Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Irma Chassel (geborene Weiss) * 1878

Isestraße 69 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1941 Lodz
ermordet am 30.6.1943

Weitere Stolpersteine in Isestraße 69:
Liesel Abrahamsohn, Johanna Adelheim, Henry Blum, Rosalie Blum, Louis Böhm, Gertrud Böhm, Bertha Brach, Hillel Chassel, Michael Frankenthal, Erna Gottlieb, Ella Hattendorf, Frieda Holländer, Gertrud Holländer, Henriette Leuschner, Elfriede Löpert, Helene Löpert, Walter Löpert, Ella Marcus, Ernst Maren, Josephine Rosenbaum, Günther Satz, Selma Satz, Else Schattschneider, Gottfried Wolff, Lydia Wolff

Irma Chassel, geb. 4.1.1878 in Hamburg, am 25.10.1941 deportiert nach Lodz, gestorben am 30.6.1943
Hillel, gen. Henry, Chassel, geb. 28.1.1876 in Brody, am 25.10.1941 deportiert nach Lodz, gestorben am 14.7.1943

Henry Chassel wurde 1876 in Galizien geboren und kam 1891, nach Abschluss der Schulausbildung, nach Hamburg. Seine Mutter war 1880 in Brody gestorben, sein Vater 1890 nach Hamburg gezogen. Zunächst arbeitete Hillel, der sich später Henry nannte, in einer Speditionsfirma, seit 1906 war er hauptamtlich im Hilfsverein der Juden in Deutschland beschäftigt, zuletzt als Geschäftsführer. Von 1936 bis 1941 war er Vorstandsmitglied der Zentrale des Hilfsvereins.

Henry Chassel heiratete Irma Weiss, Tochter des Rabbiners Heinrich Weiss und der Schriftstellerin Karoline Weiss. Das Ehepaar bekam zwischen 1901 und 1911 vier Kinder. Eine Tochter, Harriet, starb 1928 im Alter von 21 Jahren. Die anderen Kinder überlebten die Schoah: Alice, die älteste Tochter, wurde Kinderärztin. Sie wanderte im April 1939 mit ihrem Mann und zwei Kindern in die USA aus, die jüngere Schwester Ruth und ihr Bruder Heinz gelangten schon früh nach Palästina und gründeten dort eigene Familien.

1926 erhielt Henry Chassel die deutsche Staatsbürgerschaft, nachdem er sich 20 Jahre zuvor vergeblich darum bemüht hatte. Das Verfahren nahm ein ganzes Jahr in Anspruch und verlief nicht reibungslos. Henry Chassel begründete seinen Antrag damit, dass er seit 1891 "im Inland" lebe und auch ständig bleiben wolle. Seine drei minderjährigen Kinder waren in den Antrag eingeschlossen. Für seine volljährige Tochter Alice musste ein eigener Antrag gestellt werden. Die Anträge wurden gleichzeitig mit dem für Jakob Ambor (siehe Isestraße 61) bearbeitet.

Als Staatsbürgerschaft gab Henry Chassel "österreichisch" an, unter der Rubrik Nationalität bezeichnete er sich als "Jude". Obwohl die Hamburger Polizeibehörde ihm ein ausgezeichnetes Zeugnis ausstellte und bescheinigte, dass die "getreue Erfüllung der bürgerlichen Pflichten erwartet werden" könne, gab es Einwände von Seiten der Senatskommission für Reichs- und auswärtige Angelegenheiten in Lübeck. Da nach § 9 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes die Einbürgerung erst erfolgen konnte, wenn kein Bundesstaat Einwendungen erhob, kann man vermuten, dass sich Hamburg mit Lübeck abstimmen wollte, bevor es den Antrag weiterleitete.

In der Lübecker Stellungnahme wird eine antisemitische Grundhaltung deutlich, die zeigt, wie der Boden für spätere Verfolgungen bereits vorbereitet war. Darin hieß es über Jakob Ambor und sollte "sinngemäß auch für Hillel Chassel" gelten, er sei "jüdischer Abstammung und erst in einem Lebensalter ins Inland gekommen, in dem Erziehung und Ausbildung längst abgeschlossen waren und in dem im allgemeinen eine Anpassung an fremdes Wesen durch die Individualität des Antragsstellers erschwert wird ... Er hält sich zwar schon 29 Jahre im Inlande auf. Daraus kann jedoch nicht ohne weiteres auf eine hinreichende Anpassung an die deutsche Eigenart geschlossen werden soweit solche im Hinblick auf seine Abstammung überhaupt möglich ist …"

Für Alice Chassel trafen die Einwendungen "in vermindertem Maße zu". Aber: " Auch hier werden die Bedenken erhoben, um eine allmähliche Durchdringung der deutschen Kultur mit wesensfremden, die Aufrechterhaltung der deutschen Eigenart schädlichen Elementen zu verhüten".

Das Verfahren kam ans Reichsministerium des Inneren in Berlin und sollte dem Reichsrat zur Entscheidung vorgelegt werden, ein vom Gesetz vorgesehenes Verfahren, wenn ein Mitglied, hier also offenbar die Hansestadt Lübeck, Bedenken erhob. In Berlin fiel die Beurteilung anders aus. Der Sachbearbeiter schrieb: "Nach den mir vom Senat in Hamburg übersandten Unterlagen (…) lebt Hillel Chassel seit Juni 1891 ununterbrochen in Hamburg. Er ist seit 1906 als Sekretär des Hilfsvereins deutscher Juden … tätig. Seine wirtschaftliche Lage ist gesichert. Nachteiliges ist über ihn nicht bekannt geworden. Daraus, daß er seit fast 20 Jahren erfolgreich in der gemeinnützigen Auswandererfürsorge tätig ist, geht vielmehr hervor, daß er die Achtung und das Vertrauen der Hamburger Bürger jüdischen Glaubens genießt … Der Reichsrat hat bisher in einer Reihe ähnlich liegender Fälle … die Einbürgerung für zulässig erklärt. Aller Voraussicht nach wird er daher auch die Einbürgerung des Hillel Chassel für zulässig erklären. Auch hinsichtlich der Tochter Alice Chassel ist eine andere Entscheidung des Reichsrats kaum zu erwarten; sie ist in Hamburg geboren, lebt bei einwandfreier Führung seit ihrer Geburt in Deutschland und hat deutsche Schulen besucht."

Der Hamburger Senat, der offenbar die Begründung aus Lübeck übernommen hatte, gab klein bei: "In der Einbürgerungssache des Sekretärs Hillel Chassel und seiner Tochter Alice wird ergebenst mitgeteilt, daß der Senat sich nach erneuter Prüfung der Verhältnisse entschlossen hat, die Bedenken gegen die Einbürgerung fallen zu lassen. Der Herr Reichsminister des Inneren hat gleichfalls Mitteilung erhalten."

Am 6. Mai 1926 wurde die Einbürgerung gegen Zahlung einer Gebühr von 200 RM genehmigt.

Als nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 die Frage aufkam, ob man Henry Chassel als "Ostjuden" die Staatsbürgerschaft aberkennen solle, empfahl der Polizeiherr, man möge es bei der Einbürgerung belassen, da Nachteiliges nicht bekannt sei, Henry Chassel habe in "uneigennütziger Weise wertvolle Dienste geleistet". Der zuständige Senator schloss sich dieser Beurteilung an.

Henry Chassel führte ein aktives Leben und engagierte sich in vielen Vereinen und Organi­sationen, die man hier nicht alle aufzählen kann. Er brachte es zum Vorsitzenden des Vereins der Österreicher und Ungarn, sein Einsatz als Leiter der Österreichisch-Ungarischen Kriegsfürsorge in Hamburg während des Ersten Weltkriegs machte ihn zum Ritter des Kaiser Franz Josefs-Ordens und trug ihm einen Orden des Österreichischen Roten Kreuzes ein.

Für die Jüdische Gemeinde in Hamburg war seine Mitgliedschaft in der Henry-Jones-Loge, vor allem aber im Kultusverband Neue Dammtor Synagoge von Bedeutung.

Von 1928 bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1939 amtierte er als Vorsitzender der Dammtor Synagoge. Zu seinem 60. Geburtstag 1936 überbrachte Rabbiner Holzer Glückwünsche der Gemeinde und Jacob Valk, der stellvertretende Vorsitzende der Gemeinde sagte: "Was Sie der Neuen Dammtor Synagoge als Vorsitzender bedeuten, kann mit wenigen Worte nicht umschrieben werden. Dank Ihrer Tüchtigkeit, Ihrer Energie und Ihrer Umsicht haben Sie es verstanden, in diesen schweren Zeiten unser Gotteshaus durch alle Fährnisse hindurchzulenken und alle Hindernisse zu überwinden, die sich durch die Zeitverhältnisse in den Weg gestellt haben."

Im Hauptamt war Henry Chassel nach wie vor beim Jüdischen Hilfsverein angestellt, genauer, im Israelitischen Unterstützungsverein für Obdachlose. Der Verein war 1884 gegründet worden, um osteuropäischen Juden zu helfen, die über Hamburg in eine neue Heimat strebten. Viele waren mittellos und mussten vor ihrer Abreise mit dem Nötigsten versorgt werden.

Henry Chassel kannte sich, seit er in der hamburgischen Kriegshilfe tätig gewesen war, gut in Auswanderungs-, Pass- und Visafragen aus. Er begleitete Auswanderer, die zumeist kein Deutsch verstanden, bei Behördengängen, insbesondere zur Fremdenpolizei und setzte sich in jeder Hinsicht fürsorglich für sie ein. Anlässlich seines 25-jährigen Amtsjubiläums 1929 sagte Oberrabbiner Joseph Carlebach über ihn, ihm seien die Eindrücke unvergesslich, "die er angesichts der Fürsorge des Jubilars für die Überlieger [Juden aus Osteuropa, die über Hamburg nach Übersee auswandern wollten] in den Auswanderungshallen und bei der Einrichtung des Unterrichts für deren Kinder empfangen habe. Herrn Chassels Arbeitsgebiet sei besonders schwer, weil er fast nur mit Menschen zu tun habe, die vom Unglück verfolgt seien."

Sieben Jahre später musste Henry Chassel seine ganze Arbeitskraft für die eigenen Landsleute einsetzen. "Als Sie Ihre Lebensarbeit begonnen hatten, glaubten Sie und wir alle, dass es vor allen Dingen eine Tätigkeit sei, die hilfsbedürftigen Glaubensbrüdern aus dem Osten einen Weg in eine bessere Heimat weisen sollte. Aber Sie selbst und wir alle haben es wohl nie geglaubt, dass einmal der Tag kommen würde, an dem Sie Ihren eigenen Brüdern in Deutschland in solch wichtigen Stunden ihrer Lebensentscheidung zur Seite stehen mussten.
Wem Sie materiell helfen können, dem helfen Sie stets mit offener Hand … Wer seelisch zusammenzubrechen droht und keinen Ausweg findet, dem zeigen Sie gar oft den Weg zur Rückkehr ins Judentum und zum Neuaufbau eines neuen jüdischen Lebens irgendwo draußen in der Welt", sagte ein Festredner der Henry-Jones-Loge zu Henry Chassels 60. Geburtstag. Er schloss mit dem Wunsch: "Mögen Sie das große Glück haben, Ihre liebe Frau, Ihre Kinder und Ihr Enkelkind als glückliche Menschen zu sehen, mögen Sie es erleben, dass bald wieder Tage des Friedens über Sie, über uns alle, über ganz Israel kommen mögen."

Henry Chassel fühlte sich seinen Aufgaben in Hamburg, vor allem der Sozialarbeit, so sehr verpflichtet, dass Auswanderung für ihn selbst zunächst nicht in Frage kam. Von zwei Besuchen bei seinen Kindern in Palästina 1934 und 1935 kehrte er nach Hamburg zurück. Der Glückwunsch der Henry-Jones-Loge zu seinem 60. Geburtstag erfüllte sich nicht.

Am 25. Oktober 1941 wurden Henry Chassel und seine Frau Irma nach Lodz deportiert. Henry Chassel war nach eigenen Angaben von der Gestapo in Hamburg zum Leiter des Transports bestimmt worden. In Lodz traf er auch seine Schwester Ester. Gemeinsam mit dem Ehepaar wohnte sie in der Hohensteiner Straße 33.

Im Mai 1942 stellte Henry Chassel für sich, seine Frau und seine Schwester den Antrag auf "Rücknahme der Ausreise-Aufforderung No. 111/ 318/320". Es handelte sich um die bevorstehende Deportation nach Chelmno. Das Ziel war den Betroffenen jedoch unbekannt (vgl. Biographie Alfriede Wagener, Isestraße 11).

Während der Antrag für Ester Chassel abgelehnt wurde, blieb Irma und Hillel Chassel die Deportation erspart, galt doch für Träger von Ehrenzeichen aus dem Ersten Weltkrieg eine Ausnahmeregelung. Ein Jahr lebten die beiden noch im Getto. Im Sommer 1943 kamen sie ums Leben. Für Henry Chassel wurde "Herzversagen", für seine Frau "Herzschlag" als Todesursache angegeben. Wahrscheinlich sind beide auf dem Gettofriedhof begraben. Von Henry Chassel wissen wir es mit Sicherheit.

Nach dem Krieg suchte die Tochter Alice mit einer Annonce im "Aufbau" in New York vergeblich nach ihren Eltern.

© Christa Fladhammer

Quellen: 1; StaH, 331-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, BVI 1924 Nr. 144 und Nr. 111; AfW 240176; 141101; 240109; 180711; USHMM, RG 15.083, M 301/437-438; Jüd. Gemeindeblatt vom 24.04.1929; Hamburger Fremdenblatt (HF) 16.01.1936; HF 30.01.1936; www.jewishlodzemetory.org, Zugriff: 30.3.2009; mündliche Auskunft der Enkeltochter in Israel; Katja Wüstenbecker, Von Hamburg nach Amerika, Hilfsorganisationen für jüdische Auswanderer 1880–1910 in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Band 91, 2005, S. 77ff; Linde Apel (Hg.), In den Tod geschickt, Berlin 2009.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

druckansicht  / Seitenanfang