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Henry Gattel, November 1930
Henry Gattel, November 1930
© UKE/IGEM

Henry Gattel * 1885

Gotenstraße 20 (Hamburg-Mitte, Hammerbrook)


HIER WOHNTE
HENRY GATTEL
JG. 1885
EINGEWIESEN 1936
VERSORGUNGSHEIM FARMSEN
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Henry Gattel, geb. am 7. 11. 1885 in Hamburg, ermordet am 23. 9. 1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Gotenstraße 20, Hamburg-Hammerbrook

Henry Gattel wurde am 7. November 1885 als Sohn von Elkan und Liebe (Lina) Gattel in Hamburg-Neustadt, 2. Marktstraße 16 und 18 (rechts ab von der Peterstraße) geboren. Die Eltern bekannten sich zum jüdischen Glauben. Elkan Gattel stammte aus Lissa (heute: Leszno, Polen) im Süden der früheren preußischen Provinz Posen. Auch seine Ehefrau Liebe (Lina) Gattel, geborene Wilde, geboren am 14. August 1853, kam aus der damaligen Provinz Posen. Sie war in der von Lissa 130 km entfernt gelegenen Kreisstadt Meseritz (heute: Miedrzyrzecz) zur Welt gekommen.

Elkan und Liebe Gattel zogen mit der am 27. Oktober 1881 in Leipzig geborenen Tochter Meta offenbar zwischen 1882 und 1885 nach Hamburg. Im Hamburger Adressbuch findet sich jedoch erstmals 1892 ein Eintrag für den Handelsmann Elkan Gattel mit der Adressangabe Peterstraße 28 in der Hamburger Neustadt. Dies deutet darauf hin, dass die Familie Gattel bis dahin zur Untermiete wohnte und nur über ein sehr begrenztes Einkommen verfügte.

Henry Gattel wuchs in der der 2. Marktstraße benachbarten Peterstraße 28 auf, in der die Wohnverhältnisse ebenfalls beengt waren. Die Familie teilte sich die Wohnung zeitweise mit dem Witwer Jeremias Pincus und seinen vier Kindern.

Wir kennen Henry Gattels Lebensgeschichte bis etwa 1930 aus seinen Berichten, die bei seiner zweiten Aufnahme in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg am 1. November 1930 festgehalten wurden. Henry war bereits vom 14. Juni bis 7. Juli 1920 Patient in Friedrichsberg gewesen. Darüber finden sich keine Aufzeichnungen mehr. Am 19. Oktober 1930 wurde Henry zunächst in das Allgemeine Krankenhaus Barmbek eingeliefert und dann am 1. November 1930 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg verlegt. Er berichtete, als Kind sei er, nachdem er Schläge erhalten habe, hingefallen. Bereits im Kleinkindalter habe er öfter Krämpfe bekommen, später in der Schule Ohnmachtsanfälle. Er sei erst spät in die Schule gekommen und weder als Schüler noch später auf seinen Arbeitsstellen besonders leistungsfähig gewesen. Rechnen sei ihm besonders schwergefallen. Henry Gattel begann im Alter von vierzehn Jahren eine Buchbinderlehre, die er jedoch nach kurzer Zeit abbrach, weil er sich als "Hausdiener" ausgenutzt fühlte. Auch eine Lehre in einer Mützenmacher- und Kürschnereifirma beendete er vorzeitig, weil er dazu nach eigenem Bekunden keine Lust hatte. Mit fünfzehn setzte er seinen Berufswunsch durch und arbeitete eineinhalb Jahre bei einem Barbier. Er besuchte eine Fachschule für Barbiere und Friseure und las Bücher über Heilkunde. Obwohl das Barbier- bzw. Friseurhandwerk sein eigentlicher Berufswunsch war, konnte Henry Gattel auch in dieser Branche nicht Fuß fassen. In der Folgezeit übernahm er Anstellungen als Hausdiener, wechselte die Arbeitsverhältnisse aber oft. Ein Junge beschuldigte den 15-jährigen Henry Gattel, von ihm unsittlich berührt worden zu sein. Die daraufhin anberaumte Gerichtsverhandlung endete aufgrund eines ärztlichen Gutachtens mit Freispruch.

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, meldete Henry Gattel sich freiwillig, wurde aber als untauglich ausgemustert. Doch er wollte unbedingt Soldat werden und fälschte seinen Militärpass. Die Änderung von "dienstunfähig" in "dienstfähig" wurde schnell entdeckt. In dem anschließenden Strafverfahren wurde er freigesprochen. Vermutlich sprach ihm das Kriegsgericht die Zurechnungsfähigkeit ab. Nach kurzer Zeit, während er in Berlin als Packer arbeitete, wurde Henry Gattel doch noch zum Militär eingezogen. Er kam als Infanterist nach Frankfurt an der Oder. Lange vor Kriegsende, am 24. März 1916, entließ ihn das Heer "wegen seiner Nerven" endgültig. Nach Tätigkeiten als Friseur und als Kontorbote in einem Ex- und Importgeschäft in Hamburg lebte er längere Zeit beschäftigungslos bei seiner Mutter am Großneumarkt 56 in Hamburg.

Henrys Mutter, Liebe Gattel, starb am 1. November 1927 im Hamburger Israelitischen Krankenhaus. Elkan Gattel, Henrys Vater, war bereits im Februar 1909 verstorben.

Meta Gattel, Henrys ältere Schwester und der aus Neustadt in Westpreußen stammende Kaufmann Max Rosendorf hatten am 11. Januar 1906 geheiratet. Laut Hamburger Adressbuch betrieb Max Rosendorf zunächst eine "Kunstanstalt" in der Eiffestraße 25 in Hamburg-Hammerbrook. Später bezeichnet er sich als "Kunstarchitect", schließlich nannte er sein Gewerbe "Photographische Vergrößerung". Das Ehepaar Rosendorf lebte nun (1919) in der Gärtnerstraße 105 in Hoheluft-West. Das Geschäft lag in der nicht weit entfernten Mansteinstraße 56. Anfang der 1920er Jahre wechselte Max Rosendorf die Branche. Er betrieb nun ein Tuchlager am Steindamm 49 in St. Georg. Die Privatadresse in der Gärtnerstraße 105 wurde beibehalten. Vermutlich 1931 oder 1932 verließen Meta und Max Rosendorf Hamburg und ließen sich in Berlin nieder. Damit lebten keine Verwandten mehr in Hamburg, die sich um Henry Gattel hätten kümmern können.

Henry Gattel verbrachte die Jahre ab 1930 in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Einerseits wird berichtet, er habe anderen Patienten beim Rasieren geholfen und Gartenarbeit verrichtet. Andererseits soll er mit seinen Mitpatienten oft in heftigen Streit geraten sein, der teilweise zu Tätlichkeiten führte. Schließlich wurde Henry Gattel in die geschlossene Abteilung verlegt.

Eine von ihm Anfang 1932 an die "Irrenkommission" gerichtete Bitte auf Entlassung blieb erfolglos. Ein am 8. November 1932 an die Gesundheitsbehörde adressiertes Entlassungsgesuch wurde ebenso abgelehnt wie ein weiteres vom 16. Januar 1934.
"Hamburg 16.1.1934
Ich, Henry Gattel, möchte hiermit gern eine höfliche Bitte an die Wohlfartspolizeibehörde senden und bitte ganz gehorsamst um meine Entlassung aus dieser StK.A. Friedrichsberg. Befinde mich seit 1. November 1930 hier in dieser Anstalt, bin geboren am 7.11.1885 in Hamburg, mein Beruf ist Friseurgehilfe, habe bei Kaffee Koch am Steindamm als Barbier und Toilettenwärter gearbeitet. Ich denke immer noch, daß ich draußen eine Stellung finden werde, da ich hier in der Anstalt mich betätige und der Herr Oberarzt Dr. Glüh das bestätigen kann.
In der Hoffnung, daß meine Bitte gewährt wird, zeichnet ganz gehorsamst,
Henry Gattel"

Mit dem Erbgesundheitsgesetz vom 14. Juli 1933 war zusätzlich zu der bereits verlorenen Bewegungsfreiheit nun auch Henry Gattels körperliche Unversehrtheit bedroht. Das Gesetz diente im nationalsozialistischen Deutschen Reich der sogenannten Rassenhygiene durch "Unfruchtbarmachung" vermeintlich Erbkranker und Alkoholiker. Auf seiner Grundlage wollten die Nationalsozialisten auch durch Zwangssterilisation den "Volkskörper" längerfristig von sogenannten Erbkranken "befreien". In Deutschland wurden bis 1945 ca. 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Henry Gattel fiel dem Gesetz am 27. November 1934 im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek zum Opfer.

Mit der Verlegung in das Allgemeine Krankenhaus Barmbek endete Henry Gattels Aufenthalt in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Er kam nicht mehr dorthin zurück, und wir wissen nicht, wo er in den folgenden fast sechs Jahren lebte. Es ist anzunehmen, dass er auch diese Jahre in einer Anstalt verbrachte, wahrscheinlich im Versorgungsheim in Hamburg-Farmsen. Unter dieser Adresse wurde er jedenfalls bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 erfasst.

Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Henry Gattel wurde wie die anderen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner von Farmsen am 18. September 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn überführt. Am 23. September 1940 wurde er mit weiteren 135 Patienten aus norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel transportiert, unter ihnen auch Gertha Pincus, die zeitweise mit ihrer Familie bei Gattels zur Untermiete gewohnt hatte (siehe dort). Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und tötete sie mit Kohlenmonoxid. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Wir wissen nicht, ob und ggf. wann Henry Gattels Schwester Meta in Berlin Kenntnis von seinem Tod erhielt. Der Geburtsregistereintrag von Henry Gattel enthält einen Sterbehinweis, nach dem sein Tod unter der Registernummer 578/1940 im Standesamt Chelm II beurkundet worden sei. Aus anderen Beischreibungen auf Geburtsurkunden von den in Brandenburg ermordeten Kranken aus Langenhorn wissen wir, dass die Registernummer 578/1940 für den 3. Dezember 1940 verwendet wurde.

Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Auch Henry Gattels Schwester Meta und sein Schwager Max Rosendorf verloren im Holocaust ihr Leben. Beide wurden am 18. März 1943 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert und von dort am 9. Oktober 1944 nach Auschwitz weiterdeportiert. Es ist sicher davon auszugehen, dass beide dort ermordet wurden.


Stand: Juli 2019
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 7; 8; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 332-5 Standesämter 2108 Geburtsregister Nr. 5467/1885 Henry Gattel, 3064 Heiratsregister Nr. 16/1906 Meta Gattel, 620 Sterberegister Nr. 133/1909 Elkan Gattel, 926 Sterberegister Nr. 424/1927 Liebe (Lina) Gattel; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.8.1939 bis 27.1.1941; UKE/IGEM, Archiv, Patienten-Karteikarte Henry Gattel der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg; UKE/IGEM, Archiv, Patientenakte Henry Gattel der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Bund der "Euthanasie”-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V., Erbgesundheitsgeschichte. Dokumentation, Göttingen 1997, S. 11f.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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