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Rolf Haubenreisser (undatiert)
© Karen Haubenreisser

Rolf Haubenreisser * 1935

Hemmingstedter Weg 162 (Altona, Osdorf)


HIER WOHNTE
ROLF HAUBENREISSER
JG. 1935
EINGEWIESEN 1940
ALSTERDORFER ANSTALTEN
1943 "VERLEGT"
HEILANSTALT MAINKOFEN
VERHUNGERN LASSEN
TOT 16.5.1945

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Rolf Haubenreisser, geb. am 12.6.1935, eingewiesen in die ehemaligen Alsterdorfer Anstalten am 13.3.1940, verlegt in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen 10.8.1943, am 16.5.1945 ermordet

Hemmingstedter Weg 162 (Liliencronweg)

Karen Haubenreisser durchbrach 2011 das Schweigen, das über den Tod ihres Onkels Rolf Haubenreisser herrschte: "Dass es ein behindertes Kind in meiner Familie gab, das getötet wurde, war ein Tabu – wir Kinder wussten immer, da ist was Schlimmes, aber weder meine Schwester noch ich hätten unsere Großeltern jemals danach gefragt. Das Schicksal von Rolf ist kaum zu ertragen. Rolfs Ermordung zeigt, wohin Ausgrenzung in ihrer extremen Form führen kann. Sie zeigt auch, wie Ausgrenzung in einer ganz normalen Familie und Nachbarschaft möglich wurde. Brüche und Widersprüche versteckt unter Sprachlosigkeit und Schweigen."

Rolf Haubenreisser wurde am 12. Juni 1935 geboren als Sohn von Ernst Albin Haubenreisser und seiner Frau Käthe Mathilde Frieda, geborene Hinsch. Ernst Haubenreisser, Sohn eines Tischlers, war als Briefmarkenhändler tätig. Käthe Haubenreisser stammte aus einer Schifferfamilie, ihr Vater war Seemann. Eineinhalb Jahre nach Rolfs Geburt, am 13. Januar 1938, kam sein Bruder Horst zur Welt.

Familie Haubenreisser wohnte in Altona-Osdorf im Liliencronweg 162 (heute Hemmingstedter Weg), Ecke Jenischstraße. Karen Haubenreisser hat positive Erinnerungen an Rolfs Eltern: "Meine Großmutter war eine fürsorgliche Frau, aufgeschlossen gegenüber hilfsbedürftigen Menschen, vor allem gegenüber einer behinderten Frau direkt nebenan, sie war kinderfreundlich wie ihr Mann. Beide waren sehr gesellig, mit vielen nachbarschaftlichen Kontakten."

Rolf erlitt in seinem ersten Lebensjahr wiederholt Krampfanfälle. Seine Entwicklung war möglicherweise durch Komplikationen bei seiner Geburt beeinträchtigt. Im Alter von eineinhalb Jahren konnte er gehen. Doch er sprach nicht. Seine Eltern ließen ihn im Städtischen Krankenhaus Altona untersuchen, zuständig war der Oberarzt der psychiatrischen Abteilung Karl Stender. Am 13. März 1940 überwies die Assistenzärztin Dräsche den Vierjährigen in die damaligen Alsterdorfer Anstalten in Hamburg. Die Begründung lautete: "Es handelt sich um ein erethisch, imbezilles Kind mit organischen Krampfanfällen. […] Da ein jüngerer Bruder und ebenfalls die Gesundheit der Mutter unter dem Pat[ienten] schwer leiden, erscheint uns eine dauernde Unterbringung dringend erforderlich." "Imbezillität" war zu der Zeit ein Synonym für "Schwachsinn mittleren Grades", "Erethismus" bezeichnete eine krankhaft gesteigerte Reizbarkeit.

Die Mutter Käthe Haubenreisser versorgte zu dem Zeitpunkt die beiden Kinder allein. Ernst Haubenreisser war 1940 zur Wehrmacht einberufen worden.

Die Eltern wurden bei Rolfs Aufnahme am 13. März 1940 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten befragt. Ein Arzt notierte im sogenannten Abhörungsbogen unter den standardisierten Fragen die "schwere Zangengeburt". Rolf sei "sehr erregt", seine Gemütsstimmung "immer schreiend". Er hielt fest, dass Rolf die Mutter "wahrscheinlich" erkennen könne. Der leitende Oberarzt Gerhard Kreyenberg vermerkte am selben Tag in Rolf Haubenreissers Akte: "Pat.[ient] wurde als Neuaufnahme in den Wachsaal aufgenommen. […] Im Wesen ist er laut und ungebärdig. Bei der Körperpflege ist er wild, Spielsachen wirft er gleich wieder weg. An Körper und Kleidung sehr sauber, und spielt am liebsten mit Gegenständen, die sich drehen lassen."

Ab 1931 waren die "Wachsäle" nach Kreyenbergs Konzept einer Modernisierung der Anstalt als Abteilungen für "erregte Schwachsinnige" eingerichtet worden. Dort fand eine Intensivbehandlung statt, die auf Strafe, Isolierung und Degradierung beruhte. Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren, sowie aggressive Insulin- und Cardiazol-Schockbehandlungen wurden durchgeführt, in der Annahme, "Schwachsinn" auf diese Weise als Krankheit "heilen" zu können. Eine Förderung hingegen erfuhr der geistig behinderte Junge nicht.

Der nächste, undatierte Eintrag im Aufnahmebogen spiegelte die Reaktion des Jungen auf diese Behandlung: "Das Kind ist außerordentlich leicht erregt, schreit, […] Spielzeug wirft es weg, beschäftigt sich nicht, Schreien und Toben ist so stark, dass er kaum zu halten ist."

Die Kosten der Unterbringung für ihren Sohn in den damaligen Alsterdorfer Anstalten trugen die Eltern selbst. Sie korrespondierten mit der Einrichtung, Käthe Haubenreisser besuchte Rolf wöchentlich. 1941 baten die Eltern, ihnen einen Abschnitt seiner Nährmittelkarte zukommen zu lassen: "Unser Sohn Rolf mag gerne schokoladenartige Süßigkeiten, diese möchten wir ihm gerne kaufen." Der Antrag wurde abgewiesen.

Am 17. Juni 1942 trug Kreyenberg in Rolfs Krankenakte ein: "Pat.[ient] braucht Hilfe bei der Körperpflege, kann seit einigen Wochen allein essen, spricht nicht, summt aber Lieder vor sich hin." In einer Diagnose vom 16. März 1943 beschrieb er Rolf als "lebhaft, steigt gerne auf Tische und Bänke. Pat.[ient] kann nicht sprechen, ist beim An- und Ausziehen auf die Hilfe anderer angewiesen. […] Seine Kleidung hält er einigermaßen sauber, hat aber die Angewohnheit, auf seinen Jackenkragen zu beißen. Er spielt gern mit sich allein."

Pastor Friedrich Karl Lensch, Direktor der damaligen Alsterdorfer Anstalten, und der Arzt Kreyenberg waren Befürworter rassehygienischer Konzepte. Kreyenberg trug in den Kriegsjahren alle folgenschweren Entscheidungen des Vorstands der Alsterdorfer Anstalten, die in das nationalsozialistische Programm der "Vernichtung unwerten Lebens" verstrickt waren, mit. So war er auch an der Erfassung der Patienten auf den Meldebögen für die "Euthanasie"-Mord-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4, der "T 4-Aktion", beteiligt. Er entwickelte ein immer schärferes Selektions-Konzept.

Die erste Phase der "Euthanasie"-Morde in Gastötungsanstalten außerhalb der Heil- und Pflegeanstalten hatte nach Protesten der Kirche, vor allem nach der Protestpredigt des katholischen Bischofs von Galen aus Münster, ein Ende gefunden. In einer zweiten Phase wurde in über hundert Heil- und Pflegeanstalten weiter gemordet, indem Patienten und Patientinnen dem Sterben durch Hunger, Kälte, Nichtbehandlung von Krankheiten und fehlender Pflege ausgesetzt wurden oder durch Medikamente getötet wurden.

Als die damaligen Alsterdorfer Anstalten im Sommer 1943 bei den Luftangriffen auf Hamburg Bombenschäden erlitten, sah der Vorstand eine Gelegenheit, sich des Teils der Patienten und Patientinnen zu entledigen, die besonders schwach und hilfsbedürftig waren und als nicht heilbar oder als "arbeitsschwach" galten. Angeblich um Platz zu schaffen, wurden nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde innerhalb einer Woche im August 469 von der Anstaltsleitung bestimmte Personen in die vier weit entfernten Landes-Heil- und Pflegeanstalten Eichberg im Rheingau, Kalmenhof im Taunus, Mainkofen in Niederbayern und Am Steinhof in Wien abtransportiert. Kriegsbedingt notwendig waren die Verlegungen nicht.

Der achtjährige Rolf Haubenreisser kam am 10. August 1943 zusammen mit 112 weiteren Jungen und Männern in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen bei Deggendorf. In seiner Akte trug Kreyenberg handschriftlich ein: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Mainkofen."

Nun war Rolf außerhalb der Reichweite seiner Angehörigen. Seine Eltern versuchten in Erfahrung zu bringen, wie es ihrem Sohn ging. Am 30. Oktober 1943 richtete Ernst Haubenreisser eine Anfrage an die Anstalt Mainkofen: "Wir möchten nun gern einmal etwas von dem Kind hören und bitten Sie freundlichst uns einmal über ihn zu schreiben, und zwar ganz unverfälscht, also nicht in dem sonst so üblichen Stil." Ob die Eltern Antwort erhielten, geht aus den Akten nicht hervor.

Am 14. Dezember 1942 war vom bayrischen Staatsminister des Inneren eine Anweisung an alle Heil- und Pflegeanstalten des Regierungsbezirkes, auch an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen, ergangen, "zum sofortigen Vollzug": "Im Hinblick auf die kriegsbedingten Ernährungszustände und auch auf den Gesundheitszustand der arbeitenden Anstaltsinsassen lässt es sich nicht mehr länger verantworten, dass sämtliche Insassen der Heil- und Pflegeanstalten unterschiedslos die gleiche Verpflegung erhalten ohne Rücksicht darauf, ob sie einerseits produktive Arbeit leisten oder in Therapie stehen oder ob sie andererseits lediglich in Pflege in den Anstalten untergebracht sind, ohne eine nennenswerte nutzbringende Arbeit zu leisten.

Es wird daher angeordnet, dass mit sofortiger Wirkung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht diejenigen Insassen der Heil- und Pflegeanstalten, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen, ferner die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegsbeschädigten und die an Alterspsychose Leidenden zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden."

Diese Anordnung des Hungertodes, der sogenannte Hungererlass, wurde umgesetzt durch die kalorienarme "3 B-Kost" – von der Menge her reduziert, fleisch- und fettlos. Dabei starben die Patienten langsam an Unterernährung.

Am 3. Oktober 1944 wurde in Rolfs Akte in Mainkofen vermerkt: "Der Pat.[ient] ist, als er gerufen wird, sehr scheu, gibt auf keine Frage Antwort, sagt nicht einmal seinen Namen. Er zeigt nur etwas Interesse für die Manteltaschen von Ref.[erent], ist aber nicht zu bewegen, diesen anzuschauen. Auf der Abteilung verhält er sich ruhig, ist freundlich u. verträglich mit seinen Mitpatienten, zerreisst nichts. Er spricht sehr wenig, isst allein und ordentlich."

Am 16. Mai 1945 erfolgte der letzte Eintrag über Rolf Haubenreissers Zustand: "Gegenüber dem Eintrag vom 3.10.44 auf psychischem Gebiet und im äußeren Verhalten keine wesentliche Änderung, außer daß Pat.[ient] seit einiger Zeit dazu neigte, an seinem Hemd oder anderer Wäsche zu reißen bzw. mit den Zähnen zu beißen. Seit etwa 3–4 Wochen oft durchfälliger Stuhl und starke Abnahme des Ernährungszustandes." In der nächsten Zeile wurde sein Tod konstatiert: "Heute um 11 Uhr 35 Min. gestorben. Todesursache: Darmkatarrh."

Das war eine der stereotypen Formulierungen zur Verschleierung der wirklichen Todesumstände. Rolf Haubenreisser wurde im Alter von neun Jahren ermordet durch systematisches Aushungern. Er starb acht Tage nach der Befreiung vom Nationalsozialismus.

Erst sieben Monate später, am 17. Dezember 1945, erhielten die Eltern von Pastor Lensch, der offiziell zurückgetreten war, um einer Entlassung durch die Militärbehörden zuvorzukommen, aber immer noch als Direktor der Alsterdorfer Anstalten unterschrieb, die Todesnachricht: "Da wir nicht wissen, ob Sie schon eine direkte Nachricht erhalten haben, teilen wir Ihnen mit, dass die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen uns benachrichtigt hat, dass Ihr Sohn Rolf am 16.5.45 an Darmkatarrh heimgegangen ist. Mit herzlicher Anteilnahme."

Rolf Haubenreisser war am 19. Mai um 8 Uhr auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt worden, ohne dass die Eltern verständigt wurden. Der Friedhof des heutigen Bezirksklinikums Mainkofen war jahrelang verwildert und musste zum Teil einer Parkanlage weichen. Rolfs Bruder, Horst Haubenreisser, war Ende der 1980er Jahre nach Mainkofen gereist und "auf Mauern des Schweigens" gestoßen, so Karen Haubenreisser, die Nichte des Opfers. Sie selbst besuchte 2011 den verwilderten Friedhof in Mainkofen und engagiert sich seitdem für ein Gedenken an die Opfer der Euthanasie in Mainkofen. Mit ihr wandten sich weitere Unterstützerinnen und Unterstützer aus Hamburg an die bayrische Bezirksregierung mit der Aufforderung, den Friedhof entsprechend dem Gräbergesetz zu erhalten und eine Gedenkstätte einzurichten; die Presse wurde aufmerksam und berichtete. Nach einer fast 70-jährigen Geschichte des Vergessens und Verschweigens erhielt die Familie Haubenreisser im September 2011 ein Schreiben des niederbayrischen Bezirkstagspräsidenten, in dem erstmals offiziell die Tötung des Kindes bestätigt wurde. Nach einem monatelangen Schriftverkehr sagte das niederbayrische Staatsministerium der Familie im Oktober 2012 zu, eine Lern- und Gedenkstätte für die ums Leben gekommenen Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen unter Nennung aller Namen zu errichten, die im Oktober 2014 auf dem Gräberfeld direkt vor dem ehemaligen Leichenhaus eingeweiht wurde. Der Friedhof soll erhalten bleiben.

Auf einer Gedenktafel wird nun an 1366 Menschen erinnert, die im Rahmen des "Hungererlasses" ermordet oder in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert wurden.

Stand September 2015

© Birgit Gewehr

Quellen: Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Akte 407, Rolf Haubenreisser; Freitag, Rolf (9) – verhungert nach Plan; Michael Westerholz, Vergasen oder Verhungern; Hilt, "Viele wussten, wohin sie kommen"; Wunder u. a., Auf dieser schiefen Ebene, S. 97–125 und S. 189–201; Diercks, "Euthanasie", S. 56; Gespräche mit Karen Haubenreisser, November 2013, Mai 1914; Dokumente im Familienbesitz Haubenreisser.


Karen Haubenreisser
Rede zur Einweihung der "Euthanasie"-Gedenkstätte in Mainkofen am 28.10.2014

Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.
Erinnerungsarbeit zur Gedenkstätte Mainkofen.

Sehr geehrte Angehörige, sehr geehrter Herr Bezirkstagspräsident Dr. Heinrich, sehr geehrter Herr Dr. Wunder, sehr geehrter Herr Professor Schreiber, sehr geehrter Herr Schneider, sehr geehrte Damen und Herren,

Mein Onkel Rolf Haubenreisser wäre heute 77 Jahre alt. 1935 in Hamburg geboren, lebte er mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder und seinen Eltern im Obergeschoss eines kleinen Hamburger Mehrfamilienhauses. Zwei Jahre vor Rolfs Geburt, 1933, hatten die Nationalsozialisten das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erlassen. Es verpflichtete Ärztinnen und Ärzte, alle Kinder bei den Gesundheitsämtern zu melden, die mit einer Behinderung geboren wurden. Das betraf auch Rolf. Nach einer schweren Zangengeburt litt er wiederkehrend unter Anfällen.

Im März 1940 geben Rolfs Eltern den Vierjährigen auf Rat des Hausarztes in die damaligen Alsterdorfer Anstalten in Hamburg. "Ein jüngerer Bruder und ebenfalls die Gesundheit der Mutter würden unter dem Patienten schwer leiden, so dass eine dauernde Unterbringung dringend erforderlich erscheint", so der Mediziner in einer Aktiennotiz. Drei Jahre lebt Rolf in der Anstalt, seine Mutter besucht ihn jede Woche. Rolf ist ein Kind, das gerne spielt und über Tische und Bänke klettert, dieses Foto hier zeigt ihn zusammen mit Nachbarskindern im Schnee. Seine Mutter steht hinter ihm und er wendet sich interessiert und mutig zwei großen Hunden zu.

Im August 1943 deportieren die Alsterdorfer Anstalten 112 Jungen und Männer nach Mainkofen, darunter Rolf. Zwei Monate später schreibt sein Vater einen Brief nach Bayern, in dem er seine Sorge und sein Misstrauen ausdrückt: "Wir möchten nun gern einmal etwas von dem Kinde hören und bitten Sie freundlichst uns einmal über ihn zu schreiben, und zwar ganz unverfälscht, also nicht in dem sonst üblichen Stil." Rolf lebt fast zwei Jahre in Mainkofen, unter kaum vorstellbaren Bedingungen, bis er kurz vor seinem 10. Geburtstag am 16. Mai 1945 durch systematisches Verhungernlassen stirbt. In Rolfs Akte aus Mainkofen finden wir nur zwei Einträge: im Oktober 1944: "Er ist sehr scheu." Und an seinem Todestag: "Keine Änderung außer, dass er dazu neigt, mit den Zähnen zu beißen. Seit 3-4 Wochen starke Abnahme. Heute 11 Uhr 35 gestorben." Sieben Monate später, im Dezember 1945, erhalten Rolfs Eltern ein Schreiben der Alsterdorfer Anstalten, in dem diese mitteilen, dass Rolf an Darmkatarrh gestorben sei. Unterschrieben: "Mit herzlicher Anteilnahme Lensch, Direktor".

Rolfs Bruder, mein Vater, reiste Ende der 80er Jahre allein und als bereits sehr kranker Mann hierher nach Mainkofen. Hier stieß er auf Mauern des Schweigens. Er kam erschlagen und ohne Ergebnisse zurück. Es sei dort nichts gewesen, hatte man ihm in Mainkofen gesagt.

Im April 2011, also vor dreieinhalb Jahren, bin ich selbst nach Mainkofen gereist und fand den Friedhof verwildert vor. Es lagen Grabsteine lose umher, Pflanzen wucherten, die Hälfte des Friedhofs war gar nicht mehr vorhanden, weil dieser planiert und in einen Park umgewandelt worden war - was offenkundig mit dem Deutschen Gräberrecht nicht im Einklang stand. Nur einen flachen Gedenkstein mit Immergrün gab es am Eingang des Klinikums. In unheimlichem Kontrast stand direkt daneben ein hoch aufgerichtetes Denkmal für die Soldaten des Krieges, reich dekoriert mit frischen Blumen.

Der Friedhof, ein Symbol des Vergessens und der Verdrängung.

Meine Familie forderte die Leitung des Klinikums direkt nach meiner Reise 2011 auf, den Friedhof als öffentlichen Gedenkort herzurichten und zu erhalten. Wir hatten dabei drei Ziele: 1. Der Friedhof soll als Gedenkstätte erhalten bleiben. 2. Der Gedenkort soll jederzeit öffentlich für alle Menschen zugänglich sein, so dass niemals wieder Angehörige vor verschlossener Tür stehen würden, und: 3. Jedes einzelne Opfer soll mit Namen genannt werden. Es folgte ein dreijähriges Ringen um die Gedenkstätte und deren Ausgestaltung, in dem sich Konfliktlinien wiederfinden, aus denen sich lernen lässt – für die weiteren Entwicklungen und Aufarbeitungen in Mainkofen und für Entwicklungen an anderen Orten. Drei Spannungsfelder möchte ich Ihnen kurz andeuten:

1. Verdrängung in Mainkofen
Der Mord an Menschen in Mainkofen war eine Leerstelle im öffentlichen Diskurs des Bezirks und Selbstverständnis des Klinikums. Die Website des Klinikums z.B. beschrieb noch vor vier Jahren das Gegenteil von dem, was war: Die Heil- und Pflegeanstalt habe sich in schweren Zeiten bemüht, dass alle Menschen dort gleichmäßig verpflegt würden, so hieß es.

2. Öffentliches Gedenken
Im Herbst 2011 erhielten wir einen Brief des Bezirkstagspräsidenten, der erstmals öffentlich bestätigte, dass Rolf in Mainkofen getötet wurde. Er sagte uns zu, dass der Friedhof als Gedenkstätte erhalten bleiben sollte. Wir erhielten auch Vorschläge zur Umsetzung. Angehörige, so weit vorhanden, könnten Gedenktafeln in die Mauer einlassen. Und: in einer Kirche könne ein Buch mit den Namen der Opfer ausgelegt werden. Nicht ausreichend, so fanden wir. Zu wenige Angehörige wären da, die eine Tafel einlassen könnten. Und niemals wieder sollte hier ein Mensch vor verschlossener Tür stehen, und sei es auch die, einer Kirche.

3. Namentliches Gedenken
Im Herbst des Jahres 2012, also ein Jahr später, erhielten wir die Zusage der Bezirksregierung, dass aller Opfer namentlich gedacht werden würde – ausgenommen der Menschen, die nach Hartheim deportiert wurden. Die Begründung: Diese Opfer erhielten bereits dort ein Gedenken. Nach entsetzter Rückmeldung aus Hamburg und unterstützt durch die Gedenkstätte Hartheim, bestätigte die Bezirksregierung ein paar Wochen später, auch diese Opfer namentlich zu nennen. Und ein halbes Jahr später auch dies: dass ergänzend die Geburts- und Sterbedaten aller Opfer genannt werden würden. Die Reaktionen der Angehörigen, die in diesen Tagen, schon vor der Einweihung die Gedenkstätte besuchten, bestätigen es: Datenschutz in Mainkofen heißt, Schutz der Menschen vor dem Vergessensein, Schutz der Familien, die ihre Angehörigen nun finden.

Ich bin froh, dass wir heute hier gemeinsam stehen, auch wenn der Weg beschwerlich und lang war, zu lang, 70 Jahre. Die Einweihung heute ist eine Ermutigung auch für andere Orte. So setzen sich z.B. gegenwärtig in Berlin Irmela Orland und MitstreiterInnen gegen erhebliche Widerstände für den Erhalt eines Gedenk-Friedhofs auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik ein. Möge die Einweihung dieser Gedenkstätte die Arbeit auch an anderen Orten stärken!

Die Geschichte von Rolf zeigt, wohin Ausgrenzung in ihrer extremen Form führen kann. Sie zeigt, wie Ausgrenzung Teil eines normalen Familienlebens und Teil normaler Nachbarschaft war. Sie zeigt, wie ganz normale Ärzte und normales Pflegepersonal in gut organisierten Abläufen ein mörderisches System umsetzten, ministeriell bis ins Detail durchdacht und gesteuert. Diese Gedenkstätte eröffnet Raum, Fragen zu stellen: Wie war so etwas möglich? Und warum findet das Gedenken hier erst 70 Jahre später statt? Wo finden wir Ausgrenzung heute mitten in unserem ganz normalen Alltag? Und was können und müssen wir heute tun, damit alle Menschen am guten Leben teilhaben können?

So ist dieser Ort, so sind diese Worte von William Faulkner, Mahnung und Hoffnung in einem: Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.

© Karen Haubenreisser

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