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Gerhard Schlie, ca. 1943
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Gerhard Schlie * 1926

Probsteier Straße 20 (Hamburg-Nord, Dulsberg)


HIER WOHNTE
GERHARD SCHLIE
JG. 1926
VERHAFTET
NEUENGAMME
ERMORDET MÄRZ 1945

Gerhard Isidor Schlie, geb. 29.3.1926 in Berlin, Konzentrationslager Neuengamme August 1944, vermutlich im Zuge der Räumung des KZ Neuengamme umgekommen

Probsteier Straße 20

Gerhard Isidor Schlie wurde 1939 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute: Evangelische Stiftung Alsterdorf) eingewiesen. Seine Geschichte weicht von denen der anderen ehemaligen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten ab. Weil er in seinem Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach, wurde er als "debil" eingestuft.

Gerhard hatte zunächst seine Eltern "zur Verzweiflung gebracht" und dann die Betreuer in den vielen Heimen, in denen er untergebracht war. Er war kein besonders guter Schüler, aber er war lebenstüchtig. Dennoch hat er nicht überlebt. Die letzten Monate seines Lebens war Gerhard Schlie im KZ Neuengamme inhaftiert. Eine viermonatige Haftstrafe wegen Betruges des Deutschen Reiches hatte er zuvor schon abgesessen. Im Jugendgefängnis Neumünster war unter Verweis darauf, dass er "Halbjude" sei, empfohlen worden, ihn "im Jugendschutzhaftlager" unterzubringen. Statt in ein Jugend-Konzentrationslager wurde Gerhard ins KZ Neuengamme eingeliefert. Er verlor sein Leben mit großer Wahrscheinlichkeit im Zuge der Auflösung des Konzentrationslagers. Seine Angehörigen vermuteten, er sei beim Untergang der "Cap Arcona" umgekommen.

Bevor hier die Lebensgeschichte von Gerhard Schlie geschildert wird, bedarf es einer Vorbemerkung: Fast unser gesamtes Wissen über ihn entstammt seiner Krankenakte, die im Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf verwahrt wird. Diese Akten erlauben es, sich ein Bild vom Leben der Bewohner der damaligen Alsterdorfer Anstalten unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft zu machen. Doch die Dokumente – so umfassend und ausführlich sie im Einzelnen auch sein mögen – bergen ein Problem. Die Akten vermitteln die Schicksale der Anstaltsbewohner fast nur aus der Sicht ihrer Betreuer und Ärzte. Deren Berichte sind fast immer scheinbar neutral und in sachlicher Distanz abgefasst. Gefühle, Wünsche und Schmerzen der Betroffenen bleiben meist im Dunkeln. Nur selten schimmert Empathie durch. Doch hin und wieder werden Regungen und Gefühle der Bewohner durch die unbeabsichtigte Spiegelung in den Berichten erkennbar. Nicht selten vermitteln die Gutachten, Berichte und Stellungnahmen mehr über ihre Verfasser als über die betroffene Person selbst.

Dies alles gilt auch für die Geschichte von Gerhard Schlie, der von seinem nur neunzehn Jahre währenden Leben drei Viertel in Wohn- bzw. Erziehungsheimen, Heilanstalten und Gefängnissen zubrachte. Berichte, Stellungnahmen und Bewertungen über ihn lassen die Verzweiflung der Eltern sowie anfänglich freundliche Offenheit, vorsichtig angedeutetes Verständnis für Gerhards Fluchtversuche und Aggressionen (die wohl eher Hilfeschreie als nur niederträchtige Unbotmäßigkeiten darstellen) der Betreuer erkennen, später deren harte Ablehnung bis hin zu vorurteilsgeladenen negativen Bewertungen durch den Oberarzt der Alsterdorfer Anstalten in der Zeit des Nationalsozialismus, Gerhard Kreyenberg. Sie berücksichtigten nicht die bei Gerhard Schlie aus fehlender Zuwendung resultierende Frustration und Verzweiflung, die er durch Unbotmäßigkeiten und Aggressionen zu überspielen versuchte.

Dadurch ist es kaum möglich, sich ein überprüfbares eigenes Bild von Gerhards Persönlichkeit zu machen. Zugleich ist dem Verfasser bewusst, dass in seine Auswahl der Dokumente, in sein Verständnis der Dokumenteninhalte und in seine Darstellung der Geschichte von Gerhard Schlie auch die eigene Subjektivität eingeflossen ist.
Angefangen hat die Lebensgeschichte von Gerhard Isidor Schlie mit der Beziehung zwischen seiner Mutter, der damals 21-jährigen Maria Witte, Berlin, Prenzlauer Berg, und seinem leiblichen Vater, dem jungen polnischen Juden Fritz Karger, der später nur noch als Israel Karger in den Unterlagen erwähnt wurde.
Gerhard Isidor Schlie wurde am 29. März 1926 in Berlin geboren. Die Beziehung zwischen Maria Witte und Fritz Karger scheint nach Gerhards Geburt nicht mehr lange bestanden zu haben. Gerhard erhielt den Nachnamen seiner Mutter, er hieß Gerhard Isidor Witte. Gerhards Mutter verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Kontoristin. Ihren Sohn musste sie bald nach der Geburt für vier Jahre in Pflege geben.

Ab 1931 veränderten sich die Lebensumstände von Gerhard. Seine Mutter heiratete den aus Hamburg stammenden kaufmännischen Angestellten Willy Schlie. Gerhard lebte nun bei den Eheleuten Schlie. Anfang Februar 1932 erhielt Gerhard auch den Nachnamen seines Stiefvaters. Die Schulzeit begann mit Vollendung des sechsten Lebensjahres im April 1932. Gerhard besuchte die 240. Volksschule in Berlin-Tiergarten. Er zeigte befriedigende Schulleis­tun­gen. Im Juni 1932 wurde Gerhards erster Halbbruder geboren. Knapp ein Jahr nach Gerhards Einschulung zog Familie Schlie nach Hamburg in den Arnemannweg, nördlich des Osterbekkanals, in der Nähe der Habichtstraße. Im März 1933 wurde Gerhard Schüler der "Öffentlichen Volksschule Amalie-Dietrich-Weg" (heute: Schule Lämmersieth).

Besonders harmonisch kann das Familienleben zwischen Gerhard und seinen Eltern nicht verlaufen sein. In den Behördenakten wird Gerhard als streitsüchtig, unfolgsam, hemmungslos, eigenwillig und zu phantastischen Aufschneidereien neigend charakterisiert.

Wegen Erziehungsschwierigkeiten kam er 1934 in Fürsorgeerziehung. Die Jahre von 1934 bis 1936 verbrachte er im Jugendheim Niendorf und im Waisenhaus des Jugendamtes Hamburg, Averhoffstraße 7.

Es folgte eine kurze Phase von Dezember 1936 bis Anfang Juni 1937, in der Gerhard die Schule Graudenzer Weg besuchte (heute Schule Alter Teichweg). In diesem halben Jahr wohnte er wieder bei den Eltern und seinen Halbbrüdern in der Schlettstädter Straße auf dem Dulsberg. Die Familie war inzwischen gewachsen. Im März 1934 und im Dezember 1936 wurden zwei weitere Halbbrüder geboren. In der Schlettstädter Straße auf dem Dulsberg, in der Familie Schlie nun wohnte, waren in den 1920er Jahren im Zuge der Bebauung des Dulsbergs so genannte Kleinwohnungen errichtet worden. Die Wohnverhältnisse dürften für die Eheleute Schlie mit ihren vier Jungen ziemlich beengt gewesen sein. Es lässt sich gut vorstellen, dass die beengte Wohnsituation zu manchen Konflikten beitrug.

Im Hinblick auf spätere, ganz andere Charakterisierungen und Beschreibungen sei an dieser Stelle eine Einschätzung von Gerhard durch seine Mutter am 26. Februar 1937 festgehalten. In einem "Bericht der Eltern für gesundheitliche und fürsorgerische Zwecke" bezeichnete sie Gerhard mit einem Wort: "normal".

Ab Anfang Juni 1937 besuchte Gerhard wieder die Schule des Jugendamtes in der Averhoffstraße 7. Erneut war er Zögling in dem Heim in der Averhoffstraße. Am 3. Januar 1938 wurde er in die Schule des Landheims am Ochsenzoll, Langenhorner Chaussee 59, umgeschult. Vermutlich war er in dieser Zeit auch Bewohner des Landheims, einem von neunzehn Heimen des Hamburger Jugendamtes.

Schon im Februar 1939 – nach gut einem Jahr – war die Zeit im Landheim am Ochsenzoll beendet. Gerhard wurde nach Hannover umgeschult. Die Umstände dieser Umschulung und seine dortige Wohnadresse sind nicht überliefert. Auch der Aufenthalt in Hannover war nur von kurzer Dauer. Er kam wieder ins Jugendheim Niendorf. Bei seiner Entlassung aus diesem Heim wurde in einem Fürsorgebericht vermerkt: "Da Schlies sich weigern, Gerhard bei sich aufzunehmen, dürfte sich gegebenenfalls empfehlen, eine psychiatrische Untersuchung des Jungen herbeizuführen, zwecks Unterbringung Gerhards in die Alsterdorfer Anstalten."

Der Heimleiter des Jugendheimes Niendorf hatte Gerhard zuvor als "lügenhaften, heimtückischen, dreckigen Halbjuden" bezeichnet.

Es ist nicht überliefert, wie Gerhard in den vielen anderen Heimphasen beurteilt wurde. Man darf annehmen, dass er kein einfacher Zögling gewesen ist. Doch spätestens jetzt begann die Diskriminierung als "Halbjude", dem man jedes negative Attribut zuordnen durfte.

Am 6. November 1939 schrieb das Jugendamt Hamburg über Gerhard Isidor Schlie: "Da der intellektuell stark unterbegabte, charakterlich schwierige Halbjude in Heimgemeinschaft nicht mehr tragbar ist und nicht nach Hause entlassen werden kann, ist Anstaltsbewahrung erforderlich."

Und am 8. November 1939 erklärte ein "Vertrauensarzt" der Wohlfahrtsbehörde Hamburg aufgrund einer "vorgenommenen Untersuchung [sei] die Aufnahme […] wegen charakterlicher Schwierigkeiten in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg/Alsterdorfer Anstalten auf Kosten der Wohlfahrtsbehörde erforderlich. Haupterscheinung der Krankheit: Stark unterbegabter, charakterlich schwieriger, nicht erziehungsfähiger Halbjude."

Am 23. November 1939 wurde Gerhard Isidor Schlie Bewohner der Alsterdorfer Anstalten. Etwa zu dieser Zeit zog Familie Schlie in die Probsteier Straße 20 auf dem Dulsberg. Gerhard war jetzt 13 Jahre alt. Als Diagnose bei der Aufnahme in die damaligen Alsterdorfer Anstalten wurde "Debilität" eingetragen. Dieser Begriff stand für "leichte geistige Behinderung", oder auch "leichte Intelligenzminderung". Ob dies eine zutreffende Diagnose gewesen sein kann, möge man beim Lesen von Gerhards schulischen Leistungen und seiner weiteren Geschichte in den ihm damals noch verbliebenen etwas mehr als fünf Lebensjahren selbst beurteilen.

In Rechtschreibung schwankten seine Leistungen zwischen 3 und 4, im Rechnen zwischen 2 und 4, Lesen zwischen 2 und 3, Geschichte zwischen 2 und 4, Führung/ Betragen zwischen 1 und 4, Fleiß zwischen 2 und 3, Ordnung zwischen 2 und 5. Zwei Mal musste Gerhard eine Klasse wiederholen. Seine besten Schulnoten bekam er in der Schule des Waisenhauses in der Averhoffstraße, und zwar in den Schuljahren 1935/1936 und 1936/1937. In dieser Zeit, in der die Lehrerin nicht wechselte, überwogen die Zweien und Dreien. Die Beurteilung zu Beginn des Aufenthalts in den Alsterdorfer Anstalten klang ungewöhnlich positiv: "Sein Verhalten in der Beobachtungsstation ist zufriedenstellend. Er ist ein aufgeweckter Junge, weint leicht, zeitweilig widersetzlich."

Hier wird erkennbar, dass Gerhard sicher nicht nur der widerspenstige Junge war, als der er von den Behörden hingestellt wurde.

Doch schon Mitte Januar 1940 änderte sich die Tonart. Der Leitende Oberarzt der Alsterdorfer Anstalten, Gerhard Kreyenberg, schrieb in einer Stellungnahme an die Kriminalpolizei Hamburg, "Er [Gerhard Schlie] ist durchaus imstande, das Ungesetzliche seiner Handlungs­weise einzusehen. Eine strenge Bestrafung dieses zu kriminellen Handlungen neigenden Halbjuden ist unbedingt erforderlich."

Hintergrund war ein schwerer Konflikt. In Gerhards Akte findet sich folgende Darstellung: "Patient überfiel zusammen mit H... Sch... den Patient Z..., H..., im Keller des Stadtheims. Sie schlugen ihn ins Gesicht und brachten ihm an Daumen der rechten Hand eine Biss­wunde bei. Zur Rede gestellt, wurde Patient frech und äußerte sich: ‚Das Biest bekommt noch mehr.‘ Patient wird in den Wachsaal verlegt."

Als Wachsaal wurde in den Heilanstalten die Abteilung bezeichnet, in der man "unruhige" Patienten mit Hilfe von Medikamenten, Fixierungen und anderen Maßnahmen ruhigstellte sowie Kleidungs- und Essensentzug als Strafen verhängte.

Die Beschreibung von Gerhard wurde zunehmend negativ: "unaufrichtig", "oft Widerreden", "sehr dreist", "herausfordernde und freche Antworten". Im März 1940 hielt die Sozialverwaltung der Hansestadt Hamburg noch einmal ihre Gründe für die Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten fest: "Auf Grund des ärztlichen Gutachtens des Jugendamtes vom 6.11.1939 nach vorgenommener Untersuchung ist die Aufnahme des Gerhard Schlie geboren am 29.3.1926 zu Berlin wegen Erziehungsunfähigkeit in die Alsterdorfer Anstalten auf Kosten der Wohlfahrtsbehörde erforderlich. Haupterscheinung der Krankheit: Stark unterbegabt, charakterlich schwierig, lügenhaft, heimtückisch, grenzenlos schmierig, stört die Erziehungsarbeit in normalen Gruppen. Halbjude mit stark fremdrassischen Merkmalen."

Im Gegensatz dazu wurden Gerhards schulische Kenntnisse zu dieser Zeit als verhältnismäßig gut bewertet. Am 23. März 1940 wurde er aus der Schule entlassen: "Hat Interesse am Zeitgeschehen und liest gern gute Bücher. Sein Wunsch ist, bald aus der Anstalt entlassen zu werden und ein Handwerk zu erlernen."

Im Sommer 1940 war Gerhard Zögling auf dem Brüderhof bei Harksheide (heute nördliches Norderstedt).

Der Brüderhof lag im Harksheider "Zwickmoor", dessen größter Teil schon 1925 vom "Rauhen Haus" gekauft worden war. Nach wenig erfolgreichen Nutzungen verpachtete das "Rauhe Haus" das Anwesen 1939 an die Alsterdorfer Anstalten. Auf dem Brüderhof wurde von den Bewohnern schwere körperliche Arbeit verlangt. Zeitweilig diente der Brüderhof als Ausbildungsstätte des zionistischen Hechaluz. Heute existiert der "Brüderhof" nicht mehr, nur noch die Straße "Zwickmoor".

Schon nach kurzer Zeit kehrte Gerhard Schlie in die Alsterdorfer Anstalten zurück. Der Grund wurde in einer handschriftlichen Notiz festgehalten:
"Bericht über Schlie.
Er ist für diesen Betrieb nicht geeignet, da er seine Kameraden in der letzten Zeit wiederholt aufgehetzt hat und wir mit Mühe wieder Ordnung schaffen konnten.
Nun benutze ich die Gelegenheit gleich, da er Fieber hatte und über Seitenstiche klagte, ihn mit nach der Anstalt zu schicken.
Brüderhof, den 15. Juni 1940
A. Ruck"

Im Januar 1941 wurde Gerhard nach dem Moorhof bei Kayhude verlegt.

Die Alsterdorfer Anstalten erwarben den Moorhof in den 1930er Jahren. Ausschlaggebend waren Erwägungen, dass die Patienten als Arbeitskräfte so zu ihrem Unterhalt beitragen könnten. Gerhard war auch für den Moorhof nicht geeignet und wurde im Juni 1941 wieder in die Alsterdorfer Anstalten zurückgeschickt.

Wenig später mutmaßten die Betreuer, Gerhard könnte eine Gelegenheit suchen, die Alsterdorfer Anstalten zu verlassen. Deshalb wurde er in den Lindenhof – einem früheren Teilbereich der Alsterdorfer Anstalten – aufgenommen, "um ein Entweichen zu verhindern". Die Vermutung war nicht unbegründet. Im Januar 1942 entfernte sich Gerhard bei Einbruch der Dunkelheit aus den Alsterdorfer Anstalten. Er fuhr mit der "Vorortsbahn" (alte Bezeichnung für Hamburger S-Bahn) nach Poppenbüttel. Auf jeder Station wechselte Gerhard den Wagen und entleerte die Aschenbecher. In Poppenbüttel selbst suchte er die weiter draußen abgestellten Vorortsbahnwagen auf, entleerte auch in diesen die Aschenbecher. "Er kehrt mit einer reichen Beute an Kippen heim."
Was mag ihn zu diesem "Ausflug" bewogen haben?

Im Gegensatz zu früheren Charakterisierungen wurde Gerhard im Februar 1942 als "ziemlich aufgeweckt" beschrieben, der "seit einiger Zeit in der Buchbinderei beschäftigt" wurde, "wo er sich als ganz brauchbar erweist". "Er ist recht aktiv, widerspricht oft und hat gerne das letzte Wort. Ohne Aufsicht macht er leicht Dummheiten, ärgert seine Mitpatienten, sodass er mit diesen leicht in Streit gerät. Er hält sich und sein Zeug sauber."

Kurz darauf verkaufte Gerhard einem dreizehn Jahre älteren Mitpatienten einen Teller Suppe für 1,– RM. Dieser "Handel" sollte später noch eine Rolle spielen.

Im Juni 1942 urteilten die Betreuer wieder negativ: Gerhard "wird im Maschinenhaus bewchäftigt, seine Arbeitsleistung ist gleich Null, obwohl er arbeiten könnte, da er körperlich und geistig dazu in der Lage ist. Wird ihm etwas diesbezüglich gesagt, lacht er und meint: ‚Wer kann mich hier in Alsterdorf wohl dazu zwingen.‘ Auf der Abteilung bereitet er viel Schwierigkeiten, lügt, betrügt und stiehlt. Verleitet auch seine Mitpatienten, für ihn zu stehlen. Er trägt nur solches Zeug, was ihm gefällt."

Leider kann hier – wie eingangs erwähnt – nur berichtet werden, wie Gerhard Schlie von seinen Betreuern in den Alsterdorfer Anstalten beurteilt wurde.

Von Gerhard selbst kennen wir nur dann Äußerungen, wenn sie von Betreuern in deren Kontext wiedergegeben wurden. Mit dem Satz "Wer kann mich hier in Alsterdorf wohl dazu zwingen", machte Gerhard deutlich, dass er seine Lage gut einzuschätzen wusste. Ein Gefühl für die prinzipielle Unsicherheit seiner Situation schien er noch nicht gewonnen zu haben.

Nach einem Bericht in der Krankenakte entfernte sich Gerhard am 22. Oktober 1942 gegen 17.00 Uhr erneut aus der Anstalt und kam gegen 18.30 Uhr zurück: "Nach seinen Angaben will er heute ... bei einem Vortrag erfahren haben, dass er Halbjude ist. Er ist angeblich aus Scham entwichen, kam aber von selbst wieder."

Trotz aller Schwierigkeiten, die die Betreuer mit ihm hatten, schimmerte in manchen Berichten ein gewisses menschliches Mitgefühl durch, das der Leitende Oberarzt Kreyenberg vollständig vermissen ließ. Im Zusammenhang mit der Wehrerfassung von Gerhard Schlie forderte der Polizeipräsident Hamburg im Juni 1943 ergänzende Angaben zu Gerhards Wehrstammblatt. Kreyenberg schrieb daraufhin:

"Diagnose: Debilität
Es handelt sich um einen äußerst frechen Patienten, der zeitweilig die größten Schwierigkeiten bietet, da er nur Dummheiten im Kopf hat, seine Mitpatienten ärgert und mit ihnen häufig in Streit gerät. Auch ist es nur möglich, ihn unter strenger Aufsicht arbeiten zu lassen. Patient ist Halbjude und entwickelt häufig geradezu jüdische Geschäftstüchtigkeit, so verkaufte er z. B. einem anderen Patienten, der noch Hunger hatte, einen Teller Suppe für 1 Mark. Patient ist infolge seines Leidens für den Dienst in der Wehrmacht nicht geeignet."
Kreyenberg unterschlug, dass Gerhard nach Angaben der Betreuer wahrscheinlich zu diesem "Geschäft" angestiftet worden war.

Einen Monat später, am 25. Juli 1943, begannen die Luftangriffe der "Operation Gomorrha" auf Hamburg. Der Dulsberg, auf dem Gerhards Familie lebte, wurde weitgehend zerstört. Die rechtzeitige Evakuierung nach Bayreuth rettete die Mut­ter und die drei Halbbrüder.

Nach einem Bombeneinschlag verließ Gerhard die Alsterdorfer Anstalten am 27. Juli 1943. Notiz in der Krankenakte: "(Vor 2 Tagen schwerer Fliegerangriff). Es ist anzunehmen, dass Patient aus reiner Sensationslust entwichen ist, da er keine näheren Verwandten in Hamburg hat." Sensationslust? Keine Verwandten in Hamburg?

Anders als bei früheren Anlässen verließ Gerhard die Alsterdorfer Anstalten nicht nur für ein paar Stunden. Fünf Wochen später, am 1. Oktober 1943, glaubten die Verantwortlichen in den Alsterdorfer Anstalten offenbar nicht mehr an eine schnelle Rückkehr des entschwundenen Zöglings und benachrichtigten Gerhards Eltern, "dass Ihr Sohn Gerhard in den Katastrophentagen aus unseren Anstalten entwichen ist. Sollte Ihnen der Aufenthaltsort Ihres Sohnes bekannt sein, so bitten wir um Mitteilung."

Zu dieser Zeit befand Gerhard sich schon in Niebüll, Nordfriesland. In einem Dokument vom 5. August 1943 bescheinigte der Amtsvorsteher von Niebüll, dass Hans-Jürgen Gerhard Schlie, wohnhaft bei Bauer Franzen, Kirchenstraße, sich zur Anlegung des Wehrstammblatts angemeldet hatte. Man beachte: Der angeblich debile Gerhard Isidor Schlie veränderte seinen Vornamen in Hans-Jürgen.

Wenige Tage später erhielt der "Schlosserlehrling Hans-Jürgen Schlie" eine offizielle Kennkarte mit einer Gültigkeitsdauer bis 16. August 1948. Mit dieser geringfügigen Namensänderung wollte er sich anscheinend von dem Stigma des "Halbjuden" befreien und hoffte vermutlich, nun endlich ein in dieser Beziehung unbelastetes Leben führen zu können, als er nach Hamburg zurückkehrte. Er kam in Kontakt mit der Hitler-Jugend. In Wenzendorf, einem kleinen Ort im heutigen Landkreis Harburg, wurde ihm am 14. Oktober 1943 ein "Schießbuch der Hit­ler-Jugend, Gebiet Hamburg (26), Wehrertüchtigungslager", ausgestellt. Gerhard lernte das Morse-Alphabet. In einem Leistungsbogen der Hitler-Jugend sind im September und Oktober 1943 or­dentliche sportliche und geistige Leistungen ausgewiesen. Den 3000 m-Lauf schaffte er in 11,34 Minuten, den 100 m-Lauf in 13,4 Sekunden. In Kartenkunde erhielt er die Note b. Die Bedingungen zum Erwerb des so genannten K.-Scheins der Hitler-Jugend erfüllte er mit "gut". Den K.-Schein gab es nach erfolgreicher Schieß- und Geländeausbildung sowie für allgemeine Haltung. Gerhard nahm im Oktober/November 1943 an einem weiteren Lehrgang der Hitler-Jugend "mit Erfolg" teil, diesmal im damaligen Wehrertüchtigungslager II der Marine-Hitler-Jugend in Schlesiersee, Kreis Glogau. Gesamtnote: "ziemlich gut". Der Landkreis Glogau lag im früheren Schlesien. Er bestand als preußisch-deutscher Landkreis in der Zeit zwischen 1816 und 1945. Schlesiersee (bis 1937 Schlawa) war eine von drei Städten in diesem Landkreis.

Diese Bewertungen passen so gar nicht zu denen aus den Alsterdorfer Anstalten.
Im Anschluss an das so genannte Wehrertüchtigungslager arbeitete Gerhard bei dem Unternehmen für Apparatebau E.-Aug.-Schmidt Söhne in der Herderstraße auf der Uhlenhorst. Er wohnte zunächst im Männerwohnheim der Firma. Dies duldete jedoch der Leiter des benachbarten Jugendwohnheims der Hitler-Jugend nicht. Gerhard Schlie meldete sich daraufhin im Jugendwohnheim der Hitler-Jugend, Bachstraße 23, ebenfalls auf der Uhlenhorst, polizeilich an. Als Vornamen gab er nur Gerhard an, als letzte Wohnung ein Untermietverhältnis in Altona. Später schrieb der Leiter des HJ-Heims, Jacobs: "Er hat sich hier an Ordnung und Sauberkeit schnell gewöhnt. Klagen von Kameraden über ihn sind mir nicht zu Ohren gekommen. Den Kameraden gegenüber war er stets hilfsbereit und zuvorkommend."

Die kurze Zeit in relativ selbstbestimmter Freiheit endete am 8. Januar 1944. Laut Krankenakte kam das so: "Patient fuhr nach seiner Flucht aus den Anstalten von Altona nach Heide in Holst. Bezahlt hat er die Fahrt nicht, da er einen Zug für Ausgebombte benutzte. In Klingsfeld bei Heide hat er eine Woche für Essen und Unterkunft bei einem Bauern gearbeitet. Von hier aus ist er dann weiter nach Niebüll gefahren, übernachtete dort etwa eine Woche beim D.R.K. und hat auch in dieser Woche nicht gearbeitet. Dann hat er ca. 4–5 Wochen in Niebüll bei einem Bauern namens Franz Franzen für Kost und Unterkunft gearbeitet und zum Schluss bekam er von dem Bauern RM 20,–. In Niebüll hat er sich als Bombengeschädigter ausgegeben und sich unter diesen Angaben ca. RM 80,– und Lebensmittelkarten verschafft.

Am 10.8. bekam er eine Aufforderung, nach Hamburg zurückzukehren, er bekam von der NSV eine Fahrkarte und nochmals RM 20,–. In Hamburg meldete er sich beim Arbeitsamt, wurde von dort nach dem Nagelsweg 10 geschickt und von hier aus zum Wehrertüchtigungslager Glogau mit mehreren jungen Leuten in Marsch gesetzt. Der Kursus dauerte ca. 4 Wochen. Nach Ablauf dieser Zeit kam Pat. nach Hamburg zurück und meldete sich erneut beim Arbeitsamt, das ihn zu der Firma Schmidt & Söhne vermittelte. Hier verdiente er einen Stundenlohn von 32 Pfg., Unterkunft und Verpflegung bekam er im Lehrlingsheim Bachstr. 23. Am 28.12. meldete Pat. sich krank und wurde arbeitsunfähig geschrieben. Durch seinen Onkel, dem er einen Gruß bestellen ließ, wurde Pat. zur Anzeige gebracht. Die Polizei holte ihn vom Lehrlingsheim und meldete der Anstalt die Festnahme."
Am Nagelsweg 10 befand sich zu dieser Zeit das damalige Amt für Jugendpflege und Jugendertüchtigung, zu dessen Aufgabenbereich auch "Heime" gehörten.

Gerhards Onkel war offenbar die Tragweite seiner Anzeige nicht bewusst, so erzählte er später jedenfalls. Er hatte es auch nicht für nötig gehalten, seinen Bruder Willy Schlie und dessen Familie von Gerhards Rückkehr zu unterrichten.

Gerhard wurde noch am Tage seiner Festnahme in die Alsterdorfer Anstalten zurückgeholt und in den Wachsaal gelegt. Seine Mutter erfuhr davon durch eine Postkarte:
"11. Januar 1944
Hierdurch teilen wir Ihnen mit, dass Ihr Sohn Gerhard sich seit heute wieder in den Alsterdorfer Anstalten befindet.
Heil Hitler"

In der Anstalt erwartete Gerhard nichts Gutes. Er arbeitete nun in der Strafkolonne, über die nichts Näheres bekannt ist. Sein Widerstandsgeist war noch nicht gebrochen. Er wurde jetzt als "sehr bequem und faul" beschrieben, der "zu jeder ihm aufgetragenen Arbeit in Opposition" stehe, "er muss dauernd angetrieben werden". Anfang Februar 1944 hieß es: "Bei der Arbeit äußerst widerspenstig, versucht auch andere Jungen von der Arbeit aufzuhalten. Da er die ganze Kolonnenarbeit aufhält, bleibt er vorläufig im Wachsaal und wird mit Hausarbeit beschäftigt."

Kreyenberg schrieb am 12. Januar 1944 an die Kriminalpolizei Hamburg: "Es handelt sich bei dem Patienten um einen charakterlich äußerst minderwertigen Jungen, der es verstanden hat, durch falsche Angaben sich sowohl Geld als auch Bezugsscheine für Kleidung zu erschwindeln. Überdies hat er es verstanden, als Halbjude einen Kursus im Wehrertüchtigungslager der Marine H.-J. mitzumachen. Patient gab ohne Umschweife zu, sich als Bombengeschädigter ausgegeben zu haben und sich Geld, Bezugsscheine und Kleidung erschwindelt zu haben. Er ist durchaus imstande, das Ungesetzliche seiner Handlungsweise einzusehen. Eine strenge Bestrafung dieses zu kriminellen Handlungen neigenden Halbjuden ist unbedingt erforderlich.
Gez. Dr. Kreyenberg
Ltd. Oberarzt"

Der bisher immer als "debil", "intellektuell stark unterbegabt" beschriebene Gerhard Schlie war" [nun] durchaus imstande, das Ungesetzliche seiner Handlungsweise einzusehen".
Nach nur 16 Tagen, am 2. Februar 1944, lag die Anklageschrift des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Hamburg gegen Gerhard Schlie vor : "Der Zögling Gerhard Schlie … wird angeklagt, zu Niebüll im Juli/August 1943 die Stadtgemeinde um RM 80,– und die NSV um eine Fahrkarte und RM 20,– dadurch betrogen zu haben, dass er sich zu Unrecht als bombengeschädigt ausgab. Vergehen, strafbar nach § 263 StGB [Betrug] in Verbindung mit §§ 1, 3, 5 R.J.G.G."

Die erste Gerichtsverhandlung am 22. März 1944 musste wegen Fliegeralarms unterbrochen werden. Gerhard wurde schon jetzt in Haft genommen. Das Urteil vom 24. März lautete auf vier Monate Jugendgefängnis. Am Schluss seiner Patientenakte in den Alsterdorfer Anstalten findet sich der Satz: "Gilt ab heute als aus den Anstalten entlassen."

Dort steht auch, dass Gerhard im Anschluss an seine Gefängnisstrafe ins Arbeitslager Glasmoor gebracht werden sollte. In Glasmoor ist Gerhard jedoch nie gewesen. Er wurde nach der Verurteilung sofort ins Untersuchungsgefängnis überstellt. Nach einem Monat wurde er am 22. April 1944 in das Gefängnis Neumünster verlegt. Hier blieb er bis zum 13. Juli 1944, fast drei Monate. Die restliche Strafe verbüßte er ab 14. Juli bis zum 21. August 1944 im Männergefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel.

Seine letzte nachgewiesene Strafstation war dann das Polizeigefängnis Hütten. Im Schriftsatz aus Neumünster vom 10. Juni 1944 hieß es am Schluss: "In den Urteilsgründen ist erwähnt, daß Schlie ‚Halbjude‘ sei. … Eine Unterbringung im Jugendschutzlager erscheint gerechtfertigt."

Gemeint war ein Jugendkonzentrationslager. Höchstwahrscheinlich wurde Gerhard jedoch in das Konzentrationslager Neuengamme überstellt. Von dort existiert eine Postkarte an seine Mutter, die Familie Schlie aufbewahrt hat. Sie datiert vom 28. Ja­nuar 1945, Absender: Gerd Schlie, Hamburg-Neuengamme, Heeresweg 65. Gerhard schrieb: "Liebe Mama, nun endlich darf ich Dir eine Nachricht zusenden. Diese Zeilen schreibt ein Kamerad, da ich eine Stelle an der Hand habe. Hast du meinen letzten Brief erhalten? Leider habe ich immer noch keine Nachricht von Euch bekommen. Wie habt Ihr Weihnachten verlebt? War Papa auf Urlaub? Für das letzte Päckchen mit seinen schmackhaften Inhalten sage ich Dir meinen herzlichen Dank. Vor allem die Rauchwaren haben mir sehr große Freude gemacht. Wie geht es denn den Jungens? Und was gibt es sonst Neues? Ich warte sehr auf die erste Nachricht von Dir. Herzliche Grüße Dein Gerd"

Mit diesem letzten Lebenszeichen endet die Geschichte von Gerhard Isidor Schlie. Seine Angehörigen haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ein Nachweis, dass er in den letzten Kriegsmonaten im KZ Neuengamme oder im Zuge der Räumung des Konzentrationslagers oder bei der Versenkung in der Neustädter Bucht (MS Cap Arcona, MS Thielbeck) zu Tode gekommen ist, existiert nicht, wird von seinen Angehörigen aber als wahrscheinlich angenommen.

Dem Enkel von Gerhards Stiefvater Willy Schlie teilte das Archiv der Gedenkstätte Neuengamme im Zuge einer vor Jahren begonnenen Recherche mit, dass es unmittelbar vor der Evakuierung des Lagers keine Ermordungen von Häftlingen gegeben hat.
Die Tatsache, dass Gerhard Schlie (wie auch andere Mithäftlinge) nirgends in den Akten zu finden war, muss auf das heillose Durcheinander zurückgeführt werden, das vor und während der Auflösung des KZ Neuengamme herrschte.

Eine Flucht während der Evakuierung scheint unwahrscheinlich, da die Evakuierung unter strenger Bewachung der SS stand. Zudem konnte das Archiv dem Enkel von Willy Schlie auch keine Hinweise oder Anhaltspunkte geben, dass es überhaupt zu nennenswerten Fluchtversuchen während der Evakuierung gekommen ist.

Es ist sicher davon auszugehen, dass Gerhard Isidor Schlie das Kriegsende nicht überlebt hat. Er wurde neunzehn Jahre alt.

© Ingo Wille

Quellen: Evang. Stiftung Alsterdorf, Patientenakten der Alsterdorfer Anstalten, 2652 (Gerhard Isidor Schlie)

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