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Porträt Alice Berju
Alice Berju (ihr Kopf wurde für das Foto gestützt)
© UKE/IGEM

Alice Berju * 1895

Loogestieg 13 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
ALICE BERJU
GEB. GOLDENBERG
JG. 1895
EINGEWIESEN 1929
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Weitere Stolpersteine in Loogestieg 13:
Iwan Hess, Ilo Levy

Käthe Alice Berju, geb. Goldenberg, geb. am 11.12.1895 in Hamburg, ermordet am 23.9. 940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Stolperstein in Hamburg-Eppendorf, Loogestieg 13

Käthe Alice Berju, geborene Goldenberg, kam am 11. Dezember 1895 in Hamburg-Rotherbaum, Grindelhof 97, zur Welt. Ihre Mutter, die 1872 geborene Selly Fries, war mit dem 1858 geborenen und 1929 verstorbenen Koppel Julius Goldenberg verheiratet. Beide gehörten dem jüdischen Glauben an. Aus dieser Ehe gingen weitere drei Kinder hervor: Edwin Goldenberg, geboren 1892, war als Erwachsener als Kaufmann tätig und wohnte in der Isestraße 47 im Stadtteil Harvestehude. Die 1894 geborene Fanny Ella Sostheim, geborene Goldenberg, lebte mit ihrem Ehemann Paul in Mannheim. Der zweite Bruder Erwin Hans Goldenberg, geboren am 16. Juli 1898, starb mit 18 Jahren, als er beim Spiel mit einem Freund vermutlich von einem Schuss aus einem Teschin (auch Tesching, Handfeuerwaffe kleinen Kalibers) getroffen wurde.

Käthe Alice Berju besuchte zehn Jahre eine höhere Töchterschule. Zum Ausgleich ihrer "schwachen Begabung" – so später ihr Vater– habe sie Nachhilfeunterricht erhalten, so dass sie die Schule dank ihres Fleißes erfolgreich habe beenden können. An den Schulbesuch schloss sich 1912 ein "Pensionsaufenthalt" in Brüssel an.

Ihr Bruder Edwin erlebte sie in Brüssel wie folgt: "Meine Schwester Alice war vor ihrer Ehe ein liebes, nettes Mädel, daheim der Abgott und der Mittelpunkt im Kreise der Freundinnen. Alle Verwandten waren von ihr entzückt. Auch 1912 in der Pension in Brüssel war sie sehr beliebt und hat im Hause meines Chefs viele Gesellschaften mitgemacht. Wegen des einsetzenden Deutschenhasses verließ sie aber die Pension und war darüber natürlich sehr traurig, weil sie sich dort wohl gefühlt hat. Als sich 1913 ihre ältere Schwester Ella mit Herrn Sostheim verlobte, war Alice genauso erfreut, als ob sie die Braut wäre." Als Bruder Edwin 1918 körperlich krank und über den Ausgang des Krieges deprimiert aus dem Felde zurückgekehrt sei, habe es besonders Käthe Alice verstanden, ihn seelisch wiederaufzurichten.

Nach ihrer Rückkehr aus Brüssel absolvierte Käthe Alice eine dreijährige Ausbildung in einem fotographischen Atelier und stellte künstlerische Fotographien her. Bis zur ihrer Eheschließung lebte sie bei ihren Eltern, zuletzt am Loogestieg 13.

Am 8. Juni 1920 heirateten Käthe Alice Goldenberg und der am 27. April 1890 geborene ebenfalls jüdische Berliner Kaufmann Hermann Erwin Berju, Spross einer Berliner Kaufmannsfamilie. Das Paar war 1919 durch Käthe Alices Bruder Edwin miteinander bekannt gemacht worden. Vor der Ehe hatte es sich nach Aussagen von Hermann Erwin Berju im späteren Scheidungsverfahren nur vierzehn Mal gesehen. Käthe Alice erschien ihm damals "geordnet, ruhig, zurückhaltend mädchenhaft". Seine Verlobungszeit beschrieb er während des Scheidungsverfahrens als "voll Glück, und nie habe ich die jetzt vorgekommenen Symptome bei meiner Frau entdecken können!".

Auch Käthe Alices Schwester Ella Sostheim äußerte sich 1931 in diesem Sinne. Sie habe Käthe Alice vor ihrer Verheiratung nur als ein sonniges, lebensfrohes Geschöpf gekannt, das überall schnell die Sympathien ihrer Umgebung gewann. Sie habe ihre Kinder voll und ganz in Käthe Alices Obhut geben können.

Das Ehepaar Berju wohnte nach der Heirat zunächst in Berlin, Frankfurter Allee. Sehr bald nach der Hochzeit zeigten sich bei Käthe Alice Berju den Berichten ihres Ehemannes zufolge "Gemütserregungen", in deren Folge es nach den Äußerungen von Hermann Erwin Berju zu grundlosen Eifersuchtsäußerungen kam. Käthe Alice schrieb Briefe an ihre Schwester Ella Sostheim, in denen sie ebenfalls Eifersuchtsgefühle äußerte und behauptete, von ihrem Mann Schlafmittel erhalten zu haben.

Für ihre bevorstehende Niederkunft kehrte Käthe Alice Berju vorübergehend nach Hamburg zurück. Ein gutes Jahr nach der Eheschließung, am 28. September 1921, gebar Käthe Alice die Tochter Ingeborg in der Hamburger Dorotheenklinik.

Hermann Erwin Berju handelte in Berlin mit Haushaltswaren, jedoch mit nur geringem Erfolg. Er gab das Geschäft nach zwei Jahren wieder auf. 1922 ließen sich Hermann Erwin und Käthe Alice Berju in Hamburg nieder. Hermann Erwin hatte eine Anstellung in dem Bankgeschäft Goldenberg im Heuberg 5/7 bekommen, das Käthe Alices Vater Julius und dessen Bruder Elieser gehörte. Auch hier konnte Hermann Erwin Berju nicht dauerhaft Fuß fassen. Nach eineinhalb Jahren (1924) ging er nach Berlin zurück und erhielt dort eine Anstellung im Warenhaus Tietz, bei dem sein Vater eine Direktorenstelle innehatte. Bei Tietz brachte es Hermann Erwin Berju 1931 zum Abteilungsleiter.

Kurz nachdem sich das Ehepaar Berju in Hamburg niedergelassen hatte, wurde Käthe Alice Berju am 22. März 1922 in Begleitung ihrer Mutter und ihres Arztes in die private Hamburger "Nervenheilstätte Eichenhain", Am Weiher 5, in Eimsbüttel eingeliefert.

Sie erschien bei der Aufnahme völlig orientiert, aber schwach, während der späteren Behandlung ängstlich erregt. Nach ihrer Aussage drohte ihr und ihren Eltern von ihrem Manne Unheil. Während des Klinikaufenthalts verletzte sie sich ernsthaft mit dem Glas einer Armbanduhr, drohte Fenster und Türen einzuschlagen und versuchte einmal, über das Geländer eines Balkons zu klettern. Nach sieben Monaten in dieser Klinik brach sich Käthe Alice bei einem Sprung über ein Treppengeländer einen Oberschenkel. Nach der Behandlung in der chirurgischen Klinik des Krankenhauses Eppendorf verlegte man sie am 9. Oktober 1922 in die Neurologische Klinik von Professor Max Nonne in demselben Krankenhaus (Max Nonne vertrat schon in den 1920er Jahren die sogenannte Rassenhygiene und befürwortete später die "Euthanasie"-Maßnahmen der NS-Regierung.). Zwei Monate später, am 14. Dezember 1922, wurde sie auf Vorschlag von Max Nonne versuchsweise nach Hause entlassen.

Gute Phasen, in denen sie freundlich war und Anteil an der Umgebung nahm, mit ihrem Mann Schach spielte und mit ihm Spaziergänge unternahm, wechselten mit Zeiten, in denen sie sich völlig von der Familie abwandte. Anfang 1923 verhielt sie sich so gewalttätig, dass sie in die psychiatrische Abteilung des Altonaer Krankenhauses eingeliefert wurde. Während dieses Krankenhausaufenthaltes wurde Käthe Alice sterilisiert. Es ist nicht bekannt, wer diesen Eingriff veranlasste. Der Krankenhausaufenthalt zog sich bis zum 17. Mai 1924 hin. Am 30. Januar 1925 wurde Käthe Alice Berju erneut Patientin in der Nervenabteilung des Altonaer Krankenhauses. Zwei Monate später, am 7. März 1925, kam sie in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Während der nächsten vier Jahre in Friedrichsberg änderte sich ihr Zustand kaum. Sie zog sich mehr und mehr in sich zurück oder zerstörte ihr erreichbare Gegenstände. Auch nach ihrer Überführung in die Staatskrankenanstalt Langenhorn am 12. Januar 1929 hielt Käthe Alice Berjus Zustand an. Sie zeigte eine finstere Miene, war sehr gereizt, aggressiv und in jeder Hinsicht pflegebedürftig.

Die Ärzte waren davon überzeugt, dass auch künftig keine Besserung eintreten würde. Daraufhin strebte Hermann Erwin Berju die Ehescheidung an, die am 20. November 1931 in Berlin vollzogen wurde.

Alice Berju wurde am 29. Juli 1931 aus der Staatskrankenanstalt Langenhorn in die Landesheilanstalt Neustadt (Holstein) verlegt. Sie gehörte zu den Personen, die von dort am 13. September 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn – wie sie inzwischen hieß – gebracht wurden.

Dieser Verlegung war Folgendes vorausgegangen: Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in staatlichen sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen. Nachdem alle jüdischen Patienten aus den norddeutschen Anstalten in Langenhorn eingetroffen waren, wurden sie am 23. September 1940 gemeinsam mit den dort bereits länger lebenden jüdischen Patienten – unter ihnen Alice Berju –in einem Transport von insgesamt 136 Menschen nach Brandenburg an der Havel gebracht. Noch am selben Tag wurden sie in dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses mit Kohlenmonoxyd getötet. Nur eine Patientin, Ilse Herta Zachmann, entkam diesem Schicksal zunächst (siehe dort).

Auf dem Geburtsregistereintrag von Alice Berju wurde notiert, dass das Standesamt Chelm II ihren angeblich am 4. Dezember 1940 eingetretenen Tod unter der Nummer 565/1940 registriert hat. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Käthe Alices Bruder Edwin Goldenberg wanderte 1936 mit Ehefrau Ilse Jeanette und den Kindern Hermann und Lilly nach Chile aus.

Das Schicksal von Käthe Alices Schwester, Fanny Ella Sostheim, liegt im Dunkeln. Es ist nicht bekannt, ob aus der Ehe mit Paul Sostheim, geboren 1885 in Neuß, Kinder hervorgegangen sind und ob sie mit ihrem Ehemann nach Belgien emigrierte. Belegt ist, dass Paul Sostheim im August 1939 zwei Wochen in der Strafanstalt Bruchsal einsitzen musste. Ende Oktober 1939 emigrierte er nach Belgien und wurde dort am 10. Mai 1940 für sechs Tage inhaftiert. Anschließend deportierte man ihn in die Internierungslager Le Vigeant und Saint Cyprien in Frankreich. Nachdem er in das Sammellager Drancy bei Paris verlegt worden war, wurde er am 10. August 1942 nach Auschwitz verschleppt. Nach dem Kriege wurde er für tot erklärt.

Ingeborg Berju, Käthe Alices Tochter, flüchtete 1939 nach Palästina. Sie änderte dort ihren Vornamen in Judith (Jehudith), heiratete Meir Elasari und bekam mit ihm drei Kinder.

Hermann Erwin Berju ging nach der Scheidung von Alice Berju noch zwei Ehen ein. 1932 heiratete er Ella Manasse, geboren. 18. September 1905 in Schwersenz im damaligen Kreis Posen-Ost. Diese Ehe wurde 1936 geschieden. Ella Berju konnte Deutschland rechtzeitig verlassen. Sie lebte zunächst in Manchester in Großbritannien und reiste von dort 1938 weiter nach New York.

Die weitere Ehe ging Hermann Erwin Berju 1939 mit Stephanie Steinitz, geboren am 21. Juli 1892 in Berlin, ein. Sie war vor ihrer Ehe mit Hermann Erwin Berju bereits einmal verheiratet, und zwar mit dem am 7. Mai 1877 in Ratibor geborenen Kurt Herzberg. Aus dieser 1913 geschlossenen und 1937 geschiedenen Ehe ging der Sohn Thomas, geboren am 19. Januar 1914 in Berlin, hervor, der 1934 nach Palästina fliehen konnte. Thomas Herzberg heiratete 1939 Karla Laser, geboren 16. November 1920 in Gevelsberg in der Nähe von Wuppertal, die 1936 als 15jährige aus Deutschland geflohen war.

1942 wurde ihre Tochter Jael in Haifa geboren. Ihr 1951 auch dort geborener Sohn Ruben kam im Alter von sieben Jahren (mit seinen Eltern) nach Deutschland. Ruben Herzberg war von 1994 bis 2018 Schulleiter des Gymnasiums Klosterschule im Hamburger Stadtteil St. Georg und von 2007 bis 2011 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Hamburg.

Stephanie und Hermann Erwin Berju kamen im Holocaust ums Leben. Sie wurden am 13. Januar 1942 von Berlin aus in das Getto von Riga deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt; sie wurden nach dem Kriege für tot erklärt.


Stand: Februar 2021
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 332-3 Zivilstandsaufsicht A_293 Nr. 170/1872 Selly Fries; 332-5 Standesämter 8697 Heiratsregister Nr. 180/1914 Fanny Elly Goldenberg, 9082 Nr. Geburtsregister 2173/1892 Edwin Goldenberg, 9112 Nr. Geburtsregister 2220/1895 Käthe Alice Goldenberg, 9578 Heiratsregister Nr. 569/1920 Käthe Alice Goldenberg; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 1. 1939-27. 1. 1940; 522-1 Jüdische Gemeinden 373 Bd. 20 Erwin Hermann Berju; Landesarchiv Berlin, P Rep. 806 Nr. 755 Sta. Berlin IX Nr. 933/1890 Geburtsregister Hermann Erwin Berju; Landesarchiv Schleswig LAS Abt. 377 Nr. 759; Berliner Adressbuch; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Alice Berju der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; UKE/IGEM, Archiv, Patientenakte Alice Berju der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; schriftliche Auskunft des pensionierten Arztes des Landesheilanstalt Neustadt Dr. F. E. Struwe, vom 31. 1. 2017; Auskünfte von Ruben Herzberg Januar 2021.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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