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Hans Emil Bajohr * 1890

Geschwister-Scholl-Straße 64 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
HANS EMIL BAJOHR
JG 1890
VERHAFTET 19.2.1944
"VORBEREITUNG HOCHVERRAT"
GEFÄNGNIS FUHLSBÜTTEL
NEUENGAMME
ERMORDET APRIL 1945

Hans Emil Bajohr, geb. am 7.7.1890 in Rostock, von der Gestapo am 19.2.1944 verhaftet, vom Polizeigefängnis Fuhlsbüttel am 20.4.1945 in das KZ Neuengamme überstellt und dort zwischen dem 22.4. und 24.4.1945 ermordet

Geschwister-Scholl-Straße 64 (Niendorfer Straße 68-70)

Unter den 71 "Schutzhäftlingen" der Hamburger Gestapo, die in den Nächten vom 22. zum 24. April 1945 im Arrestbunker des KZ Neuengamme stranguliert, erschlagen, von Handgranaten zerfetzt oder mit Kopfschuss getötet wurden, befand sich auch Hans Emil Bajohr.

Sein Leben ist nur bruchstückhaft dokumentiert, doch sicher ist: Er kam aus sehr beengten Verhältnissen, sein Leben war unstet und prekär, er lud auch Schuld auf sich. Seine Mutter, Auguste Anna Henriette Bajohr, als uneheliches Kind 1858 geboren in dem Dörfchen Laschnicken im damaligen Ostpreußen, arbeitete als Dienstmädchen in Stubbendorf, einem Gutshof in der Nähe von Rostock/Mecklenburg. Hans Emil kam am 7.7.1890 in der Hebammen-Lehranstalt Rostock zur Welt. Den Namen des Vaters nannte die Mutter nicht.

Wo Hans Emil die Kinderzeit verbrachte, ist nicht bekannt. Nach seinen eigenen Angaben bei verschiedenen Behörden hat er vorübergehend die Bürgerschule in Gnoien besucht, einer Kleinstadt im Landkreis Rostock, und sich anschließend in der Region als Hausknecht verdingt. Noch im Jugendalter zog er nach Hamburg und arbeitete zunächst für eineinhalb Jahre in einer Bleicherei, dann im Straßenbau. Danach, so seine Auskünfte, sei er einige Jahre auf Wanderschaft durch Holland und Belgien gewesen und habe von Gelegenheitsarbeiten gelebt. Es folgte ein Jahr zur See als Decks- und Küchenjunge.

1913, inzwischen 23 Jahre alt, kehrte er nach Deutschland zurück. 1914, zu Beginn des Weltkrieges, wurde er zum Militär eingezogen und dem Großherzoglich Mecklenburgischen Füsilier-Regiment Kaiser Wilhelm Nr. 90 mit Standort Rostock zugeteilt. Das Regiment war Teil der 34. Infanterie-Brigade, die während des gesamten Krieges an der Westfront eingesetzt war und an den schwersten Kämpfen in Belgien und Frankreich teilnahm, unter anderen an der Somme-Schlacht (1. Juli bis 18. November 1916, mit über einer Million Toter und Verwundeter auf beiden Seiten). Nach Hans Emil Bajohrs Angaben in einem Fragebogen vom 17.11.1941 wurde er 1919 im Range eines Sergeanten entlassen, dekoriert mit dem EK II, dem Mecklenburgischen Verdienstkreuz und dem Verwundetenabzeichen in Silber. Er war nun 29 Jahre alt.

Wieder in Hamburg, lernte er Adela Selwinder kennen, geb. am 16.4.1900 in Suwalki, im heutigen Ostpolen nahe den Grenzen zu Litauen und Weiß-Russland gelegen. (Von 1815 bis 1919 gehörte Adeles Geburtsort zum russischen Zarenreich.) Die beiden heirateten. Da Adele während des Krieges den Kontakt zu ihren Eltern in Polen verloren hatte, machte sich das Paar auf die Suche und kam so durch das zwischen Polen und der jungen Sowjetunion umkämpfte Weiß-Russland, nach Russland, in die Ukraine und bis Turkmenistan. Sie schlugen sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft durch. Adeles Eltern fanden sie nicht. 1922 kehrten sie nach Deutschland zurück.

Weitere Stationen Bajohrs, unterbrochen von kürzeren und längeren Zeiten der Arbeitslosigkeit, waren: Bochum (1923); mehrere Monate als Bauarbeiter beim Wiederaufbau in der Champagne; zurück in das Ruhrgebiet (Essen), dann wieder nach Hamburg mit Gelegenheitsjobs, zunächst bis 1935. Nach seiner eigenen Rechnung war er von 1922 bis 1935 insgesamt acht Jahre arbeitslos.

In diesen äußerst schwierigen Zeiten hatte Adele Bajohr 1923 in Bochum und 1930 in Hamburg zwei Töchter geboren. Die Familie lebte äußerst beengt in der Niendorfer Straße 68-70 in Eppendorf, heute Geschwister-Scholl-Straße. (Das Haus steht nicht mehr, es wurde mit anderen in den 1950er Jahren abgerissen, in der Nummerierung ist hier eine größere Lücke. Der Stolperstein liegt daher vor dem Haus Nr. 64.)

Hans Emil Bajohr hielt es auch jetzt am selben Ort nicht länger aus. Er verließ die Familie 1935, angeblich, wie Adele später zu Protokoll gab, um in die USA zu emigrieren und eine bessere Zukunft zu finden. In Wirklichkeit heuerte er auf einem spanischen Schiff an. Er befand sich gerade in Spanien an Land, als im Juni 1936 dort der Bürgerkrieg begann. Es folgten: Eintritt in die Internationalen Brigaden; Verwundung; Rückzug nach Frankreich; dort Internierung bei Kriegsausbruch im September 1939; Aufnahme in die Fremdenlegion; Einsatz in Nord-Afrika, dort bis September 1941; Rückkehr nach Deutschland am 10.9.1941, auf welchen Wegen ist unbekannt. Er fand Unterkunft bei der Familie in der Niendorfer Straße. Er war nun 51 Jahre alt, Adele Bajohr war 41. Doch die familiäre Situation hatte sich entscheidend verändert: Adele hatte sich 1939 von ihm scheiden lassen, vier Jahre, nachdem er die Familie verlassen hatte, sie hatte sich wieder verheiratet und trug einen neuen Namen.

Bereits drei Tage nach seiner Rückkehr, am 13. September, wurde Hans Emil von der Gestapo, Abteilung IVA1 ("Kommunismus"), verhaftet. Wer ihn denunzierte, wissen wir nicht. Wiederum einige Tage später erschien Adele in der Gestapozentrale an der Stadthausbrücke und beschuldigte den Ex-Gatten, vor seinem Verschwinden im Jahre 1935 die damals zwölfjährige Tochter wiederholt sexuell missbraucht zu haben, wenn sie selbst, Adele, zur Arbeit gegangen war. Er sei außerdem arbeitsscheu und habe die Erwerbslosenunterstützung vertrunken.

Das Verhängnis nahm nun seinen Lauf und Hans Emil Bajohr kam, von wenigen Wochen abgesehen, bis zu seinem schrecklichen Ende nicht mehr aus den Fängen der Verfolger: Gestapo, Kripo, Justiz und schließlich die Mörder der Waffen-SS im KZ Neuengamme. Die Gestapo weitete die Verhöre über die Aktivitäten in Spanien hinaus auf "Blutschande" aus. Wir wissen nicht, ob der Vorwurf zutraf, und wir wissen nicht, mit welchen Mitteln das Teilgeständnis, das er dazu ablegte, zustande gekommen war. Auch die politischen Vorwürfe gab er zu: Ja, er sei bei den Internationalen Brigaden gewesen, jedoch hineingezwungen worden. Der Gestapo-Sachgebietsleiter "Kommunismus", Kriminaloberinspektor Fritz Knuth, meldete den Vorwurf "Rotspanien" und "Vorbereitung zum Hochverrat" an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin und an die Hochverratsabteilung der Staatsanwaltschaft Hamburg. Von hier wurde das Verfahren weitergereicht an die Generalstaatsanwaltschaft beim Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG). Diese übergab es am 14.12.1941 dem Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof (VGH) in Berlin, der die Angelegenheit jedoch nicht weiter verfolgte, vielleicht, weil die Strafjustiz dem Vorwurf der "Blutschande" weiter nachging.

Die Informationen dazu hatte die Gestapo der Kriminalpolizei weiter gemeldet. Zum 10. November 1941 wurde Adele hier vorgeladen, sie wiederholte die Bezichtigungen. Am 17. November sagte Hans Emil, der weiterhin "Schutzhäftling" der Gestapo war, vor der Staatsanwaltschaft beim Landgericht aus. Am 6. Dezember kam er in Untersuchungshaft. Die Gestapo forderte von der Justiz, dass er ihr nach einer etwaigen Entlassung wieder überstellt werden sollte. Das Landgericht entsprach dem Anliegen, wie sich später zeigte.

Die Recherchen der Staatsanwaltschaft zur Biographie Hans Emil Bajohrs, die nun folgten, brachten einige Straftaten aus früheren Jahren zum Vorschein, die seine Situation weiter verdüsterten: 1933, bereits in der NS-Zeit, war er zusammen mit zwei Komplizen in eine dilettantisch aufgezogene Nötigungs- und Erpressungsgeschichte geraten und rasch aufgeflogen. (Ein Arzt sollte bezahlen, weil er gefälschte Impfscheine ausgestellt habe.) Bajohr erhielt eine Strafe von vier Monaten Gefängnis. Wegen Nötigung war er schon im Jahre 1923 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden, weitere kleinere Delikte wie Beleidigung (1926) und Widerstand gegen die Staatsgewalt (1927) kamen hinzu.

Am 30. Januar 1942, um 11.15 Uhr, verkündete die Strafkammer 2 des Landgerichts das Urteil: zwei Jahre Zuchthaus, beginnend am 30.1.1942, 15.00 Uhr, und er musste die Kosten des Verfahrens tragen. Die erlittene Untersuchungshaft vom 6.12.1941 bis zum 30.1.1942 wurde angerechnet. Als Strafende war der 6.12.1943 angesetzt.

Hans Emil Bajohr kam zunächst in das Zuchthaus Bremen-Oslebshausen, am 16. März 1942 zurück nach Hamburg in das Zuchthaus Fuhlsbüttel. Nach dem Luftangriff auf Hamburg in der Nacht des 3. August 1943, dem siebten und letzten Großangriff des Unternehmens "Gomorrha", wurde er, wie auch andere Gefangene, für zwei Monate aus der Haft beurlaubt.
Sinn dieser Maßnahme war, die durch die Bombardierungen beeinträchtigten Gefängnisse erst einmal zu entlasten und Schäden zu beheben. Die Beurlaubten erhielten u.a. die Auflage, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden und pünktlich und unaufgefordert zum gesetzten Termin zurückzukehren. Viele der "Bombenurlauber" – so wurden sie umgangssprachlich genannt – tauchten unter und retteten damit ihr Leben. (Bekannt geworden sind Beispiele des erfolgreichen Versteckens von Mitgliedern der Widerstandsgruppe Jacob-Bästlein-Abshagen bei Freunden und Genossen.)
Auch Hans Emil Bajohr versuchte sich einer Wiederverhaftung zu entziehen. Das misslang ihm. Er hatte sich, vermutlich da er nichts Besseres gefunden hatte, im Hanseatischen Kettenwerk (Hake) in Langenhorn unter seinem richtigen Namen Arbeit besorgt und wohnte in der Gemeinschaftsunterkunft des Betriebs. Seit dem 3. September suchte die Polizei nach ihm, am 20. Oktober – der Hafturlaub war längst abgelaufen – wurde er verhaftet und in das Zuchthaus Fuhlsbüttel zurückgebracht. Als neues Haftende wurde der 19. Februar 1944, 15.00 Uhr, festgesetzt. Bei diesem Termin blieb es.

Am 25. Januar 1944 kam er, wegen der Folgen eines nun schon länger zurückliegenden Unfalls im Hake-Werk, der ihm aber noch immer Probleme machte, ins Lazarett des Untersuchungsgefängnisses. Von dort wurde er, pünktlich mit dem Ende der verhängten Zuchthausstrafe, am 19. Februar um 15 Uhr entlassen und im selben Augenblick der Gestapo übergeben, wie diese am 6. Dezember 1941 von der Justizverwaltung verlangt hatte.

Wieder "Schutzhäftling" der Gestapo, wurde er nach Fuhlsbüttel gebracht, nun in das Polizeigefängnis. Hier blieb er, ohne irgendeine Anklage oder ein Gerichtsverfahren, als Häftling der Geheimen Staatspolizei, inhaftiert für weitere 14 Monate, bis er am 20. April 1945 zusammen mit 70 anderen Personen auf Lastwagen in das Konzentrationslager Neuengamme geschafft wurde. Sie alle standen auf der sogenannten Liquidationsliste von Gestapo und Hamburger SS-Führung. Angeblich waren sie "für den nationalsozialistischen Staat besonders gefährliche Personen, die unbedingt zu liquidieren sind". In den Nächten vom 22. zum 24. April wurden sie, 58 Männer und 13 Frauen, im Arrestbunker des Konzentrationslagers ermordet.

Welche ungeheure Gefahr aber von Hans Emil Bajohr ausgegangen sein soll, der zweifellos Schuld auf sich geladen hatte, ein recht unstetes Leben geführt und vor Jahren eine Zeit lang auf Seiten der Linken am Bürgerkrieg in Spanien teilgenommen hatte, ist kaum nachzuvollziehen. Wie bei einigen anderen, die bei dem Massaker im Arrestbunker von Neuengamme ermordet wurden, trifft vermutlich auch bei Hans Emil Bajohr zu, dass sich die Gestapo-Männer kurz vor dem Ende der NS-Herrschaft noch einmal selbst beweisen wollten, dass sie noch immer die Macht besaßen, jeden zu beseitigen, der ihnen missfiel.

Stand: Juni 2020
© Johannes Grossmann

Quellen: Eine ausführliche Darstellung der Vorgeschichte der Ermordung der 71 "Schutzhäftlinge" und des Geschehens selbst ist zu finden auf www.stolpersteine-hamburg.de/ Dokumentationen/Die letzten Toten von Neuengamme sowie ebenda im Glossar/KZ Neuengamme. Auf www.stolperstein-hamburg.de liegen Biographien der Ermordeten vor, zuletzt u.a. zu Hans Vincent Scharlach und Heinrich Schröder; StaH 351-11 AfW 45871 (Bajohr, Hans Emil); StaH 213-11_2165/42 (Staatsanwaltschaft Landgericht-Strafsachen1908 – 2009, Laufzeit 1941 – 1944, Bajohr, H.E.); StaH 213-9_126 (Generalstaatsanwalt Oberlandesgericht-Strafsachen, 1933-1945, Bajohr. H.E.); StaH 213-11_ 2849 (Staatsanwaltschaft Landgericht/Strafsachen, Bajohr); Standesamt Rostock A Nr. 660/1890, Geburtsregister (Bajohr, Hans Emil); https://de.wikipedia.org/wiki/Großherzoglich_Mecklenburgisches_Füsilier-Regiment_"Kaiser_Wilhelm"_ Nr._90 (Zugriff 15.4.2020); https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_an_der_ Somme (Zugriff 15.4.2020); Diercks, Herbert: Gedenkbuch "Kola-Fu", Hamburg 1987; Diercks, Herbert: Dokumentation Stadthaus/Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus, Hamburg 2012; Brunswig, Hans: Feuersturm über Hamburg, Stuttgart 1985, S.261 ff; Hochmuth, Ursula/Meyer, Getrud: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, Frankfurt 1980, S. 370 ff., Meyer, Gertrud: Nacht über Hamburg, Frankfurt 1971, S. 103 ff.

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