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Ingrid Hahn, 1939 (deren Kopf gestützt wird)
Ingrid Hahn, 1939 (deren Kopf gestützt wird)
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ingrid Hahn * 1933

Desenißstraße 54 (Hamburg-Nord, Barmbek-Süd)


HIER WOHNTE
INGRID HAHN
JG. 1933
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 7.8.1943
HEILANSTALT EICHBERG
ERMORDET 1.9.1943

Ingrid Hahn, geb. 10.8.1933 Hamburg, Alsterdorfer Anstalten 2.12.1939, verlegt 7.8.1943 Heil- und Pflegeanstalt Eichberg/Rheingau, ermordet 1.9.1943 Eichberg

Desenißstraße 54

Ingrid Hahn wurde in eine Barmbeker Familie hinein geboren. Ihre Mutter Anni, geb. Mohr, war bei Ingrids Geburt 21 Jahre alt. Sie war vier Jahr jünger als der Vater Bruno Hahn. Er arbeitete als Kraftfahrer, seine beiden Brüder Willi und Walter als Tischler bzw. Maschinenbauer, der Großvater Hermann war ebenfalls Tischler. Der Großvater mütterlicherseits war als Soldat im Ersten Weltkrieg gestorben, die Großmutter lebte noch, als Ingrid geboren wurde. Ingrid wurde in der evangelisch-lutherischen Kirche getauft.

Sie war ein 8-Monatskind, ihre Geburt war leicht, und ihre Mutter konnte sie stillen. In ihrer Entwicklung gab es jedoch einige Auffälligkeiten, weshalb sie im Alter von neun Monaten im Kinderkrankenhaus in der Baustraße (heutige Hinrichsenstraße) aufgenommen wurde, das zum Krankenhaus St. Georg gehörte. Dass es sich um die ersten Anzeichen ihrer späteren Krankheit handelte, wurde erst nach einiger Zeit erkannt. Es vergingen zwei Jahre nach ihrer Rückkehr nach Hause bis zu einem erneuten Krankenhausaufenthalt, dieses Mal im Barmbeker Krankenhaus, dem ein weiterer folgte. Ingrid hatte mit zweieinhalb Jahren Gehen gelernt, lernte aber nie zu sprechen, sondern gab nur quietschende Laute von sich. Als einzige "Kinderkrankheit" hatte sie Masern.

Die zweite Jahreshälfte 1939 brachte der Familie Hahn außer dem Kriegsbeginn eine weitere Herausforderung. Am 25. September 1939 wurden die Zwillingsbrüder B. und H. geboren. Da angenommen wurde, dass Ingrid die Säuglinge durch ihr unkontrolliertes Verhalten gefährde, wurde sie von ihnen getrennt. Sie hatte sechs Jahre bei den Eltern gelebt und wurde nun mit der Diagnose "Erethischer Schwachsinn" (Geistesschwäche mit erhöhter Reizbarkeit) als Krankenhauspatientin in die damaligen Alsterdorfer Anstalten überwiesen. Die Krankenkasse ihres Vaters kam für die Kosten auf.

Am 2. Dezember 1939 wurde Ingrid Hahn in "Alsterdorf" aufgenommen. Bei ihrer Aufnahme zeichnete der Stellvertreter des ärztlichen Direktors, Gerhard Kreyenberg, der eine zentrale Bedeutung in der Umsetzung der Erbgesundheitsgesetzgebung in Hamburg hatte, für das Rasseamt eine "Sippentafel", einen Stammbaum der Familie über drei Generationen. Außer Ingrid wies kein Familienmitglied eine Behinderung auf. Eine erbliche Belastung als Erklärung für Ingrids Leiden schied demnach aus, eine andere Ursache fand sich ebenso wenig.

Zuhause war Ingrid in der Lage gewesen, sich selbst auszuziehen und morgens ihren Kaffee zu trinken. Sie hatte gern gegessen und war umgänglich, kannte ihren Namen und erkannte Personen und Gegenstände. Bei ihrer Aufnahme in "Alsterdorf" musste sie vollkommen versorgt werden, sprach nicht, schrie aber durchdringend. Sie beschäftigte sich nur kurze Zeit mit Spielzeug, kaute dann darauf herum oder warf es weg. Gebärdete sie sich zu wild, wurde ihr eine "Schutzjacke", im Volksmund "Zwangsjacke" genannt, angelegt.

Als eine Besserung oder gar Heilung ausgeschlossen erschien, stellte die Krankenkasse ihre Zahlungen ein und an ihre Stelle trat die Hamburger Sozialverwaltung. Mit Schreiben vom 2. Januar 1942 erkannte sie Ingrid Hahns Anstaltspflegebedürftigkeit bis 30. April 1944 an. Dann sei bei Bedarf ein kurzer Bericht mit einer Stellungnahme wegen einer Verlängerung zu senden. Dazu kam es nicht mehr.

In der ersten Hälfte des Jahres 1940 wurde Ingrid Hahn mehrfach zwischen ihrer Abteilung und der Krankenstation verlegt. Sie litt unter grippalen Infekten und Lungenproblemen. Im Allgemeinen lasse sie sich gut leiten, hieß es im Krankenpflegebericht, sie spreche einzelne Silben, kenne ihre Umgebung und könne tagsüber trocken gehalten werden. Offenbar aß sie auch selbstständig und brauchte nur noch Hilfe beim An- und Ausziehen und bei der Körperpflege. Da sie sich ihren Mitpatientinnen gegenüber meist aggressiv verhielt, besonders nachts, musste sie zeitweilig allein schlafen.

Das Jahr 1941 endete mit einer Darminfektion und dem Verdacht auf Diphtherie, so dass sie den Jahreswechsel auf der Krankenstation verbrachte. Kaum entlassen, erkrankte sie an Mumps. Nach zwei weiteren Diphtherie-Schutzimpfungen gab es 1942 keine weiteren Unterbrechungen ihres Alltags. Er wurde am 14. Mai 1942 so beschrieben und in den Berichten an die Kostenträger aufgenommen: "[Die] Pat[ientin] war schon immer sehr unruhig und laut, in der letzten Zeit ist es aber noch schlimmer geworden. Sie schläft sehr wenig, schreit und kreischt furchtbar laut. Soll sie angezogen werden, wirft sie sich auf den Fußboden, und es ist kaum möglich, sie anzuziehen. Hat sie keine Schutzjacke an, zerreißt sie ihr Zeug oder zieht sich aus. Vor einiger Zeit bekam sie Paraldehyd zur Beruhigung, danach hatte sie aber Erbrechen und der Appetit ließ nach. Pat. bekommt bei Bedarf 0,05 [ml] Luminal." Luminal war ein Anti-Epileptikum, das auch heute noch eingesetzt wird.

Ingrids Hahns Unruhe ließ sich offenbar nur durch Medikamente dämpfen. Zudem trug sie fast ständig eine Schutzjacke, weil sie sonst alles zerriss. Vermutlich war ihre "Unbändigkeit" der Grund, weshalb sie am 7. August 1943 dem ersten Transport von Kranken zur Entlastung der damaligen Alsterdorfer Anstalten nach den alliierten Großangriffen im Juli/August 1943, durch die auch die Anstalt beschädigt worden war, zugeteilt wurde.

Dieser Transport ging ins Rheingau, das als luftsicheres Gebiet galt. Ihm gehörten insgesamt 128 Kinder und Männer aus "Alsterdorf" und 82 Männer aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn an. Sie wurden auf die Anstalten Kalmenhof/Idstein und Eichberg bei Eltville am Rhein verteilt. Die 28 Alsterdorfer Kinder, die zum Teil in ihren Schutzjacken aufeinander liegend transportiert wurden, kamen in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg.

Die Anstalt hatte in der Aktion T4 als Durchgangsanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar gedient und im Rahmen des Euthanasieprogramms des "Reichsausschusses für die Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" eine "Kinderfachabteilung" erhalten. In einem bürokratisch sehr komplexen Verfahren wurden "arische" Säuglinge und Kleinkinder dorthin überwiesen, beobachtet, von einem Gutachterausschuss als lebenswert oder lebensunwert beurteilt und gegebenenfalls getötet.

Der Transport traf zwei Tage vor Ingrid Hahns zehntem Geburtstag am Zielort ein. 20 der Hamburger Kinder wurden nach ihrer Ankunft direkt in die "Kinderfachabteilung" gebracht, unter ihnen auch Ingrid, die übrigen auf die Frauenabteilung. Ingrid war nur mit Hemd und Jacke bekleidet, vermutlich auch mit einer Schutzjacke.

Die erste Gruppe wurde bald nach der Ankunft, ohne das "Reichsausschuss"-Verfahren durchlaufen zu haben, ermordet, die übrigen Acht folgten nach ihrer Verlegung in die "Kinderfachabteilung" innerhalb der beiden nächsten Monate, ausgenommen eine Fünfzehnjährige.

Ingrid Hahn wurde am 1. September 1943 ermordet und auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt. Sie wurde zehn Jahr alt.

Ingrids ehemaliges Zuhause in der Desenißstraße war durch alliierte Luftangriffe zerstört worden, die Eltern fanden im Kreis Salzwedel eine Unterkunft, von wo sie sich umgehend nach ihrer Tochter erkundigten. Erst dann erfuhren sie von Ingrids Verlegung in die damalige Heilanstalt Eichberg und gleichzeitig von ihrem Tod. Sie baten die Leitung der Alsterdorfer Anstalten um die Bereitstellung von Ingrids Papieren und ihrer Privatkleidung. Die Papiere wurden der Mutter zugesandt, was aus der Kleidung wurde, ist nicht bekannt. Ihre Seifenkarte blieb in der Akte zurück.

Stand: November 2016
© Hildegard Thevs

Quellen: Hamburger Adressbücher; Archiv der Ev. Stiftung Alsterdorf, V 032; Michael Wunder et. al.: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr, Hamburg, 2. Aufl. 1988.

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