Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Johanna Bernstein (geborene André) * 1867

Brahmsallee 8 (Eimsbüttel, Harvestehude)


HIER WOHNTE
JOHANNA
BERNSTEIN
GEB. ANDRÉ
JG. 1867
DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 17.5.1943

Weitere Stolpersteine in Brahmsallee 8:
Victor Cohn, Thekla Cohn, Else Levy, Louis Nathan Levy, Dr. Joseph Norden, Anna Rothenberg

Johanna Bernstein, geb. André, geb. am 23.9.1867 in Aachen, deportiert am 10.3.1943 nach Theresienstadt, Todesdatum dort 17.5.1943

Brahmsallee 8

Johanna Bernstein, geb. André, wurde 1867 in Aachen (Neupforte 2) geboren. Ihre Eltern waren der Metzger Andreas André (1825–1893) und Helene André, geb. Breuer (1830–1881), die 1856 in Aachen geheiratet hatten. Schon deren Väter Daniel André aus Kornelimünster und Moses Breuer (1803–1886) aus Aachen waren Metzger gewesen. Andreas André wurde im Aachener Adressbuch von 1868 als "israelitischer Schankwirt" vermerkt; ob er seinen ursprünglichen Beruf aufgegeben oder sich mit einer Schankkonzession einen Zusatzverdienst erschlossen hatte, ist nicht bekannt. Johannas Geschwister Philipp (1859–1877), Rosa (1863), Bernhard (1865), Emma (1870) und Victor (1872) kamen ebenfalls in Aachen zur Welt. Mehrfach zog die Familie innerhalb des Aachener Innenstadtviertels um und wohnte dort in den Straßen Neupforte, Hirschgraben und Michaelstraße. Engerer Kontakt bestand in Aachen u.a. zu den Metzgern Philipp Breuer (Neupforte 3), Philipp Camp (geb. ca. 1845), Salomon Camp (geb. ca. 1809), Andreas Hirsch (geb. ca. 1820), Ambrosius Plum (geb. ca. 1832) und Moises Schoenfeld (geb. ca. 1820) sowie zum Weißgerber Bernhard Breuer (geb. ca. 1842) und dem Musiker Peter Engels (geb. ca. 1845) – sie alle tauchten zwischen 1859 und 1872 als Zeugen auf den Geburtsurkunden der Kinder von Andreas und Helene André auf.

Johanna André heiratete am 15. Januar 1898 in Aachen den Tuchhändler und Maßschneider Jacques (Jakob bzw. Jaakow) Bernstein (geb. 9.4.1865 in Braunschweig). Er war der Sohn des Kaufmanns Martin (Mayer bzw. Meier) Bernstein (1830–1902) und Caroline, geb. Lindenfeld (1836–1910), die 1865 nach Braunschweig gezogen waren, wo Martin Bernstein am Ziegenmarkt 5 eine "Herren-Modemagazin Tuchhandlung in Deutschen und Englischen Fabrikaten" als Maßschneiderei betrieb und die Familie seit 1877 in der Campestraße 37 wohnte. Trauzeugen waren 1898 der Kaufmann Jacob Fackenheim aus Halle/Saale sowie der Buchhalter Julius Reich aus Aachen.

Johanna Bernstein zog nach der Heirat zu ihrem Ehemann nach Braunschweig, dort wurden auch die beiden Töchter Helene Ilse (geb. 23.3.1899) und Emma Luise (geb. 21.12.1900) geboren. Die ältere Tochter besuchte von 1905 bis 1915 das Lyzeum ("Städtische höhere Mädchenschule") in Braunschweig und nach dem Abschluss der Mittleren Reife dort noch ein Jahr die Höhere Handelslehranstalt. Weil wegen des Ersten Weltkrieges das Personal knapp war, begann Ilse Bernstein 1916 eine Lehre im väterlichen Geschäft. Die Familie wohnte in der Ferdinand-Wilhelm-Straße Nr. 1 (1898–1904), Nr. 34 (1904–1907), Nr. 23 (1907–1918) und seit dem 19. März 1918 in der Ferdinandstraße 8 im Parterre. Hier starb Jacques Bernstein am 2.April 1923; er wurde auf dem Jüdischen Friedhof Helmstedter Straße beigesetzt. Circa 1926 wurde das Geschäft von Jacques Bernstein geschlossen.

Bis Dezember 1935 wohnte Johanna Bernstein in der Wohnung Ferdinandstraße 8, am 27.Dezember 1935 zog sie an den Wilhelmitorwall 34 und am 31. März 1938 eine Hausnummer weiter an den Wilhelmitorwall 35, von wo aus sie nur wenige Wochen später am 3. Mai 1938 nach Berlin-Wilmersdorf vermutlich zu ihrer jüngeren Tochter Luise verzog. Die ältere Tochter, die zusammen mit ihrer Mutter unter der letzten Braunschweiger Adresse gemeldet war, ging nach Reinbek bei Hamburg. Die Wohnungswechsel fallen in die Zeit breit angelegter Verdrängungsaktionen; in der Stadt Braunschweig sank die Zahl der nach NS-Kriterien als Juden erfassten Personen von rund 1100 (1933) auf rund 250 (1939).

Ihre jüngere Tochter Luise ("Liese") Bernstein hatte im Dezember 1924 den Sohn des Oberlandgerichtsrats und Schriftstellers Georg Seidler (geb. 30.4.1900 in Braunschweig) geheiratet und für die Eheschließung die evangelisch-lutherische Konfession ihres Ehemannes angenommen. Sie ging im Januar 1925 zu ihm nach Weimar, wo er bereits seit Mitte 1924 wohnte. Um 1928 zogen die Eheleute nach Berlin-Wilmersdorf an den Kurfürstendamm 111. Nach 1933 richtete sich die nationalsozialistische Ideologie einer "arischen Volksgemeinschaft" auch gegen "Mischehen", in der ein Ehepartner nach NS-Definition Jude war. Obwohl Luise Seidler zum Christentum übergetreten war, galt sie nach nationalsozialistischer Rassenlehre als Jüdin. Im Juni 1934 wurde die Ehe in Berlin geschieden. Damit verlor Luise Bernstein den später von den Nationalsozialisten zugebilligten schützenden Status einer "privilegierten Mischehe". Sie emigrierte nach dem Mai 1938 nach London (wo sie auch noch 1960 lebte).

Ihre ältere Tochter Ilse Bernstein (1899–1975) hatte im März 1920 in Braunschweig den nichtjüdischen Ingenieur Hermann Talke (geb. 1894 in Braunschweig) geheiratet und hierfür ebenfalls ihre jüdische Religionszugehörigkeit abgelegt. Die Ehe wurde im November 1925 vom Oberlandesgericht Braunschweig geschieden. Ilse Talke, geb. Bernstein, arbeitete von 1927 bis 1930 als Substitutin bei der Firma Rudolf Karstadt in Braunschweig (Schuhstraße), danach als Buchhalterin und Sekretärin in der Firma Max Guhrauer in Braunschweig. Sie zog im Mai 1938 mit ihrem Sohn nach Reinbek bei Hamburg. Ihre Verfolgungssituation schilderte sie später: "Ab 1938 ständige Anzeige bei der Gestapo in Lübeck. Mein Wohnort von Mai 1938–1942 in Reinbek, Bezirk Stormarn, Lindenstr 23 [heute Nr. 25]. Durch fortwährende Denunzierungen des Lehrers Warnecke, Lindenstr. 23 [heute Nr. 25] bei der Gestapo, bekam ich dauernd Vorladungen der Gestapo auf das Bürgermeisteramt in Reinbek. (…) Schließlich verlangte die Gestapo von mir, dass ich meinen Wohnort Reinbek als Jüdin zu verlassen hätte. Unter den grössten Schwierigkeiten und Geldopfern zog ich (am 27.2.1942) nach Hamburg 20, Lehmweg 57. Auch hier hörten die ständigen Überwachungen durch die Gestapo nicht auf, bis ich im April 1942 zur Zwangsarbeit herangezogen wurde und am 18.7.1942 nach Theresienstadt deportiert wurde."

Im Lehmweg 57 wohnte sie mit ihrem Sohn, der eine kaufmännische Lehre bei Rappolt & Söhne absolvierte, im II. Stock bei Adele Müller in einer 3-Zimmer-Wohnung zur Untermiete. Die Hauptmieterin, die von ihrem christlichen Ehemann getrennt lebte, hatte kein eigenes Einkommen, wurde von ihren beiden erwachsenen Töchtern unterstützt und war auf Untermieter angewiesen. Die Untermieterinnen, die dort vor Ilse Talke wohnten, die Lehrerin Thekla Bernau, geb. Benjamin (geb. 29.5.1900 in Dannenberg), und ihre Mutter Selma Benjamin, geb. Pasch (geb. 10.5.1868 in Rydzyna/Reisen in Posen), wohnten schon zum Zeitpunkt der Volkszählung (17. Mai 1939) dort und waren am 6. Dezember 1941 ins Getto Riga-Jungfernhof deportiert worden (für beide liegen Stolpersteine in der Groothoffgasse 8). Kurzzeitig fand Ilse Talke beim Herrenmodengeschäft Haack in der Hamburger Straße eine Anstellung als Verkäuferin, bis der jüdische Inhaber zum 31. Dezember 1938 sein Geschäft schließen musste.

Ilse Talke wurde solange vom NS-Regime ein bedingter Schutz zugebilligt, wie sie ihren noch nicht volljährigen Sohn versorgte und christlich erzog. Am 24. Juli 1941 hatte er sein 21. Lebensjahr und damit die Volljährigkeit erreicht. Ab 1. April 1942 wurde Ilse Talke vom Arbeitsamt Hamburg "Judendezernat Schallert" zwangsverpflichtet. Zuerst musste sie als Spinnerin bei der Hanfspinnerei und Tauwerkfabrik Steen & Co (Hamburg-Lokstedt), später als Packerin bei Firma Martin Jessen (Hamburg) arbeiten, was in ihrem Arbeitsbuch vermerkt wurde. Am 19. Juli 1942 wurden Ilse Talke und die Hauptmieterin Adele Müller, geb. Geisel (geb. 8.4.1876 in Rheinbach/Bonn), von Hamburg aus ins Getto Theresienstadt deportiert. Schon vor der Abfahrt nahm die Gestapo ihr das Gepäck, zwei Koffer mit Kleidung und einen Bettsack, ab und behielt es ein, was laut ihrer Aussage bei dieser Deportation in größerem Umfang erfolgt sein soll. Ilse Talke, geb. Bernstein, überlebte den Holocaust. Sie heiratete 1955 ein zweites Mal in Hamburg, wo sie 1975 verstarb. Auch Adele Müller überlebte und kehrte am 8. August 1945 von Theresienstadt nach Hamburg zurück.

Johanna Bernstein zog am 15. Juli 1938 von Berlin-Wilmersdorf (Nassauische Straße 16) nach Reinbek bei Hamburg in die Lindenstraße 23 [heute Nr. 25] zu ihrer älteren Tochter Ilse. Vom 6. August bis 4. November 1938 wohnte Johanna Bernstein abermals in Berlin-Wilmersdorf (Nassauische Straße 18), kehrte aber wieder nach Reinbek zu ihrer Tochter zurück.

Am 6. April 1940 bezog die 72-jährige Johanna Bernstein in Hamburg in der Brahmsallee 6 im 1. Stock ein Untermietzimmer bei Kaufmann Max Hoffmann (geb. 6.10.1885 in Hamburg) und dessen Ehefrau Henny Hoffmann, geb. Goldscheider (geb. 3.8.1889 in Hamburg). Die Eheleute Hoffmann hatten im August 1935 diese 8-Zimmer-Wohnung bezogen und im Juli 1938 Bertha Gansel, geb. Gabriel (geb. 2.9.1873 in Danzig, deportiert am 25. Oktober 1941 nach Lodz) und Margot Gansel (geb. 21.9.1888? in Berlin) als Untermieterinnen aufgenommen. Im November 1938 folgte Alfred Wolff (geb. 25.5.1874 in Bremerhaven) und im November 1939 Adolf Gottschalk (geb. 28.9.1878 in Rheidt, gest. 23. März 1940 in Hamburg) und Minna Gottschalk, geb. Behr (geb. 11.12.1885 in Lüneburg). Im April/Mai 1940 wurden in der Wohnung weitere jüdische Untermieter von außerhalb aufgenommen: Frieda Kohn, geb. Wiener (geb. 5.8.1871 in Regensburg), die Geschwister Julius Daniel Kugelmann (geb. 17.4.1862 in Wardenberg) und Elise Kugelmann (geb. 4.11.1870 in Wardenberg), die beide aus Oldenburg kamen sowie Sina Röben, geb. Türk (geb. 29.1.1874), die aus Rastede/Oldenburg zugezogen war. Das Wohnungsamt verlangte vom Jüdischen Religionsverband in Hamburg, dafür Sorge zu tragen, dass wohnungssuchende Juden in Wohnungen von Juden aufgenommen wurden. Insofern war die Aufnahme von jüdischen Untermietern in der Wohnung der Hoffmanns nicht freiwillig. Die Eheleute Hoffmann wurden am 8. November 1941 ins Getto Minsk deportiert.

Bereits vor der Deportation der Hauptmieter waren die Untermieterinnen und Untermieter im Mai 1940 und September 1940 in andere Unterkünfte umquartiert worden, da das Wohnungsamt das Haus nicht länger für die Unterbringung von Jüdinnen und Juden vorgesehen hatte. Die folgenden Wohnadressen von Johanna Bernstein, vermutlich ab 10. Mai 1940 das Jüdische Altersheim in der Rothenbaumchaussee 217, ab 20. April 1942 die Beneckestraße6 direkt neben der Neuen Dammtor Synagoge und ab September 1942 das jüdische Pflegeheim Schäferkampsallee 25/27, waren zugewiesene Wohnquartiere, die als "Judenhäuser" Sammelquartiere für die geplanten Deportationen waren.

Am 10. März 1943 wurde Johanna Bernstein von Hamburg aus ins Getto Theresienstadt deportiert, wo sie nur wenige Wochen später, am 17. Mai 1943, starb und am nächsten Tag im dortigen Krematorium verbrannt wurde.

Für Johanna Bernstein wurde am Grabstein ihres Ehemannes in Braunschweig eine Inschrift "In memoriam" hinzugefügt. 2014 wurde für sie in Hamburg ein Stolperstein in der Brahmsallee verlegt, bei der Hausnummer kam es jedoch zu einer Verwechslung und so liegt der Stein vor dem Nebenhaus Nr. 8.

Für das Ehepaar Max und Henny Hoffmann (siehe deren Biographie) wurden in der Brahmsallee 6 Stolpersteine verlegt.

Die Cousins von Johanna Bernstein und Söhne von Abraham André (geb. 1838) und Bertha André, geb. Kaufmann, Hermann André (geb. 7.11.1872 in Kornelimünster) und Norbert André (geb. 23.9.1869 in Kornelimünster), wurden beide am 25. Juli 1942 von Aachen aus ins Getto Theresienstadt deportiert. Norbert André starb dort am 14. Dezember 1942. Der Viehhändler und Landwirt Hermann André wurde am 26. September 1942 weiter ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort vermutlich kurz nach der Ankunft ermordet. An Hermann André, seine Ehefrau Therese André, geb. Heidt (geb. 6.1.1887 in Fischenich), und die Tochter Bertha Katz, geb. André (geb. 2.8.1910 in Kornelimünster), erinnert auf dem Jüdi­schen Friedhof Kornelimünster ein Gedenkstein.

Stand: September 2016
© Björn Eggert

Quellen: 1; 4; 5; 9; StaH 332-8 (Meldewesen), Hauskartei (ab 1939), Brahmsallee 6, Lehmweg 57; StaH 351-11 (AfW), 1180 (Johanna Bernstein); StaH 351-11 (AfW), 22467 (Ilse Talke, geb. Bernstein); StaH 522-1 (Jüdische Gemeinden), 992 e2 (Deportationslisten); AB Hamburg 1940, 1941; AB Berlin 1929, 1932; Stadtarchiv Aachen, Heiratsregister 1856, 1898, Geburtsregister 1859, 1863, 1865, 1867, 1870, 1872, Sterberegister 1877, 1881, 1886, 1893, Adressbuch 1868; Stadtarchiv Braunschweig, Meldekarte D I 12:54, Meldekarte E 99:9, Geburtenbucheintrag 1899, Heiratsbucheintrag 1920, 1924, Sterbebucheintrag 1923; Stadtarchiv Reinbek, Einwohnermeldekartei/Altkartei (Johanna Bernstein, Ilse Talke); Bein, Ewiges Haus, S. 23, 207; Bein, Sie lebten in Braunschweig, S. 336, 348, 351; Meyer, "Jüdische Mischlinge", S. 26, 30, 92; Mosel, Wegweiser, Heft 2, S. 25–26 (Schäferkampsallee); https://www.braunschweig.de/kultur/erinnerungskultur/Orte.pdf (symbolischer Grabstein für Johanna Bernstein), (eingesehen am 29.4.2015); http://eschweiler-juden.de (Hermann André) (eingesehen am 2.6.2015).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang