Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Jean Ignatz Herr * 1874

Poolstraße links neben der Schule (Hamburg-Mitte, Neustadt)


HIER WOHNTE
JEAN IGNATZ HERR
JG. 1874
EINGEWIESEN 1943
HEILANSTALT MAINKOFEN
TOT AN DEN FOLGEN
9.7.1945

Jean Ignatz Herr, geb. am 11.7.1874 in Hamburg, gestorben am 9.7.1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen/Niederbayern

Poolstraße 6, links vor dem Eingang der Rudolf-Roß-Schule (Poolstraße 3)

Jean Ignatz Herr war als Sohn des Zigarrenarbeiters Peter Christian Herr und dessen Ehefrau Johanna Christine Elisabeth, geb. Devrient, in Hamburg zur Welt gekommen. Im Alter von 41 Jahren am 24. August 1915 heiratete er die in Hamburg geborene verwitwete Frieda Pauline Ella Cohen, geb. Woop (geb. 27.10.1889, gest. 16.8.1968). Zum Zeitpunkt der Eheschließung wohnten beide in der ehemaligen Schlachterstraße 19. Tochter Erna wurde am 27. November 1915 geboren. Um 1918 zog das Ehepaar in die Poolstraße 3, wo Jean Herr ein Optikergeschäft eröffnete.

Am ersten Weihnachtstag 1937 wurde Jean Herr bewusstlos in das Krankenhaus St. Georg eingeliefert. Später zwar ansprechbar, blieb er jedoch desorientiert. Die behandelnden Ärzte vermuteten bei dem 63-Jährigen zunächst eine Vergiftung, erfuhren dann aber von seiner Ehefrau, dass ihr Mann schon seit mehr als einem Jahr "geistig abgenommen" und in letzter Zeit auch getrunken habe.

Nach einer Enzephalographie, einer Untersuchung der Gehirnkammern, wurde bei Jean Herr eine bereits weit fortgeschrittene Demenzerkrankung diagnostiziert. Als "reiner Pflegefall" kam er am 6. Januar 1938 in die Psychiatrische und Nervenklinik der Hansischen Universität Hamburg, von dort wurde er am 31. Januar 1938 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn weiterverlegt. Mit der Begründung "findet sich oft im Hause nicht mehr zurecht" kam Jean Herr am 28. August 1939 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Dort verbrachte er die nächsten vier Jahre seines Lebens, als – wie in seiner Krankenakte vermerkt wurde – selbstständiger, gutmütiger und zufriedener Patient, der den Tag aber beschäftigungslos verbrachte. Fragen beantwortete er sinngemäß, nahm jedoch an seiner Umgebung wenig Anteil.

Als die Anstaltsleitung nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg die Gelegenheit wahrnahm, sich etlicher Bewohner zu entledigen, wurde Jean Herr am 10. August 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen in Niederbayern verlegt. Unter den 112 Patienten, die ausgewählt und in den Bussen der "Gemeinnützigen Krankentransport GmbH", kurz Gekrat, abtransportiert wurden, befanden sich auffällig viele ältere Männer.

Bei seiner Aufnahme in Mainkofen galt Jean Herr ebenfalls als unauffälliger Patient. Ende 1944 wurde auch dort vermerkt: "arbeitet nichts". Nach einer Verlegung innerhalb der Anstalt (Haus 18) las sich der letzte Akteneintrag wie folgt: "Seit seinem Hier sein bot Patient stets im Wesentlichen das gleiche psychische Zustandsbild. Er saß dauernd stumpf und teilnahmslos auf seinem Platz, ohne Interesse an den Vorgängen in seiner Umgebung zu zeigen; er verhielt sich aber ruhig und fügsam und machte nie Schwierigkeiten. Er sprach von selber nicht, gab aber auf Fragen Antworten, soweit es sich um Dinge der Gegenwart drehte; über Vorgänge aus seiner früheren Zeit gab er nichts heraus. Seit längerer Zeit öfter geschwollene Füße, weshalb er schon in Haus 9 öfter im Bett gelassen werden musste. Seit etwa 10 Tagen Durchfall, Lunge ohne Befund, Herztöne etwas leise. Heute 18 Uhr gestorben."

Zwar erlebte Jean Herr das Kriegsende, er starb am 9. Juli 1945, zwei Tage vor seinem einundsiebzigsten Geburtstag, offiziell an paralytischer Marasmus (geistigem Verfall), was in seinem Fall durchaus möglich sein könnte. Aber auch Pflegefälle wie Jean Herr, im Alter von Demenz betroffen, wurden Opfer der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik. Sie wurden als "Ballastexistenzen" angesehen, als "unwert" diskriminiert. Hohe Sterblichkeitsraten in den verschiedenen Anstalten wurden bewusst in Kauf genommen. Von den 112 gemeinsam mit ihm abtransportierten Alsterdorfer Patienten überlebten nur 39 Personen die schlechten Lebensbedingungen, wie "Hungerkost" und pflegerische Vernachlässigung, in der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen in Niederbayern.


Stand: Juli 2018
© Susanne Rosendahl

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 3267 u 495/1915; Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Patientenakten der Alsterdorfer Anstalten, V 406 Jean Herr; Wunder: Exodus, S. 205–209.

druckansicht  / Seitenanfang