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Hermann Führich im September 1938
Hermann Führich im September 1938
© Archiv Ev. Stiftung Alsterdorf

Hermann Joseph Führich * 1931

Rosenstraße 6 (vormals Nr. 22) (Hamburg-Mitte, Hamburg-Altstadt)


HIER WOHNTE
HERMANN JOSEPH FÜHRICH
JG. 1931
EINGEWIESEN 1938
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
"HEIL- UND PFLEGEANSTALT"
MAINKOFEN
TOT 25.3.1945

Hermann Joseph Führich, geb. am 21.10.1931 in Hamburg, eingewiesen im August 1938 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten, verlegt am 10.8.1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen/Niederbayern, ermordet am 25.3.1945

Rosenstraße 6 (Rosenstraße 22)

Hermann Führich wurde kurz nach seiner Geburt am 21. Oktober 1931 im damaligen Mütterheim in Groß-Borstel untergebracht. Nach einem dort verfassten Bericht hatte er ein "Frühgeburtenaussehen" und eine "Harrinson‘sche Furche". Er war ein sehr kleines Kind, dessen Ernährung Schwierigkeiten bereitete. Im Laufe seines fast zweijährigen Aufenthaltes wurde er dort oft isoliert, weil er die anderen Kinder biss.

In der Jugendamtsakte wurde vermerkt, dass seine "nervenlabile" Mutter zur Erziehung des "schwierigen, körperlich und geistig erheblich unterentwickelten, wahrscheinlich schwachsinnigen Kindes" nicht geeignet sei.

Seine Mutter Marie-Anna Führich, geboren am 22. Mai 1910, hatte eine Dorfschule bis zur 2. Klasse besucht (entspricht der heutigen siebten). Als sie Hermann zur Welt brachte, war sie 21 Jahre alt und nicht verheiratet. Den Vater ihres Kindes, den Knecht Hermann Nichterlein (geb. 5.4.1908), der in den Akten als "Potator" (Trinker) bezeichnet wird, heiratete sie nicht. Marie-Anna Führich war als Hausangestellte entlassen worden, wahrscheinlich weil sie schwanger wurde. Sie wohnte zur Untermiete im Kleinen Schäferkamp 24 und engagierte sich für die "Rote Hilfe", eine der KPD nahestehende Organisation. 1932 wurde Marie-Anna Führich in der Hamburger Neustadt beim unerlaubten Handzettelkleben an Hauswänden erwischt. Sie erhielt eine Geldstrafe von 20 Reichsmark (RM).

Ihr Sohn Hermann kam im Juli 1933 für etwas länger als ein Jahr in eine Pflegefamilie, die im Borstelmannsweg in Hamburg-Hamm lebte, obwohl es in einem psychiatrischen Gutachten hieß, er sei für eine private Pflegestelle nicht geeignet. Am 12. September 1934 wurde Hermann in die Obhut seiner Mutter gegeben, die inzwischen den kaufmännischen Angestellten Reinhold Krayer (geb.1.9.1903 in Oberbaldingen) geheiratet hatte. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes befürwortete die Eheschließung nicht, wie sie am 21. Februar 1934 in der Akte vermerkte. Ihrer Meinung nach waren beide Ehepartner "minderwertig", und wie es in der nationalsozialistischen Terminologie hieß, sollte "Frl. F., die die tschechoslowakische Angehörigkeit hat, durch ihre Heirat nicht in den deutschen Staatsverband eingegliedert werden".

Im Juni 1936 wurde Hermann mit einer Lungenentzündung und der Verdachtsdiagnose TBC in die Universitätsklinik Eppendorf eingewiesen. Während seines dreimonatigen Aufenthaltes urteilte ein behandelnder Arzt zunächst: "Geistig und körperlich stark zurückgebliebenes Kind in guter Stimmung" und etwas später: "Gute Besserung des reduzierten Allgemeinzustands, ist sehr lebhaft. Pat.[ient] hat einige Worte dazugelernt". Auf Wunsch seiner Eltern wurde Hermann Führich vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen, er sollte zu einer "Freiluftkur" nach Heidelberg, zu den Eltern seines Stiefvaters. Unklar ist, ob er die Reise dorthin antrat.

Am 18. August 1938 ordnete das Landesjugendamt Hamburg erneut staatliche Erziehung an "weil ein weiterer Verbleib bei der Mutter und bei dem Stiefvater wegen der Schwererziehbarkeit nicht länger mehr verantwortet werden kann", und veranlasste Hermanns Unterbringung in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf).

Der befürwortende Amtsarzt erklärte den damals erst sechsjährigen Hermann für "gemeinschaftswidrig", im Körperbau, sowie in seiner geistigen Entwicklung als zurückgeblieben und diagnostizierte: "Imbezillität mit erethischer Komponente" (Intelligenzminderung mittleren Grades mit Erregbarkeit) und "rachitisch". Rachitis, auch Englische Krankheit genannt, grassierte unter den Kindern in den ärmeren Wohnquartieren. Diese lebensbedrohliche Vitamin D Mangelerkrankung, aufgrund ungenügender oder falscher Ernährung und fehlendem Sonnenlicht, führt im Kindesalter zu schweren Wachstumsstörungen mit Symptomen wie Unruhe und Reizbarkeit, sie war schon 1936 bei seiner Aufnahme in der Universitätsklinik Eppendorf festgestellt worden.

In der Spielschule der damaligen Alsterdorfer Anstalten wurde zunächst wenig Verständnis für Hermann aufgebracht. Die Mitarbeiter empfanden ihn als wenig interessiert, gelangweilt, unverträglich, egoistisch, bequem und unmusikalisch. Offenbar musste sich Hermann erst in seiner neuen Umgebung einleben. Später beschrieben sie ihn als anhänglich und immer vergnügt, jedoch oft unruhig und sprunghaft.

Noch am 15. März 1943 hieß es in seiner Akte: "Pat.[ient] ist im Allgemeinen ruhig und im Umgang mit seinen Mitpatienten verträglich, spielt und singt gern mit ihnen. Seine Aussprache ist gut und verständlich, seine Kleidung hält er einigermaßen sauber. Am Tage ist er sauber zu halten, nachts nässt und schmutzt er regelmäßig ein. Beim An- und Ausziehen ist er ziemlich selbstständig, bedarf nur wenig Hilfe […]".

Trotz dieser positiv klingenden letzten Beurteilung wurde Hermann Führich am 10. August 1943 zur "Entlastung" der Anstalt, nach den schweren Luftangriffen auf Hamburg im Juli/August 1943, für einen Abtransport in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen in Niederbayern ausgewählt. Vermutlich sollte er als "Hilfsjunge" zur Beruhigung der anderen Patienten während des Transportes beitragen.

Von den 112 männlichen Erwachsenen und Jugendlichen, die mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde mit ihm verlegt wurden, überlebten nur 39 Personen das Kriegsende. Diese hohe Sterblichkeitsrate wurde bewusst durch Nahrungsentzug und pflegerische Vernachlässigung herbeigeführt. Auch die Wechselwirkung von Unterernährung und die Verbreitung von Infektionskrankheiten erwiesen sich als verhängnisvoll. Aus Hermann Führichs in Mainkofen weitergeführter Krankenakte ist zu entnehmen, dass er im Dezember 1944, vielleicht schon auf allgemeine "Hungerkost" herabgesetzt, und nicht zum erstem Mal, einem Mitpatienten das Essen stahl. Etwa drei Monate später folgte ein Vermerk, er sei an Durchfall erkrankt: "Nahrungsaufnahme zeitweise mangelhaft, Allgemeinbefinden bedrohlich."

Seine Mutter Marie-Anna Krayer war wegen der schweren Bombenangriffe aus Hamburg geflohen, sie lebte seit ihrer Rückkehr auf der Elbinsel Finkenwärder (heute Finkenwerder) und erfuhr erst auf Nachfrage von der Verlegung ihres Sohnes. Sie schrieb mehrere Briefe nach Mainkofen und versuchte etwas über ihr Kind in Erfahrung zu bringen. Im April 1945 erhielt sie ein Telegramm mit der Todesnachricht ihres Jungen, die Angabe der Todesursache fehlte. Die genaueren Umstände erfuhr sie am 28. Oktober 1945 nach einer erneuten Anfrage. Hermann Führich starb am 25. März 1945, angeblich an einem Darmkatarrh: "wie sie im Frühjahr und Sommer dieses Jahres in hiesiger Gegend weit verbreitet war. Diese Krankheit beeinträchtigte naturgemäß den Ernährungs- und Kräftezustand des Patienten erheblich und führte schließlich zum Tod. Im Hinblick auf die Aussichtslosigkeit seines geistigen Leidens kann man wohl sein Hinscheiden, zumal es ohne nennenswerte Schmerzen erfolgte, als eine Erlösung von einem schweren Schicksal ansehen. Die Beerdigung erfolgte auf dem hiesigen Anstaltsfriedhofe." Hermann Führich wurde nur 13 Jahre alt.


Stand: September 2018
© Susanne Rosendahl

Quellen: Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf V 414 Hermann Führich; StaH 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht A13843/33; Wunder: Exodus, S. 205–209.

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