Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Markus Bleich * 1891

Lübecker Straße 110 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
MARKUS BLEICH
JG. 1891
AUSGEWIESEN 1938
ZBASZYN
1939 KZ FUHLSBÜTTEL
DEPORTIERT 1941
LODZ
1942 CHELMNO
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Lübecker Straße 110:
Arno Bleich, Jacob Bleich

Arno Bleich, geb. am 22.1.1928 in Hamburg, deportiert am 9.6.1943 in das Getto Theresienstadt, von dort am 28.10.1944 in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, dort ermordet
Jacob Bleich, geb. am 13.6.1926 in Hamburg deportiert am 9.6.1943 in das Getto Theresienstadt, von dort in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, ermordet im Oktober 1944
Markus Bleich, gen. Perlmutter, geb. am 15.1.1891 in Skalat/Galizien, vom 28.10.1938 bis 31.3.1939 Zbaszyn, vom 9.9.1939 bis 21.3.1940 KZ Fuhlsbüttel, am 25.10.1941 deportiert in das Getto "Litzmannstadt" (Lodz), von dort am 25.4.1942 in das Vernichtungslager Chelmno, ermordet
Lübecker Straße 110

"Das Schicksal der Antragstellerin ist insofern einzigartig, als ihre nichtjüdische Abstammung ihre eigenen Kinder nicht davor bewahren konnte, den Vernichtungstod als Juden zu erleiden." Diese Feststellung aus der Wiedergutmachungsakte von Olga Bleich, geb. Köhler, bezeichnet die ausweglose Situation dieser Familie, die durch die "privilegierte Mischehe" der Eltern zunächst geschützt erschien.

Als Arno und Jacob Bleich im Sommer 1943 deportiert wurden, war ihr Vater Markus schon fast zwei Jahre zuvor "zum Aufbau im Osten" geschickt worden. Markus Bleich war fünfzig Jahre alt, als er mit dem ersten Transport aus Hamburg am 25. Oktober 1941 in das Getto "Litzmannstadt" (Lodz) "ausgesiedelt" und am 25. April 1942 als nicht arbeitsfähig zur Ermordung in das Vernichtungslager Chelmno weiter deportiert wurde. Zuvor hatte er bereits die Abschiebung nach Polen und einen KZ-Aufenthalt in Fuhlsbüttel überlebt.

Markus Bleich, genannt Perlmutter, stammte aus Skalat in Galizien, das damals zur Habsburger Monarchie gehörte und heute zur Ukraine. Sein Name ergab sich aus der unehelichen Geburt als Kind von Chana Bleich und Josef Perlmutter. Er hatte einen Bruder.

Er wuchs dreisprachig mit Deutsch, Polnisch und Russisch auf und besuchte die Volksschule. Nach deren Abschluss absolvierte er eine Ausbildung in der Lederbranche. Für den Militärdienst beim österreichischen Heer war er ungeeignet und plante offenbar, 1914 in die USA auszuwandern, kam aber wegen des Beginns des Ersten Weltkriegs nicht über Hamburg hinaus. Weder sein Bruder noch seine Eltern folgten ihm dorthin. Zunächst lebte er zwei Jahre lang vom Ersparten, dann meldete er 1916 unter dem Namen Bleich, gen. Perlmutter, einen "Handel mit Säcken und Lumpen en gros" mit Sitz in der Rutschbahn 21 an. Den Gewerbeschein ließ er weder ändern, als er in der Grindelallee zwei Geschäfte für Schuhbedarfsartikel gründete, noch irgendwann später.

Anfang 1918 wurde er wegen eines Beinleidens im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf behandelt. Später im Jahr musste er sich wegen "Preisübertreibung" vor Gericht verantworten und eine Strafe von 1000 Mark zahlen. Damit war seine Selbstständigkeit zunächst einmal beendet. Er nahm eine Stellung als Reisender (Vertreter) für eine Schuhbedarfsartikelfirma an, die Ende März 1920 auslief. Bevor er am 1. Oktober 1920 ein neues eigenes Geschäft eröffnete, stellte er einen Antrag auf Einbürgerung. Dieser wurde ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Als "bisherige Staatsangehörigkeit" hatte er "Österreich" angegeben. Sein Geburtsort Skalat war zu der Zeit jedoch nicht mehr österreichisch, sondern polnisch, weshalb er nun als Pole galt.

Doch auch ohne die Einbürgerung gelang es ihm, sich beruflich und familiär zu etablieren. Das neue Geschäft war eine Lederwarenhandlung im Winterhuder Weg 2. Er brachte es auch durch die Inflationszeit und gab es erst mit seiner Heirat am 9. Mai 1923 auf. Seine Ehefrau Olga war von Beruf Kontoristin. Sie stammte aus Eimsbüttel, wo ihre Eltern, der Maschinentechniker Heinrich Köhler und seine Ehefrau Bertha, geborene Geißler, mit ihren fünf Kindern lebten. Ein Bruder Olgas war im Ersten Weltkrieg gestorben. Bei der Heirat mit Markus Bleich wohnte sie schon nicht mehr bei den Eltern, sondern in der Hamburger Straße 6. Ihre Familie gehörte der evangelisch-lutherischen Kirche an, mit der Heirat trat sie zum Judentum über.

Nach der Aufgabe des Geschäfts am Winterhuder Weg eröffnete Markus Bleich zwei neue. Eines lag in der Volksdorfer Straße 18 und war ein Kellergeschoss mit Wohnung. Hier arbeitete Olga Bleich. Das andere befand sich in der Hammerbrookstraße 74. Außerdem trat er der Schuhmacherinnung bei.

1924 kam das erste Kind des Ehepaars zur Welt. Es starb jedoch noch im ersten Lebensjahr. Am 13. Juni 1926 wurde Jacob geboren, am 22. Januar 1928 Arno. Die berufstätigen Eltern beschäftigten eine Haushilfe, die auch für die beiden Söhne sorgte. Diese wurden jüdisch erzogen und 1933 bzw. 1934 in der Talmud Tora Schule eingeschult. Jacob litt an den Folgen einer Polio-Erkrankung (Kinderlähmung) und stand im Schatten seines jüngeren Bruders, der ein gesundes Kind war.

Anfang 1938 gab Markus Bleich sein Geschäft in der Hammerbrookstraße auf. Ende März desselben Jahres wurde ihm ebenso wie allen anderen polnischen Bürgerinnen und Bürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland gelebt hatten, die polnische Staats­angehörigkeit durch die polnische Regierung aberkannt. Damit war er staatenlos. Zusammen mit seiner Frau wurde er am 28. Oktober 1938 mit einem Transport von rund 1000 Juden aus Hamburg in das deutsch-polnische Grenzgebiet bei Zbaszyn abgeschoben. Die Eltern hatten gerade noch ihre Söhne bei den nichtjüdischen Großeltern unterbringen können.

Olga Bleich kam als "Arierin" am 31. Dezember 1938 in die Hansestadt zurück und trat rund einen Monat später, am 2. Februar 1939, aus der jüdischen Gemeinde aus. Markus Bleich kehrte erst am 30. März 1939 zurück nach Hamburg und das offenbar mit der Auflage, Deutschland innerhalb kurzer Zeit zu verlassen. Die Eheleute verloren zudem das von Olga geführte Geschäft in der Volksdorfer Straße.

Direkt nach seiner Rückkehr zog Markus Bleich bei seiner Familie aus und suchte sich ein Zimmer zur Untermiete, womöglich, um seine Angehörigen zu schützen. Zugleich betrieb er seine Auswanderung ohne seine Familie. Sein Ziel war zunächst die Dominikanische Republik, dann Polen. Er erhielt alle nötigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen und listete sein Umzugsgut auf – Schuhmacherwerkzeug und ein wenig Kleidung als Handgepäck. Aber dann fehlte es ihm an Geld, um die Prüfung des Umzugsguts durch den Zoll zu bezahlen. Das nächste Hindernis bestand in seiner Staatenlosigkeit, weshalb ihm die polnische Regierung die Einreisegenehmigung verweigerte. Mit dem Beginn des Krieges gegen Polen gab er seine Auswanderungsbemühungen auf. Vermutlich wurde er im Zusammenhang mit dem Polenfeldzug als Pole am 9. September 1939 im "Polizeigefängnis" Fuhlsbüttel inhaftiert. Nach einem halben Jahr, am 21. März 1940, wurde er aus gesundheitlichen Gründen entlassen und im Daniel-Wormser-Haus, dem Auswanderer- und Altersheim des Israelitischen Unterstützungsvereins für Obdachlose in der Westerstraße 27, untergebracht. Diese befand sich am Klostertor in der Nähe des Hauptbahnhofs.

Um sich und die beiden Söhne ernähren zu können, nahm Olga Bleich eine Stellung als Buchhalterin an, verlor sie aber nach kurzer Zeit aufgrund einer Denunziation, die ihre jüdischen Familienverhältnisse verriet. Aus demselben Grund vermittelte ihr das Arbeitsamt keine neue Stelle. Sie erhielt Wohlfahrtsunterstützung und musste für einen Tageslohn von 75 Pfennig nähen.

Durch die Empfehlung einer Bekannten kam sie dann bei einem Schiffsausrüster unter. Doch dieser übte Druck auf sie aus: Sie müsse sich scheiden lassen, um die Stelle zu behalten. Die Eheleute kamen überein, Ehebruch als Scheidungsgrund anzugeben. Die Ehe wurde am 14. November 1940 in gegenseitigem Einvernehmen geschieden, Markus Bleich zog in die Heinrich-Barth-Straße 8 im Grindelviertel. Nun hatte er den Schutz verloren, den ihm die "privilegierte Mischehe" mit seiner nichtjüdischen Frau geboten hatte, und es gab für die Gestapo keinen Grund mehr, ihn anders als andere Jüdinnen und Juden zu behandeln. Er wurde dem ersten Transport Hamburger Jüdinnen und Juden in den Osten zugeteilt. Nach der Haft im KZ Fuhlsbüttel hatte er sich gesundheitlich nicht vollständig erholt. So war er im Getto "Litzmannstadt" (Lodz) nicht in dem Maß arbeitsfähig, wie es für ein Weiterleben dort nötig gewesen wäre. Am 24. April 1942 wurde er in das Vernichtungslager Chelmno deportiert und ermordet. Da war er 51 Jahre alt.

Arno und Jacob konnten die Talmud Tora Schule bis zu ihrer Schließung 1942 besuchen. Beiden war es versagt, eine Lehre anzutreten. Jacob fand zunächst eine Anstellung als ungelernter Arbeiter bei der Firma Reinstrom, die mit Fellen und Häuten handelte, und danach bei Thomas Eggers im Kfz-Großhandel. Arno wurde Handlanger im Foto-Atelier Lani.

In den Augen der Gestapo waren Jacob und Arno Bleich "Geltungsjuden", da sie jüdisch erzogen worden waren. Im Juni 1943 schickte die Gestapo sie mit vielen anderen "Halbjuden" in das Getto von Theresienstadt. Arno war 15 Jahre alt, Jacob erlebte kurz nach der Ankunft seinen 17. Geburtstag. Während der Zeit in Theresienstadt hatten sie brieflichen Kontakt mit ihrer Mutter. Noch 1943 soll Jacob in das KZ Auschwitz weiterdeportiert worden sein, Arno folgte mit dem Herbsttransport am 28. Oktober 1944. Beide wurden sofort nach der Ankunft ermordet.

1956 wurde Olga und Markus Bleichs Ehe rückwirkend als bis zu seinem Tod bestehend anerkannt. Olga Bleichs bitteres Fazit der Entscheidung, sich pro forma scheiden zu lassen, lautete: "Nun konnte ich wohl meinen Kindern das Brot geben, aber schützen vor der Gestapo konnte ich sie nicht." Olga Bleich starb am 6. Juli 1973.

An Jacob und Arno Bleich erinnert sich ihr einstiger Mitschüler Fred Leser, der schon am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert wurde. Arno war sein bester Freund. Er sei sehr begabt gewesen, Jacob habe als Folge einer Kinderlähmung eine Behinderung davongetragen.

Stand: Mai 2016
© Hildgard Thevs

Quellen: 1, 4, 5, 6, 7; StaH 332-4 Aufsicht über die Standesämter, III C 50, Bd. 11, Nr. 181; 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B VI 2477; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 17740; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 17293; 378-3 Zentralgewerbekartei; 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 e 2 Bde 1 u. 5; Abl. 1993, 42, Bd. 2; Hamburger Adressbücher; fernmündliche Mitteilungen von Fred Leser.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen."


Stolpersteine Lübecker Strasse 110 - Familie Bleich - Video der Einweihung auf youtube
©

druckansicht  / Seitenanfang