Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Gerda Nagel * 1926

Rissener Landstraße 231 (Altona, Rissen)


HIER WOHNTE
GERDA NAGEL
JG. 1926
EINGEWIESEN 1940
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF WIEN
TOT 24.10.1945

Gerda Nagel, geb. am 18.1.1926 in Rissen, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 15.7.1940, "verlegt" in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien am 16.8.1943, dort gestorben am 24.10.1945

Rissener Landstraße 229 (Rissen)

Gerda Nagel kam am 18. Januar 1926 in Rissen als drittes Kind der Eheleute Heini Emil Nagel, geboren am 15. Dezember 1895, und Martha Louise, geborene Berg, geboren am 10. Januar 1898, zur Welt. Heini Emil Nagel war von Beruf Zimmermann, bei Gerda Nagels Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten wurde als sein Beruf"Arbeiter" angegeben. Gerda Nagels Eltern hatten am 31. Januar 1920 in Blankenese geheiratet. Ihre Söhne Werner Heinrich und Otto waren 1920 bzw. 1923 geboren.

Gerda entwickelte sich zunächst altersgemäß, lernte im Alter von einem Jahr zu gehen und wurde als umgänglich, ruhig und zufrieden beschrieben. Als sie 1 ½ Jahre alt war, bemerkten die Eltern, dass Gerda stammelnd sprach. Über ihre weitere Entwicklung in der Kinderzeit wissen wir nichts.

Die Eltern beantragten 1940 über die Sozialverwaltung Gerda Nagels Aufnahme in die Alsterdorfer Anstalten. Gerda war jetzt vierzehn Jahre alt und hatte bis dahin keine Schule besucht. Zur Begründung des Antrags gaben die Eltern an, zu Hause hätten sich zunehmend Schwierigkeiten bemerkbar gemacht. Gerda habe sich nicht mehr leiten lassen wollen. An guten Tagen habe sie unter Aufsicht kleine häusliche Arbeiten verrichtet. Ihre Eltern hofften, dass es möglich sein würde, Gerda in der Anstalt zu andauerndem Arbeiten zu erziehen. Zusammenfassend wurde sie nun von der Sozialverwaltung als "schwachsinnig" eingestuft. (Mit diesem heute in der Psychiatrie nicht mehr verwendeten Begriff wurde damals Intelligenzminderung bzw. Minderbegabung bezeichnet.)

Am 15. Juli 1940 wurde Gerda Nagel in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. In ihrer Akte findet sich die Notiz, sie esse allein, kleide sich selbst an und aus, spreche Einiges, aber unvollständige Sätze und sehr undeutlich. Wegen einer Angina befand sich Gerda auf der Krankenstation. Dort habe sie sich heftig gegen die Behandlung gewehrt. Zurück im Wohnbereich, habe sie sich "sehr allein gehalten" und nicht mit anderen Kindern gespielt. Kleine Handreichungen habe sie willig verrichtet. Aber sie sei oft recht eigensinnig, weine laut, beiße sich, werfe sich auf den Fußboden und trete mit den Füßen. 1942 wurde Gerda Nagel als "im Allgemeinen ruhig und anhänglich, zeitweise recht bockig" beschrieben, Anfang 1943 als "ganz unselbständig". Sie habe einen sehr eigenen Willen gehabt, den sie immer durchsetzen wolle.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien ab. Unter ihnen befand sich Gerda Nagel.

Auf Nachfrage über das Befinden seiner Tochter erhielt Gerda Nagels Vater im Januar 1944 folgende Antwort: "[Ihr Kind] ist leider sehr eigensinnig und widerspenstig, kann sich nur schwer in das Anstaltsleben einfügen und sich nur schwer unterordnen. Sie wurde trotzdem versuchsweise in den Tagraum gegeben; hoffentlich hält es sich dort, sonst müsste es wieder zu Bett bleiben. Eine Beurlaubung oder Entlassung aus der Anstalt kommt während der Dauer des Krieges nicht in Frage. Gez. Dr. Bertha".

Hans Bertha, NSDAP-Mitglied und SS-Obersturmführer, fungierte ab 1. Januar 1942 als ärztlicher Leiter der "Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund‘". Mit seiner Ernennung begann in der Wiener Anstalt die sog. Wilde Euthanasie. Patienten wurden nun direkt mit Nahrungsentzug, mit überdosierten Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten oder durch pflegerische Vernachlässigung ermordet. Zur Anstalt gehörte auch eine sog. Kinderfachabteilung, wo Morde an Kindern mit physischen oder psychischen Behinderungen durchgeführt wurden, die zuvor von einem "Reichsausschuss" genehmigt worden waren. Ab 1944 übernahm Bertha die Leitung der gesamten Anstalt. Er war auch als Obergutachter für die Aktion T4 tätig. Im Rahmen dieser Aktion wurden Anstaltspatientinnen und -patienten in Tötungsanstalten wie der NS-Tötungsanstalt Hartheim gebracht und ermordet.

Unter den Patientinnen und Patienten der Anstalt kam es nun zu einem explosionsartigen Anstieg der Todesopfer. Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen bis Ende 1945 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Gerda Nagel gehörte zu denen, deren Tod in der Anstalt herbeigeführt wurde. Sie hatte Anfang 1943 lt. Alsterdorfer Patientenakte 45 kg gewogen, in Wien wurde ein Jahr später ein Gewicht von 40 kg notiert, im September 1945 wog sie nur noch 27 kg.

Am 27. Oktober 1945 starb Gerda Nagel in Wien lt. Sterbeurkunde an "Imbezillität, Enterocolitis". (Imbezillität ist ein früher gebräuchlicher Ausdruck für eine geistige Behinderung. Als Enterocolitis wird eine Entzündung der Schleimhäute des Dünn- und des Dickdarmsbezeichnet.)

Gerda Nagels Eltern erhielten vom Tod ihrer Tochter keine Kenntnis. Am 3. April 1946 richtete Emil Nagel folgendes Schreiben an die Anstalt in Wien:

"Geehrte Direktion!
Möchte anfragen nach dem Befinden meiner Tochter Gerda. Zugleich bitte ich um Nachricht, ob Aussicht besteht das die Kinder von dort wieder in Kürze nach Hamburg-Alsterdorf zurückkommen. Einen schönen Gruß für unsere Tochter Gerda!"

Er erhielt mit Schreiben vom 11. Mai 1946 von der inzwischen in "Wiener Landesheil- und Pflegeanstalt ‚Am Steinhof‘" umbenannten Einrichtung folgende stereotype Antwort: "In Beantwortung Ihres am 30. IV. 1946 hier angelangten Schreibens vom 3. IV. muss Ihnen leider mitgeteilt werden, dass Ihre Tochter Gerda bereits am 24. Oktober 1945 an einem schweren Darmkatarrh und an Unterernährung in h.o. Anstalt gestorben ist. Eine Verständigung der Angehörigen war damals nicht möglich und so wurde die Leiche am 30. Oktober 1945 durch die städt. Bestattungsunternehmung in einem gemeinsamen Grabe des Wiener Zentralfriedhofes beigesetzt."

Die Gemeinde Wien – Städtische Leichenbestattung teilte Gerda Nagels Vater im Juli 1946 mit: "Nach unseren Erhebungen […] wurde die verstorbene Gertrude Nagel am 30. Oktober 1945 auf dem genannten Friedhof im gemeinsamen Grab Gruppe 40, Reihe 11, Nr. 203/3 beigesetzt. Ob aus diesem Grab eine Enterdigung möglich ist, müsste erst festgestellt werden, […]."

Weder die Anstalt "Am Steinhof" noch die Städtische Leichenbestattung Wien fanden ein Wort des Mitgefühls. Gerda Nagels Eltern hatte bereits im Jahre 1942 ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. Ihr Sohn Werner Heinrich war am 15. August 1942 im Alter von 25 Jahren als Soldat ums Leben gekommen.

Stand: Oktober 2021
© Ingo Wille

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 6143 Geburtsregister Nr. 218/1895 Heini Emil Nagel, 6146 Geburtsregister Nr. 7/1898 Martha Louise Berg, 5752 Heiratsregister Nr. 11/1920 Martha Louise Berg/Heini Emil Nagel; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 146 (Gerda Nagel); Michael Wunder/Ingrid Genkel/Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr …. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331-371 (Transport nach Wien); Susanne Mende, Die Wiener Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2000.

druckansicht  / Seitenanfang