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Ella Herre
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ella Herre * 1930

Wördemanns Weg 19-29 (Eimsbüttel, Stellingen)


HIER WOHNTE
ELLA HERRE
JG. 1916
EINGEWIESEN 1930
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
TOT AN DEN FOLGEN 1945

Ella Herre, geb. am 19.8.1916 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten am 15.9.1930, verlegt in die "Wagner von Jauregg – Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" am 16.8.1943, gestorben am 10.11.1945

Wördemannsweg 19-21, Stellingen

Ella Herre wurde am 19.8.1916 Hamburg geboren. Ihre Mutter, Gretchen Emilie Emma, geb. Sznyta, verwitwete Päper, geb. am 28.6.1884 in Stralsund, und ihr Vater, der verwitwete Werftarbeiter Andreas Wilhelm Herre, geb. am 11.3.1871 in Hamburg, heirateten am 12. Mai 1917. Das Ehepaar wohnte in der Bartelsstraße 31 im heutigen Stadtteil Sternschanze, später in der Straße Herrlichkeit 61 in Hamburg-Altstadt. Nachdem die Ehe im August 1920 geschieden worden war, heiratete Ellas Mutter 1925 erneut. Fritz Junge, ihr neuer Ehemann, wurde zu Ella Herres Vormund bestimmt.

Auch Ellas Vater ging eine neue Ehe ein. Er heiratete 1929 Auguste Homann. Diese Ehe war von kurzer Dauer, denn Andreas Wilhelm Herre starb am 18. November 1930 im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf.

Wir wissen nicht, bei welchem Elternteil Ella Herre nach der Scheidung ihrer Eltern lebte. Ihrer Patientenakte zufolge war sie seit dem ersten Quartal 1926 Bewohnerin des damaligen "Krüppelheims Alten Eichen", Wördemannsweg 19/29 in Stellingen, damals zu Altona gehörend. Diese Einrichtung wurde von der Inneren Mission getragen. Im Mittelpunkt der Arbeit des "Krüppelheims" standen neben chirurgisch-orthopädischen Behandlungen eine Anstaltsschule und eine Lehrwerkstatt. Aus den noch vorhandenen Unterlagen ist nicht ersichtlich, warum Ella Herre dort aufgenommen wurde. Eine körperliche Einschränkung wurde nicht vermerkt.

Am 11. Juli 1930 erklärte der Vertrauensarzt der Wohlfahrtsbehörde, Peter: "Am besten wäre […] Unterbringung in Alsterdorf. An eine nennenswerte Bildungsfähigkeit kann ich nicht glauben. Im übrigen wäre, wenn diese noch vorhanden, gerade Alsterdorf sehr geeignet." Ella Herres Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) erfolgte am 15. September 1930.

Über das inzwischen vierzehnjährige Mädchen wurde nach seiner Aufnahme in Alsterdorf notiert, es kenne zwar seinen Namen, seinen Geburtsort und seinen Geburtstag, könne aber nicht die Uhr lesen oder einfache Aufgaben des kleinen Einmaleins wie 2 X 2 lösen. Ella lebte sich den Berichten zufolge in der neuen Umgebung gut ein, war aber sehr schüchtern und antwortete auf Fragen nur zögernd und leise.

Am 29. März 1931 wurde Ella Herre in Alsterdorf konfirmiert. Die Alsterdorfer Anstalten luden Ellas frühere Betreuerin in "Alten Eichen" dazu ein: "Es würde uns, wie auch Ella Herre, eine Freude sein, wenn die Schwester, die ihr während ihres dortigen Aufenthaltes am nächsten stand, der Konfirmationsfeier […] beiwohnen und auch an dem folgenden Mittagessen teilnehmen möchte. Dürfen wir darauf hoffen, dass die betreffende Schwester, deren Namen wir leider nicht angeben können, der Einladung Folge leisten wird?" Es ist nicht überliefert, ob die Schwester aus Alteneichen schließlich anwesend war.

Mitte 1933 wurde Ella bescheinigt, dass sie Bänder "gut und sauber" an andere Werkstücke annähe. Zwar habe sie gern weben lernen wollen, habe sich aber schon bei den allereinfachsten Anfängen abgemüht. Sie vergesse sehr schnell. Ella sei ein stilles, schüchternes, "heimliches" und "verstecktes" Kind, Eigenschaften, die nicht erläutert wurden. Auch Anfang 1934 wurde sie als gutmütig, verträglich aber vorwiegend phlegmatisch charakterisiert. Diese Beschreibungen wiederholten sich bis 1943. Nun hieß es, das Personal müsse dauernd auf sie aufpassen, sonst halte sie sich gern in der Nähe von "männlichen Zöglingen" auf.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Sommer 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die damaligen Alsterdorfer Anstalten in der Nacht vom 29./30. Juli 1943 und dann noch einmal vom 3./4. August 1943 Schäden. Der Anstaltsleiter, Pastor Friedrich Lensch, bat die Gesundheitsbehörde um Zustimmung zur Verlegung von 750 Patientinnen und Patienten, angeblich um Platz für Verwundete und Bombengeschädigte zu schaffen. Mit drei Transporten zwischen dem 7. und dem 16. August wurden insgesamt 468 Mädchen und Frauen, Jungen und Männer in die "Landesheilanstalt Eichberg" und den Kalmenhof bei Idstein im Rheingau, in die "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" bei Passau und in die "Wagner von Jaureg – Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", die auch als Anstalt "Am Steinhof" bezeichnet wurde, verlegt.

Ella Herre gehörte zu den 228 Mädchen und Frauen, die am 16. August 1943 nach Wien transportiert wurden. Mit dem Eintrag "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien. Dr. Kreyenberg" endete der Alsterdorfer Abschnitt ihrer Patientenakte.

Die in den Alsterdorfer Anstalten vorgenommen Charakterisierungen Ella Herres wiederholten sich in Wien. Obwohl sie erinnerte, dass sie mit der Eisenbahn gefahren war, scheint ihr der Ortswechsel nicht bewusst geworden zu sein. Sie wähnte sich weiterhin in Alsterdorf. Später wurde sie als "mangelhaft orientiert" beschrieben, sie habe grundlos vor sich hin gelacht und auf Fragen keine zutreffende Antwort gegeben.

Ella Herre überlebte das Kriegsende in Wien. Noch im Juli 1945 wurde sie wie in den Jahren davor beschrieben. Im Laufe des Jahres 1945 reduzierte sich das Gewicht der inzwischen 28 bzw. 29 Jahre alten Frau von 41 kg im Januar auf 28 kg im September, als die letzte Eintragung in ihre Gewichtstabelle vorgenommen wurde. Im Oktober wurde bei Ella Herre Typhus diagnostiziert. An dieser Krankheit soll sie am 10. November 1945 gestorben sein.

In der Anstalt "Am Steinhof" wurden Patientinnen und Patienten systematisch durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem durch Nahrungsentzug getötet. Von den 228 Mädchen und Frauen aus Alsterdorf kamen 196 bis Ende 1945 ums Leben. Die Gewichtsabnahme, deren Ursache – wie Ella Herres Patientenakte zeigt – offenbar nicht nachgegangen wurde, dürfte dazu beigetragen haben, dass sie der Krankheit Typhus, wenn überhaupt, nur wenig Widerstandskraft entgegensetzen konnte.

Wie und auf welchem Wege Ella Herres Mutter und Stiefvater Kenntnis vom Ableben ihrer Tochter bzw. Stieftochter erhielten, ist nicht ersichtlich. Am 3. Juni 1947 fragten Grete und Fritz Junge in den Alsterdorfer Anstalten, warum sie nicht früher über den Tod Ella Herres informiert worden seien. Die Alsterdorfer Anstalten verwiesen auf die Anstalt "Am Steinhof", die die Nachricht hätte übermitteln müssen. Vielleicht sei dies auch geschehen und die Nachricht habe ihr Ziel wegen der damaligen Ereignisse nicht erreicht. Der Teil der Patientenakte, der in Wien entstanden ist, enthält jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass versucht worden wäre, Ellas Mutter von dem Tod ihrer Tochter zu benachrichtigen.

Stand: November 2020
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch 1930; StaH 332-5 Standesämter 3303 Heiratsregistereintrag Nr. 179/1917 Andreas Wilhelm Herre/Gretchen Emilie Emma Päper; StaH 332-5 Standesämter 3511 Heiratsregistereintrag Nr. 512/1925 Gretchen Emilie Emma Päper/Fritz Junge; StaH 332-5 Standesämter 13200 Heiratsregistereintrag Nr. 612/1929 Andreas Wilhelm Herre/ Auguste Sophie Dorothea Homann; StaH 332-5 Standesämter 9850 Sterberegistereintrag Nr. 2190/1930 Andreas Wilhelm Herre; Wunder/Genkel/Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart, 3. Auflage, S. 283 ff.; Ute Christiansen, Das Krüppelheim "Alten Eichen", in Projektgruppe für die Vergessenen Opfer des NS-Regimes (Hamburg), Verachtet, verfolgt, vernichtet. Zu den "vergessenen" Opfern des Nationalsozialismus, Hamburg 1988, S. 125 ff.

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