Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Carl Riemann
Carl Riemann
© StaH

Carl F. Riemann * 1893

Grindelallee 139 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


HIER WOHNTE
CARL F. RIEMANN
JG. 1893
EINGEWIESEN 1934
"HEILANSTALT" LANGENHORN
HEILANSTALT LÜNEBURG 1936
"VERLEGT" 7.3.1941
PIRNA SONNENSTEIN
ERMORDET 7.3.1941
"AKTION T4"

Downloads:

Carl Friedrich Riemann, geb. 20.9.1893, ab 1934 Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten, ermordet am 7.3.1941 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Grindelallee 138, Rotherbaum

Carl Friedrich Riemann wurde am 20. September 1893 als Sohn eines Kaufmanns in Herford/Westfalen geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern auf, besuchte nach seiner Schulzeit eine Forstschule und arbeitete anschließend ab 1913 als Jäger im Bereich Magdeburg.

1920 lernte Carl Riemann die damals fünfzehnjährige Wilma Blumenthal, geboren am 22. Oktober 1905, kennen, die aus einer jüdischen Familie stammte. Er heiratete sie am 16. Mai 1923 gegen den Willen seines Vaters. Am 2. August 1924 wurde die Tochter Ingrid und am 24. November 1928 der Sohn Hubert geboren.

Carl Riemann nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse und dem Verwundetenabzeichen ausgezeichnet. Danach gehörte er einem Freikorps an (Freikorps waren paramilitärische Einheiten, die vor allem linke Aufstände bekämpften).

Auf der Suche nach einer sicheren beruflichen Perspektive wandte er sich an einen ehemaligen Vorgesetzten, der ihm mit Schreiben vom 8. September 1919 anbot, als Kompanieoffizier nach Hamburg zu wechseln. Am 5. November 1919 trat Carl Riemann in die Ordnungspolizei Hamburg ein. Er wurde als Polizeioberwachtmeister eingestellt und versah anfangs Streifendienst. Am 1. Dezember 1920 wurde er zum Polizeileutnant befördert.

Carl Riemann wurde dann mit der Ausbildung von Beamtenanwärtern in der Stammabteilung der Polizei beauftragt und anschließend "aufgrund seiner besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten" am 1. Mai 1921 als Zugführer zur 3. Radfahrbereitschaft versetzt. Zur Radfahrbereitschaft gehörten u.a. die sechs Panzerwagen der Hamburger Ordnungspolizei. Als die KPD den "Hamburger Aufstand" vom 23. Oktober1923 bis 26. Oktober 1923 anzettelte, kam Carl Riemann als Zugführer eines Panzerwagenzuges in Bramfeld und Barmbek zum Einsatz. Eine zeitgenössische Fotografie dieses Einsatzes, die Carl Riemann im Turm eines Panzerwagens zeigte, hing noch in den 1940er Jahren in der Polizeibehörde im Stadthaus.

Die Familie Riemann lebte bei den jüdischen Schwiegereltern in einer großen Altbauwohnung mit sechseinhalb Zimmern in der Grindelallee 139. Hier war er in den Hamburger Adressbüchern von 1925 bis 1931 als "Riemann, C., Pol.-Leutn(ant)." verzeichnet.

Nach 1931 wurde er nicht weiter befördert. Er "gehörte der SPD als Mitglied an, als welcher er auch unter den Beamten die Belange der Demokratie im Sinne der Weimarer Verfassung vertrat", hieß es in einer Mitteilung des Sonderhilfsausschusses vom 25. Mai 1949. Nach einer Erklärung der Tochter Ingrid vom 26. August 1948, die inzwischen den Ehenamen Wecker trug, gehörte ihr Vater inzwischen als SPD-Mitglied zur "Gruppe Danner, dem damaligen Polizeichef, und Hauptmann Georges, dem jetzigen Chef der Hamburger Polizei".

Am 30. September 1930 trat Carl Riemann aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand.
Seine Familie machte später für seine psychische Erkrankung in erster Linie die Anfeindungen im Offizierskorps der Polizei verantwortlich, die sich gegen die Ehe mit seiner jüdischen Frau richteten. Auch mögen Folgen seiner Kriegserlebnisse eine Rolle gespielt haben.

1930 kaufte Carl Riemann ein kleines abgelegenes Haus in Asendorf in der Lüneburger Heide, wo er als Jagdaufseher tätig war. Doch auch dort stellten sich zunehmend Probleme ein, da Carl Riemann zum einen gegen Wilderer vorgegangen sei und – so Tochter Ingrid später - zum anderen aus seinen politischen Überzeugungen keinen Hehl gemacht habe.

Carl Riemanns Gesundheitszustand wirkte sich auch auf seine Ehe aus. Zwischen ihm und seiner Frau kam es immer häufiger zu Streitigkeiten, die dazu führten, dass Wilma Riemann und die Kinder zurück in die Grindelallee 139 zogen.

Ende November 1934 fuhr Carl Riemann mit dem Fahrrad nach Hamburg zu seiner Familie. Zuvor hatte er in einem Brief seinen Suizid angekündigt, in einem zweiten Schreiben kündigte er die Fahrt nach Hamburg an. Der Inhalt dieser Briefe gelangte auf unbekannte Weise an die Hamburger Polizei. Da Carl Riemann als Förster im Besitz von Langwaffen und einer Pistole war, fürchtete diese, er bedrohe seine Familie. Sie nahm Carl Riemann in "Schutzhaft", nachdem seine Frau ihn überzeugt hatte, "seine Nerven" behandeln zu lassen.

Carl Riemann wurde zunächst ins Harburger Krankenhaus eingewiesen, am 19. Dezember 1934 in die Staatskrankenanstalten Langenhorn und dann nach Friedrichsberg verlegt. Die Diagnosen lauteten "Schizophrenie" bzw. "paranoide Wahnvorstellungen". Tochter Ingrid erlebte ihn bei Besuchen als leidenden und verängstigten Menschen: "Er hatte entsetzliche Angst vor den Ärzten und schrie oft: ‚Sie quälen mich‘, nahm keine Nahrung zu sich und von uns an, es wäre alles vergiftet. Dann erzählte er von Todesstrahlen und schimpfte auf Hitler …". Ungeheilt wurde er am 21. Januar 1936 nach Lüneburg verlegt, die Ärzte sahen den Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt als notwendig an.

Als Tochter Ingrid ihn in Lüneburg besuchte, "habe ich ihn nicht wiedererkannt. Erstmal duckte er sich vor allen Wärtern, und er sagte immer: ‚Ich habe Angst vor den Ärzten, die tun was mit mir. Ich habe Angst vor den Ärzten.‘ Und da hatte man ihm Elektroschocks versetzt."

Am 19. Oktober 1939 wurde Carl Riemann vom Amtsgericht Winsen/Luhe unter dem Aktenzeichen 4 E 4/39 wegen Geisteskrankheit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) entmündigt. Nach Aussage von Ingrid Wecker wurde ein Landgendarm aus der Heide als Vormund eingesetzt, der das Haus in Asendorf verkaufte.

Am 7. März 1941 wurde Carl Riemann zusammen mit 116 weiteren männlichen Patienten mit einem Direkttransport der "Aktion T4" von Lüneburg in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein verbracht und vermutlich noch am selben oder am folgenden Tag in der Gaskammer der Anstalt ermordet.

Der Familie wurde im Totenschein der 24. März 1941 als Todesdatum bekannt gegeben.

Für die Hinterbliebenen ging es nun darum, das eigene Überleben sicherzustellen, denn im Oktober 1941 hatten die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Hamburg begonnen und für Wilma Riemann war durch den Tod ihres Mannes der Schutz der privilegierten Mischehe entfallen. Sie nutzte erfolgreich eine Lücke in der neuen Familiengesetzgebung, um den Status einer "Volljüdin" in den eines "Mischlings 1. Grades" zu verwandeln, in dem sie vor Gericht behauptete, sie sei eigentlich die Tochter eines früher bei ihren Großeltern als Untermieter wohnenden "arischen" Kapitäns.
Damit wurde sie von den Deportationen nicht erfasst, und ihre Kinder galten als "Mischlinge zweiten Grades".
Nach dem Krieg musste sie ihren tatsächlichen Geburtsnamen wieder einklagen.

Die Ausstellung "Juden brauchen wir hier nicht - Hamburgs jüdische Polizeibeamte-verdrängt, verfolgt, vergessen (1918-1952) würdigte u.a. das Schicksal Carl Riemanns.

(Die ausführliche Biographie Carl Riemanns mit Hintergrundinformationen siehe pdf unter Downloads.)

Stand: Januar 2023
© Martin Bähr

Quellen: Hamburger Adressbuch, Jg. 1925-1931; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 30188 Wilma Riemann, 46414 Ingrid Helga Köppe (gesch. Wecker, geb. Riemann), 48999 Hubert Horst Riemann, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 2/1995 22076 Karl Riemann; 625-2/5 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (und ihre Gliederungen) B 260 Verhältnis der SA zur Polizei, insbesondere Bewerbungen, Einstellungen und Dienst bei der Ordnungspolizei; Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 08358. Die Akte, die den Entmündigungs-Beschluss enthält, wurde freundlicherweise von Dr. Carola Rudnick zur Verfügung gestellt. Bundesarchiv B 578/37149, email vom 29.10.2020, Krankenbuchunterlagen im Bundesarchiv während des Ersten Weltkriegs; FZH/WdE 15 Interview vom 9.2.1990. Interviewerinnen Beate Meyer, Sybille Baumbauch und Susanne Lohmeyer, Hubert Riemann gibt an, sein Vater habe sich "die zu erwartende Pension kapitalisieren lassen" und mit dem Geld das Haus gekauft. Eine Kapitalisierung war bis zur Hälfte des jährlichen Ruhegehalts möglich und insbesondere zum Erwerb eigenen Grundbesitzes vorgesehen. (§§ 59 ff Polizeibeamtengesetz vom 25.2.1929, HmbGVOBl. Nr. 19 v. 2. März 1929, S. 66 - 67); FZH/WdE 34, Ingrid Wecker in Interviews mit Ulrich Prehn vom 02.06.2007, vom 9.2.1990 mit Beate Meyer, Sybille Baumbach und Susanne Lohmeyer, vom 18.06.1992 mit Beate Meyer, vom 16.12.1992 mit Beate Meyer und Sybille Baumbach; Battermann, Gert, Dorfarchivar Asendorf, email vom 13.1.2020, Schütte, Ina, Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, email vom 7. Mai 2019, Rudnick, Carola, "Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg e.V., E-Mail von 10. Juli 2019. Aly, Götz: ‚Aktion T 4’ - Modell des Massenmordes. S. 11. in: Aly, Götz (Hrsg.): Aktion T4, 1939 -1945. Die Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. 2. erw. Aufl. Berlin 1989. Boldt, Erwin B.: Die verschenkte Reform. Der Neuaufbau der Hamburger Polizei zwischen Weimarer Tradition und den Vorgaben der britischen Besatzungsmacht (1945 - 1955), Hamburg 2002, S. 71. Boldt, Erwin B.: Reform, S. 78, 1923 war die Ordnungspolizei mit den Panzerwagen "Typ ‚DaimlerDZR’ ausgerüstet. Die Bewaffnung eines Fahrzeugs umfasste 2 leichte Maschinengewehre (1. MG) und 2 Maschinenpistolen (MP). Die Besatzung bestand unter Führung eines Offiziers (Leutnant/ Oberleutnant, hilfsweise Zugwachtmeister) aus 8 Beamten." Hinz-Wessels, Annette, Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde. Berlin 2015, S. 63 ff., S. 75 ff. Hohendorf, Gerrit (u. a.): Die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T4", in: Der Nervenarzt 73/2002, S. 1065-1074. Kopitzsch, Wolfgang: Polizeileutnant Friedrich Carl Riemann. Unveröffentl. Manuskript. Auskunft aus den Krankenbuchunterlagen im Bundesarchiv: Riemann gehörte 1916 als Oberjäger zur 1. Kompanie des Reserve-Jäger-Bataillons 15, 105. Infanteriedivision. (E-Mail des Bundesarchivs v. 29.10.2020, Signatur B 578/37149, S. 30). Kopitzsch, Wolfgang: Danner. in: Kopitzsch, Franklin; Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 2, S. 96 f. Reiter, Raimond: Psychiatrie im Dritten Reich in Niedersachsen. Hannover 1997. S. 203. Templin, David (zu Danner): Wissenschaftliche Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen. Abschlussbericht erstellt im Auftrag des Staatsarchivs Hamburg. S. 91 ff. Krüll, Nadja, Die nationalsozialistische Disziplinaramnestie des Jahres 1933, Tübingen 2018, S. 180f. (wegen Arthur Böckenhauer). Meyer, Beate, "Jüdische Mischlinge". Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933 - 1945, 3. Auflage, Hamburg 2007 S. 137 ff. Rönn, Peter von: Die Entwicklung der Anstalt Langehorn in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 34 f., 46f., 48, 105 in: Böhme, Klaus/Lohalm, Uwe (Hrsg.): Wege in den Tod. Hamburg 1993. Sonn, Eveline: Die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, S. 268 ff., in: Böhme, Klaus/Lohalm, Uwe (Hrsg.): Wege in den Tod. Hamburg 1993. Stein, Peter: Die Harburger Tagespresse 1750 - 1943. in: Ellermann, Jürgen; Richter, Klaus; Stegmann, Dirk (Hrsg.): Harburg. Von der Burg zur Industriestadt. Beiträge zur Geschichte Harburgs 1288 - 1938. Hamburg 1988. S. 369 ff. (Georg Lühmann). Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Hrsg. v. Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn 1987. S. 209; http://www.dividedlives.com/wecker.html (Zugriff: 8.7.2020)
Carlichi­Witjes, Nadine Marta Pierrette: Opfer "Wilder Euthanasie"? – Identifikation der Toten vom ehemaligen Friedhof (1942 - 1945) der psychiatrischen Anstalt Hall in Tirol. Dissertation. München 2015, S. 24). Hohendorf, Gerrit; (u.a.): Die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T4". Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin. in: Der Nervenarzt 73/2002, S. 1067).

druckansicht  / Seitenanfang