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Porträt Hannelore Gerstle
Porträt Hannelore Gerstle
© Archiv Vorwerker Diakonie Lübeck

Hannelore Gerstle * 1924

Eppendorfer Landstraße 62 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
HANNELORE GERSTLE
JG. 1924
EINGEWIESEN 1934
PFLEGEHEIM VORWERK
1940 LANGENHORN
‚VERLEGT’ 23.9.1940
LANDES-PFLEGEANSTALT
BRANDENBURG
ERMORDET SEPT.1940

Weitere Stolpersteine in Eppendorfer Landstraße 62:
Kurt Silberstein

Hannelore Gerstle, geb. am 5.5.1924 in Nürnberg, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Stolpersteine Hamburg-Eppendorf, Eppendorfer Landstraße 62 und
Lübeck, Triftstaße 131–133 (Eingangsbereich der heutigen Diakonie Vorwerk in Lübeck)

Hannelore Gerstle wurde am 5. Mai 1924 in Nürnberg geboren. Ihre Eltern waren Julius Gerstle, geboren am 28. März 1894 in Georgensgmünd (Mittelfranken), und Berta Gerstle, geborene Mansfeld, geboren am 12. Mai 1902 in Kirchhain in Hessen.

Bald nach ihrer Geburt wurde bei Hannelore Gerstle eine geistige Behinderung festgestellt. Vier Jahre später, am 20. Januar 1928, bekam das Ehepaar Gerstle noch in Nürnberg sein zweites Kind, Heinz Erich Gerstle.

Julius Gerstle stammte aus einer alteingesessenen Familie in Georgensgmünd, die in der dortigen früheren Jüdischen Gemeinde eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Er verließ seinen Heimatort zusammen mit seiner Ehefrau und ließ sich in Nürnberg, Roonstraße, nieder. Hier arbeitete er als Prokurist für den Spielwarenproduzenten Heidecker, Keim & Co. Die Firma befand sich in jüdischem Eigentum und beschäftigte auch Julius’ jüngeren Bruder Leo als Reisenden. Das Hamburger Adressbuch verzeichnet Julius Gerstle erstmalig in seiner Ausgabe von 1928, so dass er bereits 1927 in Hamburg ansässig gewesen sein dürfte. Wahrscheinlich zog er zunächst allein nach Hamburg und holte seine Familie nach der Geburt des Sohnes nach. Die Familie wohnte viele Jahre in der Straße Oben Borgfelde 41 im Stadtteil Borgfelde. Der Kultussteuerkarte der Jüdischen Gemeinde Hamburg für Julius Gerstle ist zu entnehmen, dass die Familie seit 1929 in Hamburg zur Zahlung von Kultussteuern herangezogen wurde. Julius Gerstle vertrat das Nürnberger Stammhaus von Heidecker, Keim & Co. in Hamburg. Das Unternehmen wurde im Januar 1938 durch Verkauf an die Firma Günther Wagner in Hannover "arisiert".

Es ist nicht bekannt, ob Hannelore Gerstle in Hamburg eine Schule besuchte und was zu ihrer Unterbringung in dem Erziehungs- und Pflegeheim Lübeck-Vorwerk führte, in dem sie seit dem 18. November 1934 lebte. Aus welchem Grund die Eltern die Vorwerker Einrichtung wählten, wissen wir nicht. Die Vorwerker Akten geben hierzu keine Auskunft. Zu dieser Zeit gab es auffällig häufig Zugänge aus Hamburg. Offenbar hatte Vorwerk in der Hamburger Fürsorgebehörde, die für Einweisungen in Heime zuständig war, einen guten Ruf. Leiter der Einrichtung in Vorwerk war seit 1913 Paul Burwick.

Aus den Akten des Oberfinanzpräsidenten in Hamburg geht hervor, dass Julius Gerstle im Oktober 1935 für sich, seine Frau Berta und den Sohn Heinz die Übersiedlung nach Palästina plante. Von Hannelore ist hierbei zu keinem Zeitpunkt die Rede. Der Grund wird gewesen sein, dass für eine Person mit einer Behinderung keine Einwanderungsgenehmigung zu erhalten war. Julius Gerstle gab an, dort eine Fleischfabrik eröffnen zu wollen, und beantragte aus diesem Grund die Ausfuhrgenehmigung für 12.500 Reichsmark (der Betrag entsprach damals etwa 1000 £ Pal.). Sein Vermögen gab er wie folgt an:
• 9135,55 RM (Mitgift Berta Gerstle)
• Wohnhaus mit Garten in Georgensgmünd/Bayern (elterliches Anwesen; die Nutznießung hat zu Lebzeiten Julius Gerstles Mutter)
• Lebensversicherungen im Wert von ca. 5650,- RM (Allianz; die Allianz überwies am 23. Februar 1937 7845,50 RM).

Die Auswanderungsbemühungen schleppten sich über zwei Jahre hin.

Im Jahre 1935 endeten die Kultussteuerzahlungen der Familie Gerstle an die Jüdische Gemeinde Hamburg. Anscheinend konnte sie sich die Wohnung in Borgfelde nicht mehr leisten. Sie zog in die Eppendorfer Landstraße 62. Am 25. März 1937 wechselten Hannelores Eltern und Bruder in die Armbruststraße 2/III. Stock in Eimsbüttel. Hier lebten sie zur Untermiete bei dem Vermieter Gröger.

Am 3. Juli 1937 meldete Julius Gerstle sich selbst, seine Frau und seinen Sohn offiziell in Hamburg ab, um nach Palästina auszuwandern. Offenbar reiste die Familie aber noch nicht endgültig ab, denn am 15. Juli 1937 teilte Julius Gerstle dem Finanzamt St. Pauli/Eimsbüttel, in dessen Zuständigkeitsbereich die Armbruststraße lag, in einer letzten Vermögenserklärung mit, dass er sein Wohnhaus in Georgensgmünd seiner Mutter geschenkt habe. Vermutlich wollte er damit vermeiden, dass die Behörde dieses Haus konfiszieren würde, was wohl seine Mutter zum Verlassen des Hauses gezwungen hätte.

Unter dem Datum vom 12. November 1938 schließlich findet sich in den Finanzamtsakten der Hinweis, dass Julius Gerstle und seine Angehörigen inzwischen in Tel Aviv, Ben Jehudastraße 122 lebten.

Hannelore Gerstle befand sich zu dieser Zeit weiterhin im Erziehungs- und Pflegeheim Vorwerk in Lübeck.

Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Hannelore Gerstle traf am 16. September 1940 mit weiteren neun jungen Menschen aus dem Kinder- und Erziehungsheim Vorwerk in Langenhorn ein. Am 23. September wurde sie zusammen mit 135 Patienten aus den norddeutschen Anstalten nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und tötete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Auf dem Geburtsregistereintrag von Hannelore Gerstle wurde notiert, dass das Standesamt Cholm II ihren Tod unter dem Datum 4. Februar 1941 und der Nummer 483/1941registriert hat. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Am 20. März 1957 stellte der New Yorker Rechtsanwalt Karl Boehm beim Amt für Wiedergutmachung in Hamburg im Auftrag seines Mandanten Julius Gerstle, "Kaufmann, jetzt Arbeiter", wohnhaft 736, Riverside Drive, New York 31, N. Y., USA, einen Antrag auf Wiedergutmachung. Die Begründung lautete, wie in solchen Fällen üblich: "Entschädigung wegen Schadens an Freiheit nach der Erblasserin". Als Erblasserin galt die Tochter Hannelore. Auf der dafür erforderlichen Todeserklärung war als Sterbedatum der 8. Mai 1945 eingetragen.

Das festgelegte Todesdatum (8. Mai 1945) kam der Familie letztlich zugute, indem dadurch 55 Monate "Freiheitsschaden" anerkannt wurden. Auf dieser Grundlage wurde die Entschädigungsleistung bestimmt. Am 7. Mai 1962 heißt es in einem Schlussvermerk: "Die in der Akte enthaltenen Ansprüche sind erledigt."

Neben Hannelore Gerstle kamen weitere Verwandte der Familie im Holocaust ums Leben. Eine von ihnen, Hannelores Großmutter Rosalie Gerstle, wurde am 7. August 1942 von München aus zunächst nach Theresienstadt und von dort am 19. September 1942 nach Treblinka weiter deportiert und dort ermordet.

An Hannelore Gerstle erinnern Stolpersteine im Eingangsbereich der heutigen Diakonie Vorwerk in Lübeck, Triftstaße 139–143 und Hamburg-Eppendorf, Eppendorfer Landstraße 62.

Stand: November 2017
© Ursula Häckermann

Quellen: 1; 2; 4; 5; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 351-11 Amt für Wiedergutmachung 25812 (Gerstle); 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.8.1939 bis 27.1.1941; Archiv Vorwerker Diakonie, Lübeck. Berghofer, Berghofer, Georg, Die Anderen. Das fränkische Georgensgmünd und seine Juden vor und während des Dritten Reiches, Treuchtlingen 2013, S. 79, 95, 238. Jenner, Harald, Das Kinder- und Pflegeheim Vorwerk in der NS-Zeit, in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hrsg.), Diakonie im "Dritten Reich". Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 169–204. Reh, Sabine, Von der "Idioten-Anstalt" zu den Vorwerker Heimen, Lübeck 1997, S. 60. http://www2.holocaust.cz/de/document/DOCUMENT.ITI.5776 (Zugriff 11.2.2016); http://www.geni.com/people/Heinz-Eric-Gerstle/6000000026629053684 (Zugriff 11.2.2016), http://www.geni.com/people/Bertha-Gerstle/6000000026631294922 (Zugriff 11.2.2016).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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