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Bereits verlegte Stolpersteine



Erwin Horschitz 1922 in Reinbek
© Archiv David Blank, Jerusalem

Erwin Horschitz * 1878

Rothenbaumchaussee 31 (Eimsbüttel, Rotherbaum)

1943 Theresienstadt
Flucht in den Tod
31.3.1943

Siehe auch:

Weitere Stolpersteine in Rothenbaumchaussee 31:
Edgar Horschitz, Jenny Landjung, Helene Lurie, Hertha Wohl, Erich Wohl

Erwin Moritz Horschitz, geb. 29.9.1878 in Hamburg, deportiert am 24.3.1943 nach Theresienstadt, Suizid 31.3.1943

Rothenbaumchaussee 31

Erwin Moritz Horschitz wurde als erstes Kind des Kaufmanns Julius Horschitz (geb. 1843 in Kassel) und Ilka Betty Horschitz, geb. Fleischel (geb. 1854 in Leipzig) in Hamburg geboren. Die Eheleute hatten 1877 in Hamburg geheiratet. Julius Horschitz war von 1878 bis 1906 Gesellschafter bei "Arnthal & Horschitz Gebr.", er hatte diese Stellung von seinem Vater Moritz (Moses) Horschitz (1812-1877) übernommen. Erwins Großvater Moritz (Moses) Horschitz hatte in Kassel ein einträgliches Wollhandelsunternehmen geführt, das über Filialen in Hamburg und London verfügte und später zu den Produkten Getreide, Kaffee und Zucker wechselte. In der weit verzweigten Familie Horschitz traten einige Familienmitglieder ab den 1880er Jahren zum Christentum über, während insbesondere die älteren Familienmitglieder an der jüdischen Religion festhielten. Das Hamburger Bürgerrecht erwarb Julius Horschitz 1881.

Nach Erwin wurden die Geschwister Walther (1880-1945), Katharina (1882-1942), Richard (1884-1947) und Edgar (1887-1942) in der Hansestadt geboren. Im Oktober 1888 ließen die Eltern Erwin Horschitz und seine vier Geschwister in der evangelischen Kirchengemeinde St. Georg taufen – die Eltern wurden auch hier mit jüdischer Religion verzeichnet. Die Familie wohnte in der Heimhuderstraße 35/ Rotherbaum (1878-1882) und Heimhuderstraße 18/ Rotherbaum (1883-1889) sowie Alsterkamp 8 (1890-1897).

Im September 1897 legte Erwin Horschitz am renommierten Hamburger Wilhelm-Gymnasium (Rotherbaum) das Abitur ab. Seine Eltern waren bereits im April 1897 von Hamburg nach Kassel-Wilhelmshöhe verzogen. Im Wintersemester 1897/1898 studierte er Chemie an der Ingenieurhochschule in München, eine der größten ihrer Art in Deutschland. Er wohnte in München der Schleissheimerstr. 6/2. An welche Hochschule er danach wechselte, wissen wir nicht. Im August 1900 zog Erwin Horschitz für 70 Tage (während der Semesterferien) von Berlin nach Kassel zu seiner Mutter, der Vater scheint dauerhaft in England gelebt zu haben. Die seit 1897 geführte Kasseler Meldekarte wies inzwischen auch die Mutter mit lutherischer Religionszugehörigkeit aus.

Erwins Bruder Richard Julius Horschitz (geb. 13.11.1884 in Hamburg) zog 1897 nach Kassel, wo er bis April 1904 lebte. Von Kassel verzog er 1904 nach Freiburg/ Sachsen. Richard Horschitz besuchte erfolgreich eine Hochschule und wurde Diplom-Ingenieur; er nahm 1914 bis 1918 am Krieg teil und verzog danach in den Bezirk Halle.

Der Bruder Walther Horschitz (geb. 27.5.1880 in Hamburg) leistete seinen einjährigen Militärdienst beim Badischen Feld-Artillerie-Regiment 50 ab, war als Kaufmann tätig und wurde zum Krieg eingezogen, zuletzt bekleidete er den Dienstrang eines Hauptmanns der Reserve. Im Dezember 1918 kehrte er nach Kassel zurück.

Neben der Möglichkeit zu studieren bot sich Erwin Horschitz in der kaiserlichen Klassengesellschaft eine weitere Möglichkeit, Ansehen im gesellschaftlichen Status zu erwerben: der einjährige verkürzte Militärdienst gewährte nach einiger Zeit den Aufstieg zum Reserveoffizier. Für diesen Prestigegewinn war auch die Einheit nicht unwichtig, in der jemand gedient hatte. Möglicherweise halfen Kontakte des Onkels Oskar Sally Horschitz (1866-1910), der seinen Militärdienst in Badens Hauptstadt Karlsruhe abgeleistet hatte. Ab Oktober 1900 versah Erwin Horschitz seinen einjährigen Militärdienst beim 1. Badischen Feldartillerie Regiment Nr.14 in Karlsruhe (FAR 14), das in die preußische Armee eingegliedert war.

In den Hamburger Adressbüchern von 1901 bis 1911 wurde Erwin Horschitz nicht als Hauptmieter verzeichnet.

Seit Oktober 1897 lebte Erwins Vater in England, wo er im Oktober 1910 in der Gartenstadt Hampstead bei London starb. Zeitweilig hielt sich dort auch der Bruder Edgar (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) auf. Die Mutter Ilka lebte von 1897 bis 1900 in Wilhelmshöhe bei Kassel zur Untermiete (Stahl?straße 6 bei Roth) und von 1900 bis 1906 in Kassel (Kaiserstraße 68 bei Meyer) sowie von 1911 bis 1921 ebenfalls in Kassel in der Kaiser-Friedrichstraße 2.

Seine vier Jahre jüngere Schwester Toni Katharina Jeanette Horschitz (geb. 9.2.1882 in Hamburg) heiratete im Mai 1905 in Kassel den Amtsrichter Arthur Felix Goldschmidt (geb. 30.4.1873 in Berlin). Seit 1916 lebten die Eheleute Goldschmidt in Reinbek (Kückallee) bei Hamburg. Dort dürfte sie auch ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert haben, vermutlich wurde bei diesem Anlass auch das obige Foto von Erwin Horschitz aufgenommen. Arthur Goldschmidt wurde zum 30. November 1933 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Im Oktober 1941 erhielten die Eheleute ihren Deportationsbefehl, der "wohl dank des Eingreifens des Reinbeker Bürgermeisters Claussen noch abgewendet werden konnte" (Morisse). Katharina "Kitty" Goldschmidt starb am 2. Juni 1942 in Hamburg im Jüdischen Krankenhaus (Johnsallee 68). Ihr Ehemann Arthur wurde am 19. Juli 1942 ins Getto Theresienstadt deportiert, wo er eine evangelische Gemeinde gründete; er überlebte und kehrte im September 1945 nach Reinbek zurück.

Doch zurück zu Erwin Horschitz: 1911 heiratete er in Hamburg Martha Elli Reimann (geb. 1885 in Berlin), die von Bankier Eduard C. Hamberg (1846-1926) und dessen Ehefrau Ida Hamberg, geb. Elkan (1851-1930) adoptiert worden war und auch deren Familiennamen führte. Zum Zeitpunkt der Hochzeit waren Erwin und Elli Horschitz Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirche. Trauzeugen waren Eduard C. Hamberg und Ida Hamburg, die im Mittelweg 57 (Rotherbaum) wohnten.

Anders als sein Vater wurde Erwin Horschitz nicht Kaufmann, sondern zunächst Diplom-Ingenieur. Möglicherweise war es die Erbschaft von seinem verstorbenen Vater, die ihm neue Perspektiven eröffnete. Denn im Oktober 1910 trat er als Kaufmann und persönlich haftender Gesellschafter in die 1900 gegründete Im- und Exportfirma für Manufakturwaren, Papier- und Eisenwaren J. de Lemos & Hess (Neuer Wall 54) ein. Sein im Dezember 1913 für Reisen nach Südamerika ausgestellter Reisepass dürfte einen geschäftlichen Hintergrund gehabt haben. Im März 1924 trat er als Gesellschafter aus der Firma wieder aus, die nun von Hans (Iwan) Hess (1870-1943) (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) als alleinigem Inhaber fortgeführt wurde. Über Erwin Horschitz anschließende berufliche Tätigkeit liegen uns keine Informationen vor.

Seine Hamburger Wohnadressen lauteten Isestraße 119 (1912), Geffckenstraße 30/ Eppendorf (1913-1918), Hagedornstraße 31/ Harvestehude (1919-1933), Schäferkampsallee 31 (1934), Moorweidenstraße 14 (1935-1938) und Rothenbaumchaussee 31/ Ecke Johnsallee (u.a. 1939-1941).

Ab 1933 wurde er aufgrund seiner jüdischen (Groß)Eltern im nationalsozialistischen Deutschland schrittweise ausgegrenzt und entrechtet. Da seine Ehefrau nichtjüdischer Herkunft war und die Kinder evangelisch getauft und erzogen worden waren, billigte der NS-Staat ihnen den Status "privilegierte Mischehe" zu, der zunächst vor der Deportation schützte, während sein lediger Bruder Edgar im Dezember 1941 in das Getto Riga deportiert wurde.

Doch Gefahr drohte Erwin Horschitz auch von anderer Seite: Von der Hausmeisterin seines Wohnhauses wurde er wegen "Volksverhetzung" bei der Gestapo angezeigt, die ihn vom 17. bis 29. November 1942 ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel verschleppte. Die dort erlittenen Misshandlungen und Erniedrigungen brachen seinen Lebenswillen.

Die Ehe, aus der die drei Kinder Gerda (1913-2005), Günter (1915) und Kurt Erwin (1916-2006) stammten, wurde auf Betreiben der Ehefrau am 11. März 1943 vom Landgericht Hamburg geschieden. Ob dies auf Versprechungen der Gestapobeamten beruhte, ihr Ehemann würde bei einer Scheidung in ein weniger strenges Lager gebracht, ist nicht bekannt, aber durchaus realistisch (vgl. Biografie Georg Blankenstein, www.stolpersteine-hamburg.de). Nur zwei Wochen später wurde der 64jährige Erwin Horschitz in das Getto Theresienstadt deportiert; eine Woche später nahm er sich dort mit Zyankali das Leben.

Am 17. April 1943 beauftragte die "Vermögensverwertungsstelle" des Oberfinanzpräsidenten von Hamburg den Hamburger Gerichtsvollzieher Bobsien, die folgenden Gegenstände von Erwin Horschitz zu veräußern, was am 17. und 18. Juni 1943 im Rahmen einer größeren Versteigerung geschah: ein alter Regenmantel, ein alter Hut und ein paar Herrenschuhe für insgesamt 3 RM an einen (Herrn) Netzoldt, einen Photoapparat für 15 RM an einen (Herrn oder Frau) Aude sowie einen Frack mit Weste und Hose für 30 Reichsmark an einen (Herrn) Kemstedt. Wie der NS-Staat gerade an diese Gegenstände gelangte und warum nicht umfangreichere Kleidungsbestände und Wertgegenstände von Erwin Horschitz aus dessen Wohnung beschlagnahmt wurden, ist nicht bekannt.

Im Juli 2007 wurden für Erwin Horschitz und seinen Bruder Edgar Horschitz vor dem Haus Rothenbaumchaussee 31 Stolpersteine verlegt.

An ihre Cousinen Gertrud Horschitz und Elsbeth Horschitz erinnern Stolpersteine in der Wellingsbütteler Landstraße 110.

Stand: Mai 2020
© Björn Eggert

Quellen: Staatsarchiv Hamburg (StaH) 214-1 (Gerichtsvollzieherwesen), 364 (Erwin Horschitz, Bekleidung u. Fotoapparat, 1943); StaH 231-7 (Handelsregister), A 1 Band 12 (Arnthal & Horschitz Gebr., HR A 3293); StaH 231-7 (Handelsregister), A 1 Band 43 (J. de Lemos & Hess, A 10463); StaH 314-15 (Oberfinanzpräsident), R 1939/2392 (Elly Horschitz geb. Reimann); StaH 332-5 (Standesämter), 8486 u. 609/1877 (Heiratsregister 1877, Julius Horschitz u. Ilka Betty Fleischel); StaH 332-5 (Standesämter), 8675 u. 51/1911 (Heiratsregister 1911, Erwin Horschitz u. Elli Hamberg); StaH 332-5 (Standesämter), 8085 u. 460/ 1926 (Sterberegister 1926, Eduard Hamberg); StaH 332-5 (Standesämter), 8102 u. 195/ 1930 (Sterberegister 1930, Ida Hamberg geb. Elkan); StaH 332-5 (Standesämter), 8180 u. 258/1942 (Sterberegister 1942, Katharina Goldschmidt); StaH 332-8 (Meldewesen), Alte Einwohnermeldekartei (1892-1925), K 6285 (Julius Horschitz, Richard Horschitz); StaH 332-8 (Meldewesen), A 24 Band 119 (Reisepassprotokolle 1897-1929), 4025/1913 (Erwin Horschitz); StaH 332-8 (Meldewesen), A 24 Band 321 (Reisepassprotokolle 1897-1929), 4911/1925 (Erwin Horschitz); StaH 342-2 (Militär-Ersatzbehörden), D II 91 Band 2 (Erwin Horschitz); StaH 342-2 (Militär-Ersatzbehörden), D II 43 Band 1 (Oskar Sally Horschitz geb. 1866); Kirchengemeinde St. Georg, Taufregister 936/1888 (19.10.1888: Erwin Horschitz, Walther Horschitz, Katharina Horschitz, Richard Horschitz, Edgar Horschitz); Kirchengemeinde St. Johannis zu Eppendorf, Taufregister 1913 (Gerda Horschitz), Taufregister 1915 (Günter Horschitz), Taufregister 1916 (Kurt Erwin Horschitz); Stadtarchiv Kassel, Melderkarten (Julius Horschitz, Ilka Horschitz geb. Fleischel, Edgar Horschitz, Erwin Horschitz); Technische Universität München (TUM), Archiv, Personalstandsverzeichnisse der TH München (Erwin Horschitz); Handelskammer Hamburg, Handelsregisterinformationen (J. de Lemos & Hess, gegr. 1900), Frank Bajohr, "Arisierung" in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1998, S. 363 (J. de Lemos & Hess); Franz Bömer (Hrsg.), Wilhelm Gymnasium Hamburg 1881-1956, Hamburg, S. 113 (Abitur Michaelis 1897, Erwin Horschitz); Heiko Morisse, Ausgrenzung und Verfolgung der Hamburger jüdischen Juristen im Nationalsozialismus, Göttingen 2013, S. 114-116 (Arthur Goldschmidt); Hamburger Adressbuch (Julius Horschitz) 1878, 1879, 1882, 1883, 1887, 1889, 1890, 1895; Hamburger Adressbuch (Erwin Horschitz) 1912-1913, 1915, 1918, 1919, 1924, 1927, 1930, 1932-1936, 1938, 1940, 1941; Hamburger Telefonbuch (Bergedorf) 1920 (Dr. A. Goldschmidt, Landrichter, Reinbek Kückallee 37, Rheinbach 2009; www.ancestry.de (Geburtsregister 1885 Berlin III, Martha Elli/Elly Reimann); Detlef Landgrebe, Kückallee 37- Eine Kindheit am Rande des Holocaust, , http://www.blankgenealogy.com/histories/Biographies/Horschitz/Erwin%20Horschitz%20Biography%20in%20German.pdf (eingesehen 29.8.2019); www.stolpersteine-hamburg.de (Georg Blankenstein, Iwan Hess).

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