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Stolpertonstein

Erzählerin: Christine Jensen
Sprecherin: Aylin Nötzold
Stolperstein für Hannelore Scholz
© Gesche Cordes

Hannelore Scholz * 1943

Holstenstraße 114 (Altona, Altona-Altstadt)


HIER WOHNTE
HANNELORE SCHOLZ
GEB. 18.5.1943
ERMORDET 5.4.1945
EHEM. KINDERKRANKENHAUS
ROTHENBURGSORT

Hannelore Scholz, geb. am 18.5.1943 in Altona, eingewiesen am 7.3.1945 ins Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, dort ermordet am 5.4.1945

Holstenstraße 114

Hannelore Scholz wurde mit knapp zwei Jahren kurz vor Kriegsende im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort ermordet. Sie war offensichtlich das letzte Kind, das nach einer "Empfehlung" des "Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" dort getötet wurde.

Hannelore Scholz war ein Nachkömmling, sie hatte eine 17-jährige Schwester und einen 13-jährigen Halbbruder. Ihr Vater Eduard Scholz war Bankangestellter und bei ihrer Geburt 47 Jahre alt, die Mutter 42 Jahre. Die Familie lebte in einer Fünfzimmerwohnung in der Holstenstraße in Altona. Die Eltern gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an und ließen ihre Tochter taufen. Hannelores Geburt verlief komplikationslos, und sie entwickelte sich während des ersten Vierteljahres ebenso normal wie die älteren Geschwister.

Nach den schweren Luftangriffen im Juli 1943 evakuierte man die Mutter mit ihren Kindern nach Bad Oldesloe. Dort erlitt Hannelore erstmals einen Krampfanfall, dem weitere folgten. Der zur Hilfe gerufene Arzt konnte keine Besserung erreichen. In der Folgezeit häuften sich die Krämpfe und führten bis zur Bewusstlosigkeit. Hielt die Mutter Hannelore eine Zwiebel unter die Nase, kam sie wieder zu sich. Nach ihrer Rückkehr in die frühere Wohnung im September 1943 konsultierte die Mutter, da Hannelores Entwicklung stagnierte, verschiedene Ärzte, zuletzt den Kinderarzt Wilhelm Bayer, Chefarzt des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort, in seiner Privatpraxis, der das Kind vermutlich dem "Reichsausschuss" meldete. Alle Mediziner sagten Hannelore einen frühen Tod voraus. Hannelore sprach nicht, sondern drückte mit Blicken aus, was sie wollte, und wurde verstanden.

1944 schaltete sich die Fürsorge ein. Die Bezirksfürsorgerin forderte die Mutter auf, Hannelore dem Medizinalrat Walter Stuhlmann vom Gesundheitsamt Altona vorzustellen. Der kam kurz vor Weihnachten 1944 in die Wohnung und brachte ein Attest für Hannelores Einweisung zur Beobachtung ins Kinderkrankenhaus Rothenburgsort nebst der Diagnose "Krämpfe" mit. Dieser Weisung folgte Familie Scholz nicht. Bei zwei weiteren Besuchen erklärte Stuhlmann, er sei gezwungen, so lange wiederzukommen, bis Hannelore eingeliefert sei. Die Mutter brachte Hannelore schließlich, als die häusliche Situation schwieriger geworden war, am 7. März 1945 ins Kinderkrankenhaus Rothenburgsort.

1948 erklärte die Mutter, sie habe bei Hannelores Aufnahme Wilhelm Bayer gefragt, ob es kein Mittel gäbe. "Dr. Bayer antwortete, es gäbe wohl ein Mittel und das könnte probiert werden. Er meinte, er würde versuchen, dem Kind Bestrahlung zu geben. Die Sache könne auch verkehrt ausgehen. In 90 % aller Fälle würde die Bestrahlung mit dem Tod enden." Auf ihre Frage, "Wenn es Ihr Kind wäre, was würden Sie dann tun?" habe er gesagt, wenn es sein Kind wäre, würde er es versuchen. Daraufhin habe sie gesagt: "Schön, dann versuchen wir es."

Die Ärztin Ursula Bensel nahm Hannelore, die inzwischen ein Jahr und zehn Monate alt war, auf ihrer Kleinkinderstation auf und stellte die Diagnose "Little’sche Krankheit", die damalige Bezeichnung für spastische Lähmung. Routinemäßig wurden bei dem unklaren Krankheitsbild Untersuchungen der Hirninnenräume und des Wirbelkanals vorgenommen, die krankhafte Veränderungen zeigten.

Am 3. April 1945 gab Ursula Bensel Hannelore eine Injektion von 5 ccm Luminal, eine Überdosis eines Beruhigungsmittels, und trug das in die Krankenakte ein. Das ist bemerkenswert, weil das sonst niemand tat. Erwartungsgemäß entwickelte sich eine Lungenentzündung, an der Hannelore am 5. April 1945 um 13.25 Uhr starb. Ihre Schwester, "die Kameradschaftsälteste Jutta Scholz", zeigte ihren Tod beim Standesamt Billbrook an. Die formelle Todesursache lautete "Little’sche Krankheit".

Hannelore Scholz starb im Alter von knapp zwei Jahren nach vierwöchigem Aufenthalt im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Offenbar hatte sie unter einer schweren Form von Epilepsie gelitten.

Ursula Bensel, die, wie sie erklärte, als Anthroposophin aus religiösen Gründen die Euthanasie abgelehnt habe, erläuterte bei ihrer Vernehmung am 8. April 1946 die Umstände, unter denen sie Hannelore Scholz die tödliche Spritze verabfolgte. Zu dem Zeitpunkt hielt sich Bayer in einem Lazarett in Dänemark auf, wo er aus dem Osten geflüchtete und vertriebene Kinder behandelte. Wenige Tage vor Hannelores Tod sei Bayer an sie herangetreten und habe ihr gesagt, das Kind sei vom "Reichsausschuss" geschickt und sie wisse ja, was mit ihm zu geschehen habe, und nannte ihr auch die Menge des zu spritzenden Luminals. Sie habe nach einem Ausweg gesucht und beim nächsten Besuchstag Hannelores Mutter angesprochen. Diese habe ihr von ihrem Gespräch mit Bayer berichtet und ihr die schwierigen häuslichen Verhältnisse geschildert.

Sie habe der Mutter nahegelegt, das Kind wieder mit nach Hause zu nehmen, was diese abgelehnt habe, weil sie mit ihrer Mutter und ihrem beinamputierten Verlobten Hamburg verlassen wolle. Da sie selbst krank sei, könne sie das Kind nicht auf die Flucht mitnehmen. Sie habe darum gebeten, die mit Bayer besprochene Behandlung vorzunehmen. Ursula Bensel wusste, dass Bayer von "Behandlung" sprach, um Frau Scholz nicht in Gewissenskonflikte zu bringen. Doch habe sie nun keinen Ausweg mehr gesehen und dem Kind die angeordnete Luminal-Injektion gegeben. Sie habe entgegen ihrer Überzeugung gemordet.

Familie Scholz, so eine Angehörige, sei bis heute durch Schweigen und Schuldgefühle belastet.

Anlässlich der Gedenkfeier für die im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort getöteten Kinder am 9. Oktober 2009 meldete sich telefonisch Frau F., deren jetzt achtzigjährige Mutter eine Cousine von Hannelores Mutter ist. Als Jugendliche hatte die Mutter, als die eigene Wohnung bei einem Bombenangriff zerstört worden war, über viele Monate bei Familie Scholz in der Holstenstraße gelebt, Hannelore also gekannt und sie wohl auch "im Arm gehabt". Sie hatte nie darüber gesprochen, wie auch über andere Kriegserlebnisse nicht, und jetzt auf Nachfragen der Tochter nur widerstrebend einiges erzählt: In der großen Wohnung in der Holstenstraße hätten das Ehepaar Scholz, die Töchter Hannelore und Jutta, deren Großmutter und Walter Pries, der Vater des Halbbruders, zusammen gelebt. Eduard Scholz sei ein "100 %ger Nazi" gewesen, der nicht als Soldat eingezogen, sondern in Hamburg tätig war. Walter Pries habe im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren. Jutta und ihr Halbbruder, blond und blauäugig, hätten dem Wunschbild der Eltern entsprochen. 1943 sei dann Hannelore als unerwünschtes Kind auf die Welt gekommen, auch sie blond und blauäugig, sei aber bald zum Problem geworden, vor allem als Jutta, die die erste Zeit ihres Pflichtjahres in der eigenen Familie habe ableisten dürfen, fort musste. Die Ehe der Scholz‘ wurde am 10. Januar 1945 geschieden, die Mutter heiratete am 14. April 1945 Walter Pries.

Als Frau F. ihren jetzt 77-jährigen Onkel Klaus-Dieter anrief, erzählte er, er habe zusammen mit dem Vater das tote Kind im Kinderwagen vom Kinderkrankenhaus Rothenburgsort nach Hause gefahren. Dort habe es der Beerdigungsunternehmer abgeholt und in einen Sack gesteckt, den er über der Schulter trug. Hannelore wurde auf dem Friedhof Diebsteich beerdigt.

Frau F.’s Anliegen ist, dass Hannelore wieder zur Familie gehört, dass sie wieder präsent sein darf und ihrer gedacht wird.

Stand September 2015

© Hildegard Thevs

Quellen: StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht – Nationalsozialistische Gewaltverbrechen (NSG), 0017/001 und 0017/002; StaH 332-5 Standesämter, 1241 und 206/ 1945; StaH 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Ablieferung 2000/01, 63 UA 7; mdl. Mitteilungen von Frau F.

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