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Porträt Julius Gottschalk, 1939
Julius Gottschalk, 1939 (Der Kopf des Kindes wird für das Foto gestützt.)
© Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

Julius Gottschalk * 1930

Schumacherstraße 52 (Altona, Altona-Altstadt)


HIER WOHNTE
JULIUS GOTTSCHALK
JG. 1930
EINGEWIESEN 1938
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
HEILANSTALT MAINKOFEN
ERMORDET 7.5.1945

Heinrich Robert Julius Gottschalk, geb. am 28.3.1930, ab Oktober 1938 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten, am 10./11.8.1943 "verlegt" in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen bei Passau, ermordet am 7.5.1945

Schumacherstraße 52

Julius Gottschalk war der ältere von zwei Söhnen des 1902 geborenen gleichnamigen Seemanns und dessen Ehefrau Anna, geborene Koster, geboren am 22. September 1904.

Julius wurde in der Städtischen Entbindungsanstalt in der Bülowstraße 9, dem heutigen Kinderkrankenhaus Altona, geboren. Anders als sein im Juli 1931 geborener Bruder war Julius anscheinend seit seiner Geburt am 28.3.1930 behindert.
Im Februar 1934 wandte sich Anna Gottschalk an das Wohlfahrtsamt Altona mit der Bitte, ihren nun bald vierjährigen Sohn in einer öffentlichen Fürsorgeanstalt unterzubringen. Ihre Ehe war zu diesem Zeitpunkt geschieden. Sie hatte im September 1933 das Sorgerecht für beide Söhne erhalten und lebte in einer Kellerwohnung in der Schumacherstraße 52 von Wohlfahrtsunterstützung sowie vom Verkauf von Zeitungen. Dafür nutzte sie, wie sie berichtete, ein "Abteil ihrer Wohnung". Doch das Einkommen reichte nicht aus, den Kindern und sich selbst ein erträgliches Leben zu bieten. Die Jungen mussten zusammen in einem Bett schlafen, und Julius beschmutzte seinen Bruder ständig. Ausführlich beschrieb Anna Gottschalk die Behinderungen ihres Sohnes gegenüber dem Wohlfahrtsamt und fasste zusammen: "Es ist ein Bild der Verzweiflung, wenn man die beiden Kinder nebeneinander beobachtet. Die Not kann meinen Aufwand für die beiden Kinder nur in den bescheidensten Grenzen halten. Selbstverständlich kämpft auch in mir das Muttergefühl gegen meinen hier vorgebrachten Antrag, jedoch haben die Pfleger der NS Volkswohlfahrt, welche ab und zu in meine Wohnung kommen, mir diesen Entschluß als unausbleiblich nahe gelegt."

Der Vertrauensarzt der Sozialverwaltung wies Julius am 5. September 1938 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten ein. Als Diagnose wurde festgehalten: "Idiotie", "Schwachsinn". Julius hatte mit zweieinhalb Jahren Gehen gelernt, war bei seiner Aufnahme in Alsterdorf "noch recht unsicher, ist unsauber, gibt nur einige Laute von sich, hat starken Speichelfluss, ist leicht erregt, nimmt nur Breikost zu sich."

Dass Anna Gottschalk die Heimunterbringung tatsächlich aus tiefer Verzweiflung anstrebte, lässt sich an ihren in der Patientenakte dokumentierten Besuchen ablesen. Die Sorge um den Sohn wird auch aus mehreren ein- bis viertägigen Anstaltsurlauben in den Jahren 1939 und 1940 deutlich, die Julius bei seiner Mutter in Altona verbrachte.

In Alsterdorf bekam Julius wiederholt Krämpfe. Dann verdrehte er die Augen und zuckte mit den Gliedern. Der letzte Eintrag in seiner Patientenakte datiert vom 15. März 1943. Er sei im Allgemeinen ruhig und im Umgang mit seinen Mitpatienten verträglich, spiele und singe gern mit ihnen. Seine Aussprache sei nun ziemlich gut verständlich.

In der Folge der Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli 1943, von denen auch die Alsterdorfer Anstalten betroffen waren, beantragte Pastor Lensch, der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, bei der Gesundheitsbehörde den Abtransport von rund 750 Anstaltsinsassen. Julius Gottschalk wurde mit einem der folgenden Transporte am 11. August mit weiteren 112 Männern in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen bei Passau "verlegt".

Über den dortigen Aufenthalt ist nichts bekannt.

Im November 1945 erhielten die Alsterdorfer Anstalten auf Nachfrage aus Mainkofen die Nachricht: "Von den am 10. und 11. August 1943 überstellten 113 männlichen Patienten Ihrer Anstalt sind 74 verstorben. Die Ursache für diese hohe Sterblichkeitsziffer ist darin zu sehen, daß, wie Sie uns selbst mitteilten, gerade die schwächsten Ihrer Patienten hierher überstellt wurden, von denen ein Großteil an Lungentuberkulose gestorben sind."

Die Behauptung, man habe die Schwächsten der Schwachen nach Mainkofen überstellt, trifft nicht zu. Zudem werden in der Mitteilung kritiklos die in den Krankenakten enthaltenen Todesursachen als zutreffend übernommen. Bei den 74 aus Alsterdorf kommenden Patienten, die in Mainkofen starben, taucht die Todesursache "Lungentuberkulose" vierzigmal auf, die Todesursache "Darmkatarrh" fünfzehnmal. Die hohe Sterblichkeit und die Angabe der fast immer gleichen Todesursachen waren für Tötungen in den Anstalten in den letzten Kriegsjahren üblich. Sie deuten insbesondere auf Tötung durch Hunger und Entkräftung hin. Tatsächlich forderte ein Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 15. Dezember 1942 ziemlich unverblümt den Hungertod derjenigen, die keine nutzbringende Arbeit mehr verrichten konnten oder nicht in erfolgversprechenden Therapien waren. Dort hieß es, dass "sowohl in quantitativer Hinsicht diejenigen Insassen [...], die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen [...] zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden."

Julius Gottschalk starb in Mainkofen am 7. Mai 1945 im Alter von 15 Jahren, laut Leichenschau-Schein an Darmkatarrh.

Stand September 2015

© Ingo Wille

Quellen: Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, V410; Wunder, Auf dieser schiefen Ebene, S. 208.

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