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Karl Suderburg * 1910

Anzengruberstraße 7 (Harburg, Wilstorf)


HIER WOHNTE
KARL SUDERBURG
JG. 1910
EINGEWIESEN 1929
ROTENBURGER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1941
HEILANSTALT WEILMÜNSTER
ERMORDET 11. 2. 1942

Karl Suderburg, geb. am 16.1.1910 in Harburg, eingewiesen in die Rotenburger Anstalten, verlegt in die "Landesheilanstalt Weilmünster", dort ermordet am 11.2.1942

Anzengruberstraße 7 (Stadtteil Wilstorf)

Als Karl Suderburg geboren wurde, hieß die Straße, in der seine Eltern lebten, noch Schmidtstraße. Auf Wunsch der Anwohnerinnen und Anwohner, die zu einem großen Teil aus Österreich stammten, wurde sie 1927 nach dem österreichischen Volksschriftsteller Ludwig Anzengruber (1839–1889) umbenannt.

Karl Suderburg litt an "Imbezillität" ("Schwachsinn") mittleren Grades. Außerdem war er in seinen Bewegungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt, weil seine Beine und sein linker Arm gelähmt waren. Am 19. August 1929 wurde er im Alter von 19 Jahren in die damaligen Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen. Die näheren Umstände seiner Erkrankung und die Gründe für seine Überweisung in diese Einrichtung, die 1880 in der benachbarten Kreisstadt an der Wümme gegründet worden war, sind nicht bekannt.

Oft waren in den Rotenburger Anstalten die Psalmworte zu hören: "Wie teuer ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!" (Psalm 36,8); doch die Wirklichkeit sah auch in dieser diakonischen Einrichtung nach 1933 oft anders aus.

335 Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Anstalten wurden in den Jahren 1933 bis 1945 auf der Grundlage des nationalsozialistischen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 zwangssterilisiert. Ein Mädchen und eine Frau starben an den Folgen.

Als nach Beginn des Zweiten Weltkriegs die Vorbereitungen für die Vernichtung angeblich lebensunwerter Menschen unter dem Tarnnamen "Aktion T4" anliefen, weigerte sich die Leitung der Einrichtung zwar zunächst, die ihr anvertrauten Patientinnen und Patienten auf den vorgeschriebenen Meldebögen in arbeitsfähige und arbeitsunfähige einzuteilen, doch sie konnte nicht verhindern, dass die Berliner Zentrale des Vernichtungsprogramms am 21. April 1941 eine Ärztekommission (vier Mediziner und drei Schreibkräfte) nach Rotenburg entsandte, die in vier Arbeitstagen die Begutachtung von 1150 Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort durchführte. Trotz starker Bedenken verfolgten führende Mitarbeiter der Rotenburger Anstalten die Arbeit der Gutachter, wobei sie in einzelnen Fällen zugunsten ihrer Schutzbefohlenen eingreifen konnten.

Unter den 70 Männern, die am 31. Juli 1941 aus den Rotenburger Anstalten abtransportiert und in die "Landesheilanstalt Weilmünster" in Hessen verlegt wurden, befand sich auch Karl Suderburg. Seine Eltern wurden, wie ausdrücklich vorgeschieben, erst nach dem Abtransport über diese Tatsache informiert: "Auf Anordnung des Herrn Reichsverteidigungskommissars hat Ihr Sohn Karl in die Landes-Heilanstalt Weilmünster/Oberlahnkreis verlegt werden müssen. Wir teilen Ihnen dieses mit, um Ihnen unnötige Reisekosten hierher zu ersparen. Vorläufig ist ein Besuch in Weilmünster noch nicht angängig. Sie werden auch von dort Nachricht erhalten." Der Hinweis auf den "Reichsverteidigungskommissar" sollte vermutlich bei den Angehörigen den Eindruck erwecken, dass es sich dabei um eine aus Kriegsgründen notwendig gewordene Verlegung von einer Anstalt in eine andere handele. Die "Landesheilanstalt Weilmünster" gehörte zu den Zwischenanstalten im Umkreis der Vernichtungsstätte Hadamar, in denen die Abtransportierten einige Tage verblieben, bevor sie mit Bussen zur Tötung durch Gas abgeholt wurden. Als die "Aktion T4" am 24. August 1941 offiziell gestoppt wurde, waren die Rotenburger Männer noch nicht weitertransportiert worden. Doch das rettete sie nicht.

Der "Euthanasie"-Stopp führte im August 1941 zu einer dramatischen Überfüllung der "Landesheilanstalt Weilmünster". Waren Anfang 1935 insgesamt 375 Patientinnen und Patienten in den Räumlichkeiten der Einrichtung untergebracht, so mussten jetzt mehr als 1500 Kranke oder Personen mit Behinderungen umsorgt und verpflegt werden, ohne dass das Pflegepersonal und die Zahl der Ärzte entsprechend aufgestockt wurden. Wie stark sich dieser Notstand auf die einzelnen Patientinnen und Patienten auswirkte, geht aus den Zeilen eines Betroffenen hervor, die er seiner Mutter schrieb: "Wir leben in verkommenen Räumen ohne Radio, Zeitung und Bücher, ja ohne irgendeine Beschäftigung. Wie sehne ich mich nach meiner Bastelei. Wir essen aus kaputtem Essgeschirr und sind in dünnen Lum­pen gekleidet. … Vor fünf Wochen habe ich zuletzt gebadet."

Derselbe Brief vermittelt auch einen erschütternden Einblick in die be­wusst herbeigeführte Hungersnot der Pfleglinge: "Die Menschen … sterben hier wie die Fliegen. Die Kost besteht aus täglich zwei Scheiben Brot mit Marmelade, selten mit Margarine, oft auch trocken. Mittags und abends je ¾ Liter Wasser mit Kartoffelschnitzeln und holzigen Kohlabfällen. Die Menschen werden zu Tieren und essen alles, was man eben von anderen kriegen kann, so auch rohe Kartoffeln und Rüben … Der Hungertod sitzt uns allen im Nacken; keiner weiß, wer der nächste ist."

In der Zeit von 1941 bis 1945 starben in Weilmünster mehr als 2500 "Pfleglinge". In diesen Jahren lag die Sterberate in dieser staatlichen Anstalt bei 43% bzw. 45%. 1942 überschritt sie sogar die 50%. Von den 70 Männern, die im Juli 1941 aus Rotenburg hierher verlegt worden waren, überlebte keiner. Zu dem Massensterben dürften die permanente Überbelegung und eine gezielte Verschlechterung der Lebensmittelversorgung sowie vermutlich auch eine überhöhte Dosierung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu einem großen Teil beigetragen haben.

Dass die höchste Sterberate in Weilmünster ausgerechnet in den Häusern verzeichnet wurde, in denen diejenigen Patientinnen und Patienten untergebracht waren, die ursprünglich weitertransportiert werden sollten, und in denen nach dem Stopp der Gasmorde zwischenzeitlich sieben Krankenschwestern und -pfleger aus der Vernichtungsstätte Hadamar – unter ihnen die wegen Beihilfe zum Mord zu einer Haftstrafe verurteilte berüchtigte Krankenschwester Pauline K. – zum Einsatz kamen, dürfte ein Indiz dafür sein, dass das Sterben – zumindest hier – medizinisch beschleunigt wurde. Karl Suderburg gehörte zu denen, die in diesen Monaten starben. Sein Leben endete am 11. Februar 1942.

© Klaus Möller

Quellen: Archiv der Rotenburger Werke der Inneren Mission, Akten Nr. 136, 196; Rotenburger Werke (Hrsg.), Zuflucht; Wunder u. a., Kein Halten, 2. Auflage; Sander, Landesheilanstalt.

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