Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Heinz Becher * 1919

Beim Andreasbrunnen 9 (Hamburg-Nord, Eppendorf)

1943 Auschwitz
ermordet 01.06.1943

Weitere Stolpersteine in Beim Andreasbrunnen 9:
Gertrud Becher, Wilhelm Frank, Emmy Frank, Heinz Frank, Erika Hesse

Heinz Becher, geb. 30.12.1919 in Hamburg, am 1.3.1943 von Paderborn nach Auschwitz deportiert, dort umgekommen am 1.6.1943

Beim Andreasbrunnen 9

Heinz Becher war der jüngere Sohn von Gertrud (s. dort) und Martin Becher. Über seine Kindheit und Schulzeit wissen wir nichts. Auf seiner Kultussteuerkartei der Jüdischen Gemeinde, die ab 1936 geführt wurde, ist als Berufsbezeichnung "kaufmännischer Lehrling" in der Export-Firma A. Krause und Co. angegeben. Heinz beschloss 1938/1939, sich auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten und zog in das 1934 gegründete Hachschara-Zentrum Urfeld bei Bonn. Dort hatte die Zionistische Vereinigung Deutschlands ein geräumiges Landhaus angemietet. Da kein Ackerland dazugehörte, arbeiteten die Pioniere tagsüber in umliegenden Familienbetrieben, "die auf rationeller und fortschrittlicher Grundlage eine für damalige Verhältnisse hochentwickelte Gemüsezucht betrieben", so Norbert Zerlett in seinem Artikel über die Urfelder "Vorbereitungs"-Schule.

Über das Leben im Zentrum, das exemplarisch für diese Einrichtungen war, schreibt er weiter: "Der Abend diente der Gruppenunterrichtung in Geschichte, Agrarwissen, Philosophie und Sprachkursen in Hebräisch. Das Lagerleben war bewusst hart und anspannend gestaltet; spärliche Beköstigung mit Schwarzbrot, Rübenkraut und Kaffee ohne Milch und Zucker, we­nige Wolldecken auf hartem Lager. Die jungen Menschen sollten schon in Urfeld die schweren Bedingungen kennenlernen, die sie wahrscheinlich … in Palästina erwarteten. … Damals näherte sich die deutsche Wirtschaft langsam wieder der Vollbeschäftigung, so daß … die jungen Leute als gute Arbeitskräfte begehrt waren. [Diese] durften in ihren Lehrbetrieben keine Beköstigung annehmen, haben sich aber hinter dem Rücken des Lagerleiters hin und wieder doch einmal richtig satt gegessen, um die harte Arbeit durchzuhalten." In den folgenden Jahren wurden insgesamt 130 junge Leute in Urfeld geschult, immer 20 bis 25 zur Zeit für ein bis zwei Jahre. Sobald Einreisepapiere für ein Zielland vorlagen, wurde die Ausbildung abgebrochen und ausgewandert.

Zerlett weiter: "Am 9. November 1938 war es mit der bis dahin relativen Duldung der NS-Machthaber vorbei. Vier SS-Männer drangen [ein], Fensterscheiben und Geschirr wurden zerschlagen, Türen, Möbel und Hauseinrichtungen beschädigt. Den vier traten die Eheleute Doering [damalige Besitzer des Landhauses] unerschrocken, mit energischen Rufen und dem Einwand entgegen, daß das Landhaus ihr Eigentum sei und nicht den Juden gehöre. … Alle jüdischen Heiminsassen hielten sich während dessen versteckt … Mehrere junge Männer im Keller ... hörten jedes Wort der Unterhaltung [mit]. Nach diesem Vorfall glaubten alle, damit sei für die Urfelder Ausbildungsstätte der Terror abgewehrt und alles überstanden. Doch nach einigen Stunden kamen bei völliger Dunkelheit zwei Lastwagen und auf ihnen Leute aus den Orten der näheren Umgegend … Sie handelten wahrscheinlich auf eigene Faust und hatten höchstwahrscheinlich mit dem vorherigen SS-Kommando keine Verbindung. [Die Männer] drangen in das Heim ein und begannen erneut mit Zerstörungen. Die Heiminsassen flohen und fanden Zuflucht und Schutz wiederum im Keller des Gärtnerhauses der Familie Doering [sowie bei einem anderen Nachbarn]. Wiederum traten die Eheleute Doering den Eindringlingen entgegen und schützten ihr Eigentum." In den folgenden Wochen verließen viele Auszubildende Urfeld. Ähnlich wie bei den hier geschilderten Überfällen ging es auch in anderen Hachschara-Ausbildungsstätten zu. Ob Heinz sie in Urfeld miterlebt hat oder ob er erst nach diesen Vorkommnissen im Zentrum lebte, ist nicht bekannt.

Vermutlich scheiterte seine geplante Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina am Kriegsbeginn, die notwendige Unbedenklichkeitserklärung hatte er im August 1939 erhalten. In dem Dokument wird er als Angestellter bezeichnet, hatte also seine Ausbildung inzwischen abgeschlossen. In der Vermögenserklärung gab er bei den Sparten Bargeld, Guthaben, Wertpapiere, Grundvermögen usw. jeweils "keins" an, bei "Edelmetalle" listete er zwei silberne Bestecke auf sowie "kleine Gegenstände in Einzelgewicht bis zu 40g, Gesamtgewicht unter 200g (Silber)".

Im September 1939 gab Heinz‘ Mutter Gertrud Becher in einem Schreiben an die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidiums Ausgaben für einen zweiköpfigen Haushalt an, vermutlich lebte er also zu dieser Zeit bei ihr. Im Oktober 1939 zog er dann ins Hachschara-Zentrum Paderborn. Am 15. Oktober 1939 meldete er sich in der Stadt an.

Das Paderborner jüdische Umschulungs- und Einsatzlager am Grünen Weg wurde im Sommer 1939 errichtet, weil nach dem Novemberpogrom 1938 die Zahl der Neuanmeldungen zur Auswanderung anstieg und zusätzliche Plätze benötigt wurden. Auch hier sollten die Teilnehmer umgeschult werden und sich an körperliche Arbeit gewöhnen. Sie arbeiteten allerdings nicht in der Landwirtschaft, sondern legten unter anderem einen Park an, errichteten eine Freilichtbühne und ein Wildgehege und waren im Winter mit Eishacken und Schneeräumen beschäftigt. Israel Loewenstein, ehemaliger Bewohner dieses Lagers, der mit Heinz Becher zusammen nach Auschwitz deportiert wurde, beschrieb in einem Interview die Einstellung der jungen Leute dort. Er selbst stammte aus einer armen Familie, es gab aber auch Jugendliche aus reichem Elternhaus: "Wir waren … alle gleich, egal woher wir kamen. Unsere Madrichim, die Erzieher, sagten uns: In Palästina ist uns der arabische Fellache, der Bauer, näher als der jüdische Kapitalist. Niemand fragte, wer sind deine Eltern, sondern nur, was kannst du, was bist du für ein Mensch?" Auch Heinz wirkte in seiner Freizeit als "Madrich", als Lehrer.

Margit Naarmann stellt in ihrem Buch "Ein Auge gen Zion …" das Leben im Lager anschaulich dar: "Auf Hachschara zu gehen … bedeutete gleichzeitig eine geistige Lebensausrichtung. Das Leben [dort] war für die meisten prägend. Sie hatten gelernt, zusammenzuhalten und sich gegenseitig immer wieder aufzurichten. … Das Gruppengefühl war so stark, daß die meisten Jugendlichen sich für die Gruppe entschieden, als das Problem aufkam, ob man mit den Eltern in die Deportation gehen sollte."

Im Juli 1941 wurde der Ausbildungs-Kibbuz, wie alle anderen noch bestehenden Hachschara-Zentren, in ein "Arbeitslager" unter Kontrolle der Gestapo, jedoch ohne polizeiliche Bewachung, umgewandelt. Außer zum Arzt und zur Arbeit konnten die Jugendlichen nicht mehr ein- und ausgehen wie sie wollten. In den vier Baracken lebten etwa 70 Jungen und 30 Mädchen. Morgens mussten die jungen Männer zum Appell in den Städtischen Fuhrpark, wo sie zur Straßenreinigung und anderen Arbeiten eingeteilt wurden. Besonders die Müllabfuhr mit Pferdewagen war eine sehr schmutzige und körperlich schwere Arbeit. Aber auch Privatfirmen forderten Lagerbewohner an, unter anderem zum Entladen von Kohle aus Eisenbahnwaggons, zum Ausheben eines Feuerlöschteichs, für eine Marmeladenfabrik und andere Betriebe. "Die Lebensbedingungen waren schwer, wir arbeiteten schwer und hatten Hunger, da wir als Juden nicht das Recht auf viele Lebensprodukte hatten.

Trotz der schweren Arbeit wurde im Lager eine intensive Kulturarbeit geleistet. … Ich glaube, daß es im ganzen großen Deutschland der Nazizeit im Kriege keinen Ort gab, der sich in seiner Fülle und Sprühe von der politischen und kulturellen Seite her mit [uns] vergleichen kann. … Wir lernten, stolze, in ihrem Inneren freie Juden zu sein in einem Ozean des Hasses. Wir lernten Hebräisch, Judaica, Philosophie, Literatur und die Geschichte der sozialistischen Bewegungen", so die Erinnerungen des ehemaligen Lagerbewohners Horst Efraim Goldschmidt aus Berlin.

Übereinstimmend berichten die Überlebenden, dass es Menschen in Paderborn gab, die ihnen etwas zu essen zusteckten. Auch zu Schikanen sei es in der "Stadt der Kirchen und Klöster" nie gekommen. Im Vergleich zu dem, was später auf sie zukam, war die Situation durchaus erträglich.

Ende Februar 1943 setzte die Auflösung ein. Alle Juden im Landkreis erhielten Beschäftigungsverbot, ein Polizeiposten bewachte nun das Lager. Peter Wolff, ein Überlebender, erinnert sich: "Wir [wurden] alle angewiesen, uns am 1.3.1943 mit leichtem Gepäck am Bahnhof … einzufinden. Es war uns klar, daß wir zum Arbeitseinsatz in den Osten deportiert werden sollten. Da wir … harte körperliche Arbeit gewohnt waren, gab es also diesbezüglich bei uns keinen Grund zur Beunruhigung oder Panik. … Ich hatte noch Angst, den Zug zu verpassen."

Von Paderborn ging es mit dem Zug nach Bielefeld, von dort wurde die Gruppe in Viehwaggons weitertransportiert. Ernest Michel, ein weiterer ehemaliger Leidensgenosse von Heinz Becher, erinnerte sich an die Fahrt: "Die Ortspolizei sperrte fünfzig von uns in zwei Viehwaggons, Männer und Frauen gemischt. Die Wagen waren komplett leer. Es gab kein Stroh. Einfach nichts. … Nach langem Warten … fuhr der Zug an, und langsam begann seine Fahrt, beladen mit seiner verängstigten menschlichen Fracht. Nach zwei Tagen waren sämtliche Vorräte aufgebraucht. … Der Gestank von Urin und Exkrementen wurde unerträglich. … Man stand, man saß. Es gab nicht genug Platz zum Liegen. … Schrecklicher als der Hunger war der Durst. Es war nicht ein Tropfen Wasser zu haben."

Endstation war Auschwitz. Fast die gesamte Gruppe – auch Heinz – wurde nach Buna-Monowitz überstellt, wo ein neues Arbeitslager aufgebaut wurde. Seine Häftlingsnummer war 104899. Aus den Akten von Auschwitz geht hervor, dass er am 31. Mai 1943 nach Ausch­witz 1 in den Block 19 überführt wurde. Er starb am 1. Juni 1943. Aus der Paderborner Gruppe überlebten elf Jungen und drei Mädchen die Hölle der nächsten zwei Jahre. Sie berichten übereinstimmend, dass der starke Zusammenhalt, der bis zum heutigen Tag andauert, dafür ausschlaggebend war.


© Sabine Brunotte

Quellen: 1; StaH 314-15 OFP, R 1939/746; StaH 314-15 OFP, 1938/748; Verzeichnis Hamburger Börsenfirmen (abgeschl. Mitte Feb. 1933); Auskunft Israel Loewenstein, E-Mails vom 13.7.2009 und 18.7.2009; telefonische Auskunft Peter Offenborn vom 20.7.2010; Zerlett, "Vorbereitungs"-Schule, in: Linn, Juden 1983; Interview mit Israel Loewenstein in "zeichen" Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., Nr. 4 2009; Naarmann, Ein Auge, 2000.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

druckansicht  / Seitenanfang