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Günther Gerth * 1926

Sillemstraße 64 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
GÜNTHER GERTH
JG. 1926
EINGEWIESEN 1932
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 28.7.1941
HEILANSTALT TIEGENHOF
ERMORDET 9.3.1942

Günther Fritz Gerth, geb. 9.12.1926 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 24.5.1932, von der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn am 28.7.1941 verlegt in die "Gau-Heilanstalt Tiegenhof" (polnisch Dziekanka) bei Gnesen (polnisch Gniezno) am 27.11.1941, gestorben am 9.3.1942 in Tiegenhof

Sillemstraße 64 (Eimsbüttel)

Günther Fritz Gerth kam am 9.12.1926 in Hamburg als Sohn des Wagenbauers Friedrich Karl Christoph Gerth, geboren am 27.2.1904, und seiner Ehefrau, der Stenotypistin Käthe Bertha Martha, geb. Knauer, geboren am 20.5.1905, zur Welt.

Er wurde am 24. Mai 1932 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) aufgenommen. Seine Patientenakte ist nicht erhalten. Die wenigen Lebensdaten sind dem Aufnahmebuch der Alsterdorfer Anstalten entnommen. Was wir außerdem über Günther Gerth wissen, ergibt sich aus einer Karteikarte, die für das ab 1934 aufgebaute Hamburger Gesundheitspassarchiv zum Zwecke der "erbbiologischen Bestandsaufnahme" der Bevölkerung angelegt worden ist. Die Eintragungen auf diesen "Erbgesundheitskarteikarten" sind durchgängig in einer abwertenden und verurteilenden Sprache gehalten. Sie enthalten für die Männer meist Anmerkungen wie "unheilbar", "zu keiner produktiven Arbeitsleistung fähig" oder "völlig arbeitsunfähig". Typische Bemerkungen dieser Art findet man auch zu dem noch nicht einmal sechsjährigen Günter Gerth: "Diagnose: Imbezillität untere Grenze. Es handelt sich um einen tiefstehenden Pat.[ienten], der keinerlei Gefühlsbeziehungen zur Umwelt besitzt. Er ist als unheilbar krank zu betrachten. Ein ausgesprochener Pflegefall. Bereitet pflegerisch erhebliche Schwierigkeiten infolge seiner ständigen Unruhe und seiner ständigen Unsauberkeit. Er war zu keiner Arbeit zu gebrauchen."

Am 28. Juli 1941 wurden mindestens 50 Männer aus den Alsterdorfer Anstalten zunächst in die "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" überführt. Zu ihnen gehörte auch Günter Gerth. (Drei Tage später, am 31. Juli 1941, folgte ein weiterer Transport mit mindestens 20 Frauen.)
Diese Transporte, die überwiegend aus besonders schwachen und nicht arbeitsfähigen Menschen bestanden, waren auf der Grundlage von Meldebögen an die Euthanasie-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin zusammengestellt worden.

Langenhorn entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Zwischenanstalt für den gesamten Raum Hamburg und zur Drehscheibe der "Euthanasie" im Norden des Reiches. Ein zur Tarnung aufgebautes kompliziertes "Verschubungssystem" sollten die Angehörigen nicht durchschauen (Michael Wunder). Einige Eltern, die bemerkten, dass sich ihre Kinder nicht mehr in Alsterdorf befanden, wandten sich mit Klagen über die Verlegungen und die Behandlung in Langenhorn sowohl an die Gesundheitsbehörde als auch an den Leiter der Alsterdorfer Anstalten, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch.

Zu den Eltern, die sich beschwerten, gehörten auch die von Günther Gerth. Sie schrieben am 27. Oktober 1941 an Lensch: "Wir kommen mit einer herzlichen Bitte betreffs unseres Sohnes Günther, zur Zeit in den Langenhorner Anstalten, zu Ihnen. Unser Sohn war zehn Jahre in den Alsterdorfer Anstalten und hatte dort eine sehr gute Pflege und Aufpassung. Auch haben wir nie damit gerechnet, dass der Junge von Alsterdorf mal fortkommen könnte, da wir doch in Hamburg nur die eine Anstalt für Schwachsinnige haben. Am 1. August d. J. erhielten wir Bescheid, daß Günter nach den Langenhorner Anstalten verlegt worden ist. Am ersten Besuchstag hatten wir eine große Enttäuschung. Günter lag, obwohl er gesund war, zu Bett. Auf unsere Frage, warum der Junge im Bett liegt, wurde uns vom Pflegepersonal geantwortet, daß das Zeug noch nicht da sei von den Alsterdorfer Anstalten. Damit gaben wir uns zufrieden in der Hoffnung, es würde beim nächsten Besuch anders sein. Aber es war beim nächsten Besuch dasselbe. Der Junge lag zu Bett. Nun hieß es auf einmal, er bleibe liegen, da er nicht sauber ist; sie hätten keine Wäsche, um zu wechseln. Daraufhin sagte ich, daß das Kind bis jetzt immer auf war, trotzdem er nicht sauber ist; in Alsterdorf sei er immer auf gewesen, und wenn sie den Jungen mal auf einen Topf setzten, so erledigt er auch seine Geschäfte; da haben wir keine Zeit zu, wurde mir gesagt. So bleibt das Kind einfach liegen und macht alles unter sich. Auch habe ich feststellen müssen, dass die Kranken ohne Hemd im Bett liegen, denn sie machen ja doch alles naß. Im Saal liegen bei den Kindern alte Männer. Auch wenn Günter 14 Jahre alt ist, so ist er wie ein Junge von 8 Jahren. Nun liegt das Kind schon ein Vierteljahr zu Bett, wo er vordem bald nie krank zu Bett lag. Es ist furchtbar, wenn man als die Eltern so zuschauen muß und sogar nichts unternehmen kann. Wir würden uns freuen, wenn er wieder nach Alsterdorf käme, wo er seine Freiheit hätte, denn anders kann ich es nicht nennen. Möchten Sie nun herzlich bitten, daß es möglich ist, daß Günther wieder nach Alsterdorf zurückkommt."

Günther Gerths Eltern, wie auch andere Familien, erhielten keinerlei Antwort. Die Gesundheitsbehörde, an die das Ehepaar Gerth ebenfalls schrieb, antwortete, dass "in Hamburg im Hinblick auf die gesamte Luftlage nicht alle Krankenanstalten so belegt werden können, wie das in Friedenszeiten geschieht." Die Eltern sollten einsehen, dass der weniger angenehm empfundene Aufenthalt ihres Sohnes in Langenhorn im Augenblick unvermeidlich sei.

Günter Gerth wurde nicht nur nicht nach Alsterdorf zurückverlegt, sondern am 27. November 1941 mit weiteren Frauen und Männern aus Langenhorn in die Gauheilanstalt Tiegenhof (Dziekanka) bei Gnesen (Gniezno) verlegt. Das Hamburger Gedenkbuch Euthanasie enthält die Namen von 66 ehemaligen Alsterdorfer Patientinnen und Patienten, die mit diesem Transport nach dem Tiegenhof gebracht wurden. (Vier der insgesamt 70 Alsterdorfer Patienten waren vor dem Transport in Langenhorn gestorben.)

Aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn wurden zwischen dem 26. September und dem 27. November 1941 in mehreren Transporten mehr als 200 Menschen in die Gauheilanstalt Tiegenhof abtransportiert. In dem Hamburger Gedenkbuch Euthanasie lassen sich 206 Personen nachweisen.

Die psychiatrische Anstalt Dziekanka in der Nähe von Gnesen, die nach dem Überfall Deutschlands auf Polen die Bezeichnung "Gau-Heilanstalt Tiegenhof" erhielt, wurde im Oktober 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Bis zum Sommer/Herbst 1941 ermordeten die Deutschen polnische Patientinnen und Patienten in mehreren Aktionen, so im Dezember 1939 in Gaskammern des Fort VII bei Posen/Poznan, später in mobilen Gaswagen, bei denen die Auspuffgase oder Kohlenmonoxyd in den geschlossenen Frachtraum eingeleitet wurden.

Als die Patienten aus Hamburg in Tiegenhof eintrafen, wurden auch deutsche Patienten getötet, und zwar durch systematisches Verhungernlassen, durch Überdosierung von Medikamenten sowie durch Verwahrlosung.

Zu diesem Zweck befanden sich in den Unterkünften separate Tötungszimmer, in denen den wehrlosen und entkräfteten Opfern tödliche Mittel injiziert, mittels Klistier eingeführt oder aufgelöst in Suppe verabreicht wurden.

Günther Gerth lebte in der Anstalt Tiegenhof nur noch knapp vier Monate, er starb am 9. März 1942 mit knapp 16 Jahren.

In dem Sterberegistereintrag über seinen Tod ist als Todesursache "Allgemeine Körperschwäche bei Idiotie" angegeben.

Stand: Juli 2021
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg 1932; Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ArESA), Erbgesundheitskartei, ArESA, NS 40: Anklageschrift S. 522 ff. und S 529 ff., ArESA, NS 1: Erfassung, Verlegung 1940-1944, Bl. 51 f., Brief der Eheleute Gerth vom 27.10.1941, Ebd., Bl. 53: Antwortschreiben der Alsterdorfer Anstalten an die Eheleute Gerth; Standesamt Gniezno, Sterberegisterauszug Nr. 96/1942 (Günther Gerth); Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 3. Auflage, Stuttgart 2016, S. 269 ff.; Enno Schwanke, Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt/M 2015.

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