der ihm nach der Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend obliegenden Kontrolltätigkeit zu hindern. Sie haben dabei Mitglieder des Streifendienstes und HJ.-Angehörige gemeinschaftlich und durch hinterlistigen Überfall, der Angeklagte Schulz auch mittels eines gefährlichen Werkzeuges körperlich mißhandelt … Sie haben damit an einer Verbindung teilgenommen, zu deren Zwecken und Beschäftigungen gehört, Maßnahmen der Verwaltung durch ungesetzliche Mittel zu verhindern …"

Das klang nach Staatsgefährdung. Walter Schulz wurde neben Günther Pehlcke (*18.4.1926) und Karl-Heinz Soost (*24.2.1927) außerdem als "Stifter und Vorsteher" der "Vereinigung" eingestuft. Mit dem "gefährlichen Werkzeug", mit dem Schulz darüber hinaus die Streifen-HJler misshandelt haben sollte, waren die Metallbeschläge an den Absätzen der Schuhe gemeint, die damals üblich waren, um die Sohlen vor der Abnutzung zu schützen.

Walter, gerade 16 Jahre alt geworden, traf es besonders hart: Jugendgefängnis auf unbestimmte Dauer, mindestens aber auf ein Jahr und drei Monate. Wann er wieder entlassen würde, hing damit vom Wohlwollen der Gefängnisbeamten und der Jugendbehörde ab. Zusätzlich wurde bestimmt: "Bei Entlassung Rückführung an die Gestapo". Belastend für Walter wirkte sich auch der Vorwurf aus, er habe sich im Dezember 1942 vier- bis fünfmal in einem Lager für polnische Zwangsarbeiterinnen aufgehalten und Kontakt zu einer von ihnen aufgenommen, was Walter zugab.
Etwas weniger schlimm traf es Günther Pehlcke: Gefängnis auf unbestimmte Dauer, mindestens aber ein Jahr. Die Strafen der anderen lagen zwischen sechs und zwei Monaten Gefängnis und vier Wochen Jugendarrest. Günthers Bruder Bruno Pehlcke (*1913), der an den nächtlichen Aktionen nicht beteiligt gewesen war, wurde wegen Beihilfe zu schwerer Körperverletzung zu 1 ½ Jahren Gefängnis verurteilt, da er "die jugendlichen Angeklagten zu ihren Tätlichkeiten aufgehetzt" habe.

Walter wurde am 7. Februar 1944 aus dem Untersuchungsgefängnis Hamburg in das Jugendgefängnis Herford verlegt, ebenso Günther Pehlcke. Für Walter Schulz hätte die Mindesthaftstrafe am 4.1.1945 geendet, für Günther am 8.10.1944.
Die Jugendgefängnisse in der NS-Zeit sind mit den heutigen kaum zu vergleichen: Sie, auch das in Herford, hatten nach 1933 mehr und mehr den Charakter von Zuchthäusern angenommen.

Was ist aus Walter Richard Otto Schulz‘ Leben aus der Zeit vor der Verurteilung bekannt? Er wurde – wie erwähnt - am 18.1.1928 als Sohn des Kraftfahrers Richard Otto Schulz (*12.2.1896 in Rathenow/ Westhavelland) und Martha Augusta Schulz, geb. Schlobohm (*13.10.1907 in Hamburg), geboren und hatte drei jüngere Geschwister: Anneliese Martha (*30.3.1931), Harry (*11.9.1932) und Renate Emmy Schulz (*27.6.1940). Die Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen, bis 1940/41 in der Niendorfer Straße 56/ Eppendorf (heute: Geschwister-Scholl-Straße), dann in der Souterrain-Wohnung Kegelhofstraße 14.

1934 war Walter in die Volksschule für Knaben in der Erikastraße (im Straßenabschnitt, der später in "Schottmüllerstraße" umbenannt wurde) eingeschult worden. Hier blieb er nicht lange, weil er Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Schreiben hatte, so dass ihn die Behörde an die "Hilfsschule" an der Opitzstraße (Winterhude) verwies. Walter musste nun allein einen weiten Schulweg zurücklegen, vor allem aber bedeutete dies, dass er als Hilfsschüler abgestempelt war. Dokumente in seiner Akte weisen darauf hin, dass es im Jugendamt Überlegungen gab, ihn zu sterilisieren. Das geschah im NS-Regime mit Hilfsschülern nicht selten.

Nach dem Abschluss der Hilfsschule im achten Schuljahr (1942) fand Walter zwar einen Arbeitsplatz in einer Autowerkstatt, aber aus seinem Wunsch, eine Autoschlosserlehre machen zu dürfen, wurde nichts: Dazu reichte das Hilfsschulzeugnis nicht. Nach 1 ½ Jahren in der Autowerkstatt, im Herbst 1943, "bekam ich" – so schreibt er in seinem Lebenslauf vom 7.2.1944 - "die Papiere zurück, da ich mich mit meinem Chef nicht verstand."
Er fand anschließend eine Beschäftigung als sogenannter Jungarbeiter in einer Gewürzgroßhandlung. Hier blieb er bis zu seiner Verhaftung.

Walter Schulz, so gab er später im Herforder Personalfragebogen an, war zwar am 14.3.1938 beim "Jungvolk" der HJ registriert worden, er sei jedoch nie zu den Treffen der "Pimpfe" gegangen, auch weil die Eltern sich weigerten, ihm eine Uniform zu kaufen. Erst während seiner Arbeit in der Autowerkstatt habe die HJ ihn und seinen Chef derart bedrängt, dass er sich freiwillig zum Schnellkommando der Feuerwehr gemeldet habe. Er gehörte damit zur HJ-Feuerwehrschar und hatte es leichter, die übrigen Dienstverpflichtungen zu umgehen. Die sog. Schnellkommandos, die im Verlaufe des Krieges eingerichtet wurden, hatten die Aufgabe, für "die schnelle und intensive Bekämpfung von Stabbrandbomben in ihrer Entwicklung" zu sorgen. 1943 bestand in Hamburg ein solches Kommando in der Regel aus zwei Polizisten und drei Hitlerjungen unter 16 Jahren. Zur technischen Ausstattung gehörten schwere Personenkraftwagen mit Anhänger, Sandeimern, Schaufeln und Kübelspritzen. Der Dienst war für die im Schnellkurs trainierten Halbwüchsigen höchst gefährlich. Viele kamen ums Leben, andere wurden schwer verletzt. Walter jedoch hatte seine Einsätze unversehrt überlebt. Am 25.5.1944 wurde er wegen seiner Straftat aus der HJ ausgeschlossen.

Für Walter Schulz begann in der Jugendstrafanstalt eine Leidenszeit. Ganz gleich, ob in der Schreinerei oder der Sattlerei: In den Augen seiner Aufseher arbeitete er zu langsam, zu ungeschickt, zu widerwillig. Er sei verstockt und halte seine Sachen in der Zelle nicht in gebührender Ordnung. Seine Beobachtungsbogen sind über Monate hinweg voll von diesen negativen Eintragungen. Es blieb nicht bei Vermerken. Verzeichnet ist eine lange Reihe von immer wieder verhängten Strafen: Arreste zwischen einer und vier Wochen, mehrmals wird "Sondersport" genannt, wiederholt die Verlegung in eine andere Zelle.

Was die Sanktionen 1944/45 in Herford konkret bedeuteten, konnte bislang nicht zweifelsfrei erkundet werden: Die Dokumente der JVA Herford zu diesem Themenbereich sind nicht erhalten. Mit Sicherheit zählte in jenen Jahren der NS-Strafpraxis zum Arrest die Einzelhaft in einer engen, kahlen, kalten Zelle bei Wasser und Brot, harter Pritsche ohne Matratze, Hofsperre, Isolation. Der "Sondersport" bedeutete vermutlich Schinderei. Die Strafen zielten darauf ab, den Häftling zu vereinzeln, die Entstehung von Beziehungen zu verhindern, seinen Willen zu brechen.

Belastend für Walter Schulz war sicher auch die Unsicherheit, ob er jemals wieder freikommen würde. Am 16.3.1944 versuchte er sich zu erhängen. Das misslang. Die Quittung waren sieben Tage Arrest. Wenige Tage später, am 26.3., wollte er mit Hilfe eines Mitgefangenen ausbrechen. Auch das schlug fehl. Die Strafe folgte sofort: drei Wochen Arrest. Nicht vermerkt in den Akten sind die - offiziell verbotenen - Prügel, die die verärgerten Wärter für Fluchtversuche regelmäßig verabreichten.
Erst Ende des Jahres 1944 finden sich positivere Eintragungen in der Akte. Vielleicht lag dies an einer milderen Haltung einzelner Vollzugsbeamter gegenüber dem immer stärker kränkelnden Gefangenen.

Der ebenfalls in Herford inhaftierte Günther Pehlcke kam besser zurecht. Er verhielt sich dort wunschgemäß, kassierte keine zusätzlichen Sanktionen und wurde nach dem Verbüßen seiner Mindeststrafe von einem Jahr auf den Tag genau am 4.10.1944 entlassen – und zur Luftwaffe eingezogen.
Walters Mindeststrafe von einem Jahr und drei Monaten wäre – wie erwähnt - am 4.1.1945 abgelaufen. Er kam dennoch nicht frei, denn am 30. Dezember 1944 hatte das Landesjugendamt Hamburg/ Eppendorf dem Gefängnis mitgeteilt: "Höhere Gesichtspunkte gehen dem W. Sch. bei seiner Primitivität ab. Er muss deshalb noch länger im Strafvollzug bleiben, damit er nicht draußen erneut versagt. An eine Entlassung ist daher vorerst nicht zu denken."

Am 2.4.1945 rückten US-amerikanische Truppen in Herford ein. Eine Abordnung prüfte kurz die Anträge der Gefangenen auf Entlassung und genehmigte einige. Walter kam nicht frei, obwohl er kein faires Gerichtsverfahren gehabt und die Mindeststrafe bereits abgesessen hatte. Die Begründung: Es habe sich um eine Schlägerei unter Jugendlichen gehandelt. Damit wurde das Urteil des NS-Sondergerichts de facto als rechtens anerkannt.

Am 4. April 1945 versuchten Walter und drei Mithäftlinge bei der Feldarbeit in einer Außenstelle des Gefängnisses zu flüchten, als gerade ein amerikanischer Militärkonvoi vorbeifuhr und ihnen die Gelegenheit günstig schien. Doch wurden die Vier von den Aufsehern eingeholt und nach Herford zurückgebracht. Verzeichnet sind als Strafe zehn Tage Arrest.

Bei der Aufnahme in Herford am 7.2.1944 hatte Walter bei 178 cm Größe noch 63 Kilogramm (kg) gewogen. (Als Sollgewicht sind in der ärztlichen Begutachtung 68 kg genannt.) Am 25.5. waren es 60 kg, am 8.10. noch 58 kg, am 11.2.45 dann 56,5 kg.
Seit Anfang Mai 1945 klagte Walter über zunehmende Magenschmerzen. Am 9. Mai – einen Tag nach der Kapitulation Deutschlands – wurde er wegen "Magenkatarrh" (Magenschleimhautentzündung) in das Katholische Krankenhaus Herford verlegt. Dort starb er am nächsten Tag, dem 10.5.1945, im Alter von 17 Jahren und vier Monaten, laut Bescheid des Krankenhauses an das Gefängnis an "Grippe mit Magen- und Darmbeteiligung und Herzschwäche". Als weiter zurückliegender Grund wurde eine Scharlacherkrankung in der Kindheit für möglich gehalten.
Eine Autopsie zur Klärung der Todesursache fand nicht statt. Walter Schulz wurde auf dem Friedhof "Zum ewigen Frieden" in Herford beigesetzt.

Aus dem Gefangenenbuch geht hervor, dass Walter Schulz während seiner 16 monatigen Haft in Herford nur einmal private Post bekam, von einem Freund aus Eppendorf. Und: Er erhielt nur ein einziges Mal Besuch: Am 8.6.1944, also nach vier Monaten Haft, sah er seine Mutter für eine gute Stunde unter den Augen eines Wachtmeisters. Zu weiteren Besuchen kam es trotz mehrerer Versuche ihrerseits nicht, die - so sagte sie später - wegen der zunehmenden Kriegswirren 1944 und der gestörten Zugverbindungen gescheitert seien.

Stand: November 2022
© Johannes Grossmann

Landesarchiv Ostwestfalen-Lippe, OWL_ D22_ Herford_ Nr.4725 (Schulz, Walter), darin auch das Urteil des Hanseatischen Sondergerichts plus Begründung (11 Js P. Sond. 411/43 (38c) Sond. Ger. 253/43); ebd. OWL_D22_Herford_Nr.4711 (Pehlcke, Günther); StaH 351-11_18225 (Schulz, Martha Auguste); StaH 351-11_18224 (Schulz, Richard Otto); StaH 351-11_48107 (Pehlcke, Günther); StaH 351-11_48346 (Soost, Karl-Heinz); StaH 351-11_48934 (Kraatz, Hans-Heinrich Karl); Archiv Gedenkstätte KZ Neuengamme, Aktenbestand des Komitees ehemaliger politischer Gefangener" (VVN-BdA, Landesvereinigung Hamburg); StaH332-5_9570 (Heiratsurkunde Schulz, Richard Otto); Klönne, Arthur: Jugend im "Dritten Reich"/ Die Hitlerjugend und ihre Gegner, Köln 2020; Matthias von Hellfeld/Arno Klönne: Die betrogene Generation/Jugend im Faschismus, Frankfurt/Main 1987; Kater, Michael H.: Hitler-Jugend, Darmstadt 2005; Böge, Volker: Jugendliches Aufbegehren im Krieg – die Eimsbütteler "Pfennigbande", in: Ulrike Jureit/Beate Meyer (Hrsg.): Verletzungen. Lebensgeschichtliche Verarbeitung von Kriegserfahrungen, Hamburg 1995; Diercks, Herbert: Wege Hamburger Jugendlicher in den Widerstand 1933 bis 1945, in: Zwischen Verfolgung und "Volksgemeinschaft"/Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Heft 01/ 2020, Göttingen 2020; Knaack, Kirsten: Die Hilfsschule im Nationalsozialismus, Examensarbeit im Fach Lernbehindertenpädagogik, Universität Hamburg, Juli 2001; Bozyakali, Can: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht, Frankfurt 2005; Wachsmann, Nikolaus: Gefangen unter Hitler/Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2004; Brunswig, Hans: Feuersturm über Hamburg/Die Luftangriffe auf Hamburg, Hamburg 1985; Jahnel/Waldmann: 125 Jahre JVA Herford, Herford 2008.

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