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Ernestine Hirsch (geborene Weiss) * 1869

Grindelallee 100 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


HIER WOHNTE
ERNESTINE HIRSCH
GEB. WEISS
JG. 1869
DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 7.10.1943

Weitere Stolpersteine in Grindelallee 100:
Bertha Hirsch

Ernestine Hirsch, geb. Weiss, geb. am 23.10.1869 in Tyrnau, deportiert am 5.5.1943 nach Theresienstadt, dort am 7.10.1943 gestorben
Bertha Hirsch, geb. am 4.7.1902 in Hamburg, deportiert am 5.5.1943 nach Theresienstadt, weiterdeportiert nach Auschwitz, am 28.10.1944 ermordet

Grindelhof 100

Ernestine Weiss kam in Ungarn zur Welt, wozu der Ort Tyrnau bei ihrer Geburt gehörte (heute heißt er Trnava und liegt in der Slowakei). Ernestine war das älteste der drei Kinder des Rabbiners Heinrich Weiss (1843–1904) und seiner erste Ehefrau Charlotte, geborene Abeles, die am 1. Juni 1874 verstarb. In zweiter Ehe heiratete Heinrich Weiss am 20. Januar 1875 die Rabbinertochter Karoline Deutsch (1843–1917). In dieser Ehe wurden bis 1888 acht Kinder geboren, von denen allerdings vier bereits im Kindesalter starben. Die Familie übersiedelte im Januar 1878 nach Hamburg. Heinrich Weiss wurde 1879 Rabbiner an der D. S. Wallich Klaus, die 1798 aus dem Testament des 1789 verstorbenen Bankiers und Juwelenhändlers Daniel Salomon Wallich errichtet worden war. Die Klaus lag in der 1. Elbstraße 2/5, der späteren Elbstraße 10, in der Neustadt, wo Familie Weiss auch wohnte.

Karoline Weiss war eine für die damalige Zeit recht emanzipierte Frau, die sich als Schriftstellerin einen Namen machte. In Franz Brümmers 1913 erschienenem "Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart" heißt es zu Karolines Werdegang: "Im Jahre 1870 kam sie zu ihrer weiteren Ausbildung nach Berlin und arbeitete hier zu gleicher Zeit für die ‚Volkszeitung‘." Nach der Heirat betätigte sie sich weiter als Schriftstellerin, auch noch als die Kinderschar größer wurde. Unter ihrem Mädchennamen Karoline Deutsch erschien unter anderem 1883 der Fortsetzungsroman "Der Oberstuhlrichter" in der Tageszeitung "Hamburger Nachrichten". In Buchform veröffentlichte sie zwei Romane und mehrere Erzählungen. Der Nachruf auf Heinrich Weiss in der "Neuen Hamburger Zeitung" vom 9. September 1904 stellte ihn zunächst vor als "Gatte der bekannten Schriftstellerin Karoline Deutsch", ehe er selbst gewürdigt wurde als Stiftsrabbiner im "Wallich’schen Klausinstitut", der dieses Amt 25 Jahre innegehabt hatte und sich "in den Gemeindekreisen hoher Achtung und Wertschätzung" erfreute.

Möglicherweise wurde Ernestine durch ihre Stiefmutter angeregt, ebenfalls einen eher ungewöhnlichen Weg zu gehen, denn sie ergriff einen Beruf, der damals noch selten von Frauen ausgeübt wurde. Sie wurde Dentistin oder, wie sie es anfänglich selbst bezeichnete, "Zahnkünstlerin". Die Ausbildung über zwei Semester absolvierte sie in Wien bei Julius Scheff am Kaiserlich Königlichen Zahnambulatorium der Universität Wien. 1895 inserierte sie in den "Hamburger Nachrichten": "Atelier für künstliche Zähne, Plombiren, Zahnextractionen etc. für Damen und Kinder – Ernestine Weiss, … Sprechstunden von 9–4 Uhr, für Unbemittelte von 4–5 Uhr – Grindelallee 140 II." Der Umstand, dass sie nur Frauen und Kinder behandelte, war wohl der damaligen Vorstellung von Schicklichkeit geschuldet.

Ernestine gab ihre Praxis auch nicht auf, als sie 1901 den Arzt Max Hirsch (1867–1928) heiratete, der seit 1898 als "pract. Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer" zunächst in der Schlüterstraße, später in der Grindelallee praktizierte. In den Hamburger Adressbüchern behielten Ernestine und Max Hirsch auch nach der Heirat eigene Einträgen, wenn auch mit derselben Adresse.

Max Hirsch war der Sohn des jüdischen Kaufmanns Julius Hirsch (1823–1906) und dessen Frau Bertha, geborene Meyer (1825–1893). Nach ihr wurde das einzige Kind von Max und Ernestine Hirsch benannt, die am 4. Juli 1902 geborene Tochter Bertha. Viele Jahre wohnte und praktizierte das Ehepaar zusammen in der Grindelallee 37. Dort starb Max Hirsch am 12. Dezember 1928 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof an der Ilandkoppel bestattet.

Die Tochter Bertha blieb ledig. Sie ergriff ebenfalls einen Beruf und wurde Schulsekretärin an der Talmud Tora Schule. Im April 1939 erlebte sie die Zusammenlegung der Schule mit der Israelitischen Töchterschule im Gebäude am Grindelhof und dann im September den erzwungenen Umzug aller Schüler und Schülerinnen in das Gebäude der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße 35. Dort arbeitete sie als letzte Schulsekretärin bis zur Schließung der Schule im Mai 1942.

Von 1934 bis 1937 wohnten Ernestine und Bertha zusammen in der Grindelallee 100, danach in der Heinrich-Barth-Straße 28. Zuletzt mussten sie noch ins "Judenhaus" Beneckestraße 2 umziehen. Von dort wurden beide am 5. Mai 1943 nach Theresienstadt deportiert.

Der Hausstand, den Ernestine und Bertha zurücklassen mussten, wurde am 6. Juli 1943 in den Versteigerungshallen des Gerichtsvollzieheramts, Drehbahn 36, "freiwillig" versteigert. Die Liste der verkauften Teile umfasste 53 Positionen. Teuerste Posten waren ein dreitüriger Kleiderschrank mit Spiegel für 250 Reichsmark (RM), ein Küchenbüfett für 130 RM, eine Couch für 120 RM und ein 58-teiliges Essgeschirr, ebenfalls für 120 RM. Der Erlös der Versteigerung betrug 1516 RM, von denen nach Abzug der Gebühren 1421,95 RM auf das Postscheckkonto der Oberfinanzkasse überwiesen wurden.

In Theresienstadt starb Ernestine am 7. Oktober 1943. Die widerstandsfähigere Bertha wurde am 28. Oktober 1944 weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Auch zwei Geschwister von Ernestine wurden Opfer der Shoah. Ihre Schwester Irma, geboren am 4. Januar 1878 in Hamburg, wurde im Oktober 1941 zusammen mit ihrem Ehemann Hillel Chassel nach Litzmannstadt deportiert und verstarb dort am 30. Juni 1943. Die Stolpersteine für Irma und Hillel Chassel liegen in der Isestraße 69 (s. "Stolpersteine in der Hamburger Isestraße" und www.stolpersteine-hamburg.de).

Ernestines am 5. August 1882 in Hamburg geborener Bruder Elias Edwin war nach einem "schweren Nervenzusammenbruch" in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn eingeliefert worden. Im April 1941 wurde er in die Jacoby’sche Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn bei Koblenz gebracht. Auf Anordnung des Reichsministerium des Inneren wurden dort ab 1940 bis Sommer 1941 im Zuge der "Euthanasie"-Maßnahmen alle jüdischen Patienten und Patientinnen aus Heil- und Pflegeanstalten im gesamten Deutschen Reich zusammengefasst und 1942 zusammen mit anderen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aus dem Raum Koblenz in das Generalgouvernement verschleppt und ermordet. Elias Edwin Weiss wurde von Bendorf-Sayn aus im März 1942 über das "Durchgangslager" Izbica ins Vernichtungslager Belzec verschleppt und ermordet. Der Stolperstein für Elias Edwin Weiss liegt am Münzplatz 11 (s. "Stolpersteine in Hamburg-St. Georg" und www.stolpersteine-hamburg.de).

Stand: Juli 2017
© Petra Schmolinske

Quellen: 1; 3; 4; 5; StaH 332-5 Standesämter 8610 u. 464/1901, 8094 u. 606/1928, 536 u. 1226/1904, 770 u. 294/1917, 84 u. 1476/1880, 162 u. 5082/1884, 242 u. 621/1888, 273 u.3177/1890, 7880 u. 2247/1893, 7985 u. 51/1906; Hamburger Adressbücher; Friedhof Ohlsdorf Bestattungsregister; StaH 214-1 Gerichtsvollzieherwesen 354; StaH 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht BIII 70446; Kirchner: Geschichte; Brümmer: Lexikon; Hamburger Nachrichten, 26.7.1896, online: www.theeuropeanlibrary.org/tel4/newspapers (letzter Aufruf: 4.6.2016); Neue Hamburger Zeitung 9.9.1904, online: http://www.theeuropeanlibrary.org/tel4/newspapers (letzter Aufruf: 4.6.2016); Hamburger Nachrichten 30.3.–21.4.1883, online: http://www.theeuropeanlibrary.org/tel4/newspapers (letzter Aufruf: 4.6.2016); Stein: Jüdische Baudenkmäler; Preuß: Gelehrte Juden; Schabow: Die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt, S. 55–95; Liste der am 15.6.1942 aus der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn ausgesiedelten Juden, in: Dokumente des Gedenkens, Koblenz 1974, S. 274–280.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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