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Charlotte Stempel (geborene Fischer) * 1881

Brunsstraße 10 (Harburg, Harburg)


HIER WOHNTE
CHARLOTTE
STEMPEL
GEB. FISCHER
JG 1881
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Weitere Stolpersteine in Brunsstraße 10:
Leo Stempel

Leo (Lemel) Stempel, geb. am 13.3.1904 in Zolynia, deportiert nach Polen
Charlotte (Scheindel) Stempel, geb. Fischer, geb. am 1.4.1881 in Niemirow, deportiert nach Auschwitz am 11.7.1942

Stadtteil Harburg, Brunsstraße 10

Als Charlotte als Kind jüdischer Eltern in ihrem Geburtsort am Bug das Licht der Welt erblickte, mögen bei einigen Menschen, die hier wohnten, nach der Ermordung des russischen Zaren Alexanders II. leichte Hoffnungen auf bessere Zeiten aufgekeimt sein, die aber schnell wieder verflogen. Auch sein Nachfolger setzte die unerbittliche Russifizierungspolitik, die in den Vorjahren praktiziert worden war, unbeeindruckt fort. Der Gebrauch der polnischen Sprache blieb weiterhin in der Öffentlichkeit und in der Kirche verboten. Diese Verordnung war bei weitem nicht das einzige Mittel, mit dem Alexander III. seine Herrschaft im "Weichselgouvernement", wie dieser westlichste Teil des Russischen Reiches jetzt offiziell genannt wurde, zu festigen versuchte.

Mit 21 Jahren heiratete die junge Charlotte ihren Mann, den zwei Jahre älteren, ebenfalls jüdischen Produktenhändler Karl (Kalman) Stempel (*7.8.1879). Am 10. Oktober 1902 kam ihre gemeinsame Tochter Frieda (Chinke Malke) in Niemirow zur Welt. Bald darauf verließ die junge Familie wie viele andere, die nicht länger in Not und Armut leben wollten, ihren Wohnsitz am Bug und zog nach Zolynia in Galizien, wo Karl Stempels Familie zu Hause war und unter österreichischer Herrschaft nicht so zu leiden hatte wie ihre Landsleute im Weichselgouvernement. Hier hatte der Lebensweg Leo (Lemel) Stempels begonnen.

Doch der Aufenthalt des jungen Ehepaares in Galizien war nicht von langer Dauer. Was die Familie bewog, nach so kurzer Zeit wieder eine andere Heimat zu suchen und wie sie auf diesem Wege schließlich nach Harburg gelangte, bleibt womöglich für immer ungeklärt. Feststeht, dass sie nicht die einzigen waren, die damals in der preußischen Industriestadt an der Elbe Arbeit und ein neues Zuhause fanden.

Unter den Zuwanderern waren neben vielen Menschen aus den ländlichen Gebieten des Deutschen Reiches auch zahlreiche Männer und Frauen aus Osteuropa, und darunter überproportional viele Juden. Ihr Verhältnis zu den alteingesessenen Familien der Harburger Synagogengemeinde war nicht immer spannungsfrei. Diese Familien, die bereits seit längerem in Harburg lebten, waren im Allgemeinen gutsituiert und auf Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft bedacht. In religiösen Fragen waren sie viel liberaler als die stark orthodox orientierten "Ostjuden", die konsequent an ihren jüdischen Traditionen und Riten festhielten und beruflich oft im Kleinhandel tätig waren. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass die alteingesessenen jüdischen Familien sich als Deutsche fühlten und zumeist die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, während die osteuropäischen Zuwanderer mehrheitlich staatenlos waren und in Preußen nur eingeschränkte politische Rechte hatten. Aber trotz mancher Unterschiede hielten die Mitglieder der Harburger Synagogengemeinde zusammen, wozu nicht zuletzt auch der zunehmende Antisemitismus der Harburger Gesellschaft nach 1918 beigetragen haben mag. Dass die Gemeinde unterschiedslos im Rahmen ihrer Möglichkeiten jedem half, der sich in Not befand, wusste auch Karl Stempel nur zu gut.

Hier in Harburg wuchs die Familie: Am 22. August 1909 wurde die Tochter Regina geboren. Der Weg in die erhoffte bessere Zukunft war für die fünfköpfige Zuwanderfamilie in den entbehrungsreichen Jahren des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Umbaus des Kaiserreiches in eine Demokratie aber schwerer, als zunächst gedacht. Karl Stempel konnte seine Frau und seine Kinder mit seinem Altwarenhandel nicht immer hinreichend ernähren. Weil wiederholt Mietschulden anstanden, wurde die Familie zweimal aus ihren jeweiligen Wohnungen in der Lasallestraße und in der Wilstorfer Straße heraus geklagt. Danach musste sie sich jahrelang mit einer viel zu kleinen Einzimmerwohnung in der Brunsstraße zusammendrängen. Und auch hier ließ Karl Stempel seine Vermieterin oft auf die fällige Miete warten. Später gewährte das Wohlfahrtsamt ihm Mietbeihilfe.

1929 waren seine Einnahmen so gering, dass er beim Harburger Wohlfahrtsamt öffentliche Unterstützung beantragen musste, die er anfangs nur vorübergehend – und ab 1932 für unbestimmte Zeit – in Anspruch nahm. Nach 1933 wurde die Lage für ihn wie für alle Empfänger öffentlicher Wohlfahrtsunterstützung noch schwieriger. Nachdem er zwischendurch noch als Hausierer sein Glück versucht hatte, musste er 1935 dies aufgeben, als der Harburger Magistrat ihm die erforderliche Arbeitserlaubnis entzog. Unter strengen Auflagen bezog die Familie noch einmal öffentliche Unterstützung, die in Anbetracht der Berufstätigkeit der beiden Töchter entsprechend gekürzt wurde. Das änderte sich nur wenig, als Regina Stempel 1936 in die USA auswanderte.

Die finanziellen Schwierigkeiten wurden noch größer, als Karl Stempel 1937 schwer erkrankte und mehrere Wochen im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg behandelt werden musste. Als er im April 1937 starb, konnte seine Frau die fälligen Rechnungen des Krankenhauses und des Beerdigungsinstituts nicht aus eigenen Mitteln, sondern nur mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde und des Harburger Wohlfahrtsamtes begleichen. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs gelang ihrer ältesten Tochter Frieda in aller letzten Minute die Flucht nach Großbritannien.

Charlotte Stempel und ihrem 30jährigen Sohn blieb dieser Weg versperrt. Wie hätten sie das dafür nötige Geld aufbringen und ein entsprechendes Einreisevisum erwerben sollen?
Wann Leo Stempel nach Polen deportiert wurde und wie sein Leben dort endete, ist nicht mehr zu klären.
Seine Mutter verlegte ihren Wohnsitz – vermutlich zwangsweise – nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Harburg nach Altona und wurde am 11. Juli 1942 vom Hannoverschen Bahnhof im Hamburger Hafen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Stand Dezember 2015

© Klaus Möller

Quellen: Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch, Jürgen Sielemann, Paul Flamme (Hrsg.), Hamburg 1995; Staatsarchiv Hamburg, AfW 351-11, 4893;Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victims´ Names: www.yadvashem.org; Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Bundesarchiv (Hrsg.), Koblenz 2006; Matthias Heyl, `Vielleicht steht die Synagoge noch!´ – Jüdisches Leben in Harburg 1933–1945, Norderstedt 2009.

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