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Helene Gescheidt
Helene Gescheidt
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Helene Gescheidt * 1915

Dithmarscher Straße 26 (Hamburg-Nord, Dulsberg)


HIER WOHNTE
HELENE GESCHEIDT
JG. 1915
EINGEWIESEN 1941
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 8.8.1941
MESERITZ-OBRAWALDE
ERMORDET 16.8.1943

Helene Gescheidt, geb. 24.7.1915 in Hamburg, ermordet in der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde am 18.6.1943

Dithmarscher Straße 26 (Dulsberg)

Helene Gescheidt war am 24. Juli 1915 als jüngstes von sieben Kindern der Eheleute Friedrich Carl Theodor Martin Gescheidt und Dorothea (Dora), geb. Klingeberg, in Hamburg zur Welt gekommen. Die Familie wohnte zu dieser Zeit in der Straße Rossberg 50 in Hamburg-Eilbek. Im Hamburger Adressbuch wird als Beruf von Helenes Vater "Beamter" bzw. "Diätar" angegeben (Diätare waren Beamte, die nur zeitweise eingestellt und außerhalb des Etats besoldet wurden. Die Bezeichnung war besonders im Königreich Preußen üblich).
Die Familien Gescheidt und Klingeberg wohnten und arbeiteten in der damals selbstständigen Stadt Wandsbek und in den Hamburger Stadtteilen Eilbek und Hohenfelde.

Friedrich Gescheidt, Helenes Vater, geb. am 12. August 1872, war der zweitälteste Sohn des Gärtners und Blumenhändlers Friedrich Wilhelm Gescheidt und seiner Ehefrau Helene Emilie, geb. Bollen. Er soll die Schule mit der Selekta abgeschlossen haben, einer freiwilligen neunten Klasse nach der achtjährigen Volksschulpflicht für besonders begabte Schüler.

Die elterliche Familie Gescheidt lebte lange in der Straße Reismühle 17 im Hinterhaus in Hamburg-Hohenfelde.

Friedrich Gescheidt hatte zwei Schwestern und vier Brüder.
Einer der Brüder, Otto Wilhelm, geboren am 9. Oktober 1876, betrieb wie sein Vater eine Blumenhandlung, ebenfalls in Hohenfelde, Landwehr 71. Rudolf Carl Gescheidt, ein weiterer Bruder, geb. am 21. Januar 1879, arbeitete als Landschaftsgärtner. Der Bruder Hermann Johannes Wilhelm, geb. am 27. September 1874, verdiente seinen Lebensunterhalt als Graveur. Emil Johannes, geb. 19. August 1880, arbeitete als Kaufmannsgehilfe. Die Schwester Martha, geb. am 21. August 1883, betrieb in der Eilbeker Conventstraße eine Feinwäscherei. Helene Sophie Friederike, geb. am 19. März 1871, heiratete den Handlungsgehilfen Adolph Wilhelm Fernandus Michaelsen. Sie war Hausfrau.

Helene Gescheidts Mutter, Dorothea Emma Martha (genannt Dora), geboren am 15. März 1875, entstammte ärmlichen Verhältnissen. Ihre Mutter Johanne Marie Wilhelmine Klingeberg, Helenes Großmutter, hatte die Tochter und sich in den ersten Jahren ohne Vater und Ehemann als Plätterin (Büglerin) und Näherin ernähren müssen. 1879 hatte sie den Bierfahrer Friedrich Louis Pinck geheiratet und mit ihm 1887 die Tochter Frieda Pinck gekommen, im Verhältnis zu Dora Gescheidt eine Halbschwester. Diese Ehe wurde 1888 geschieden. Dora war damals 13 Jahre alt. Ihre Mutter ging 1890 eine weitere Ehe mit dem Polizisten (Constabler Gefreiter) Ludwig Friedrich Hense ein.

Helene Gescheidt wurde in der Straße Rossberg 50 oder 58 im Stadtteil Eilbek geboren. Kurz darauf zog die Familie in den Stadtteil Dulsberg. Ihre sechs Geschwister waren zwischen 1899 und 1914 in Eilbek oder in Barmbek-Süd zur Welt gekommen: Ernst Konrad am 7. Februar 1899, Hans Emil Alex am 23. April 1900, Alice Frida Martha am 29. September 1901, die Zwillinge Carla und Luna am 29. Mai 1906 und Gerhard Helmut Julius am 20.März 1914. Ernst Konrad und Gerhard Helmut Julius waren wenige Tage nach ihrer Geburt gestorben.

Das Hamburger Adressbuch von 1917 verzeichnet die Familie Gescheidt in der Dithmarscher Straße 23, ab 1928 in der Dithmarscher Straße 26. Hier lebte die Familie bis 1935/1936. In Dulsberg ging Helene auch bis zur vierten Klasse zur Schule.

Am 29. März 1935 wurde die knapp 20jährige Helene Gescheidt in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen, nachdem sie vorher (nur wenige Fußwegminuten von ihrer Wohnadresse entfernt) in der damaligen "Irrenanstalt Friedrichsberg" untergebracht gewesen war. Zeitpunkt und Grund für ihre Einweisung dort kennen wir nicht, weil die Unterlagen nicht erhalten sind.
Auch im Archiv der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf existiert keine Akte über Helene Gescheidt. Wahrscheinlich wurde diese bei ihrer späteren Verlegung in die Staatskrankenanstalt Langenhorn mitgegeben. Das Wenige, das wir über sie wissen, ist zwei Karteikarten entnommen, die für das ab 1934 aufgebaute Hamburger Gesundheitspassarchiv zum Zwecke der "erbbiologischen Bestandaufnahme" der Bevölkerung angelegt worden waren.
Danach konnte Helene ihre Körperpflege selbst erledigen, litt aber sehr oft unter Zuständen von Verwirrtheit. In dieser Phase sei sie auf dem Gelände umhergelaufen und habe unverständliche Antworten gegeben. Zeitweise habe sie leichte Hausarbeit erledigen können. Als Diagnose wurde "Schizophrenie" notiert.

Keine drei Monate nach ihrer Aufnahme in Alsterdorf wurde sie auf der Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" sterilisiert. Nach diesem im Juli 1933 erlassenen Gesetz konnte ein Mensch unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, "wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden." Unter "erbkrank" wurden folgende Krankheiten subsumiert: "angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntingtons Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche Missbildung." Auch Alkoholiker konnten unfruchtbar gemacht werden.

Am 12. Februar 1936 wurde Helene Gescheidt "auf Anordnung des Fürsorgewesens" nach Hause entlassen. Die Gründe, die zu dieser Entscheidung führten, sind nicht vermerkt.

Acht Monate später, am 22. Oktober 1936, wurde Helene Gescheidt ein zweites Mal Patientin der Alsterdorfer Anstalten. Sie sei in der ersten Zeit ruhig, zeitweise verwirrt gewesen, wurde auf einer neu angelegten "Erbgesundheitskarteikarte" notiert.

Diese zweite "Erbgesundheitskarteikarte" enthält weitere Bemerkungen: 1938 sei die Patientin "immer weiter zurück gegangen", habe oft Erregungszustände gezeigt. Sie habe angegurtet werden und sich sehr oft im "Wachsaal" aufhalten müssen. Sie habe ununterbrochen gesungen und ohne Zusammenhang laut geredet.

"Wachsäle" waren woanders bereits in den 1910er Jahren eingerichtet worden, um unruhige Kranke zu isolieren und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren zu behandeln. In den Alsterdorfer Anstalten wurde erst Ende der 1920er Jahre ein "Wachsaal" eingerichtet. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich dessen Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhig gestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

Am 18. Dezember 1939 wurde die inzwischen 24-jährige Helene Gescheidt in die "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" im Norden Hamburgs verlegt. Der Psychiater Friedrich Knigge, der an NS-Verbrechen im Rahmen der "Kindereuthanasie" beteiligt war, und Gerhard Schäfer fungierten als Aufnahmeärzte. Deren Fragen zu ihrer Lebensgeschichte konnte Helene Gescheidt nicht richtig beantworten, wie sich aus ihrer in Langenhorn angelegten Patientenakte ergibt. So hatte sie den Tod ihrer Mutter, die im Oktober 1937 gestorben war, offenbar noch nicht realisiert, denn sie gab an, dass beide Eltern lebten und in der Dithmarscher Straße wohnten, obwohl sie bereits 1936 in die Papenstraße in Eilbek gezogen waren.

Helene Gescheidts Patientenakte enthält erst im März 1940 wieder eine Eintragung: "Schwere katatone Erregungszustände. Näßt ein, [...]. Redet nur in zerfahrenen Wendungen."

In den weiteren eineinhalb Jahren bis zum Ende ihres Aufenthaltes in Langenhorn wurden nur fünf weitere sehr kurze Eintragungen vorgenommen, darunter lakonisch "Sterilfall".

Am 8. August 1941 wurde Helene Gescheidt in das Frauenheim in Innien (heute ein Ortsteil von Aukrug) verlegt, das zu den 30 km entfernten "Holsteinischen Heilstätten für Nerven- und Alkoholkranke" in Rickling gehörte.

Wie es ihr dort erging, wissen wir nicht. Bereits am 25. März 1942 kam Helene Gescheidt wieder zurück nach Langenhorn. Ihr Zustand war laut Eintragung in der Patientenakte gegenüber dem früheren Aufenthalt unverändert. Sie sei völlig ohne Kontakt gewesen und habe zu allen Verrichtungen aufgefordert werden müssen.

Helene Gescheidts zweiter Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn dauerte bis zum 10. April 1943. An diesem Tag wurde sie mit weiteren Patientinnen und Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde in der damaligen Provinz Brandenburg (heute Polen) transportiert.

Diese Anstalt war 1942 Teil der dezentralen "Euthanasie" geworden. Unmittelbar nach Ankunft der Patientinnen und Patienten entschied das ärztliche Personal aufgrund der körperlichen Verfassung darüber, ob jemand sofort zur Tötung bestimmt wurde oder zunächst noch arbeiten musste, z.B. in der Gärtnerei oder in der Nähwerkstatt. Die nicht mehr Arbeitsfähigen erhielten Medikamente, die zum Tode führten.

Helene Gescheidt überlebte ihre Ankunft in Meseritz-Obrawalde nur zwei Monate. Sie starb dort am 18. Juni 1943.

Stand: April 2021
© Ingo Wille

Quellen: AB 1885-1942; StaH332-5 Standesämter 8917 Geburtsregister 2744/1876 Otto Wilhelm Gescheidt, 8935 Geburtsregister 295/1879 Rudof Carl Gescheidt, 8949 Geburtsregister 2932/1880 Emil Johannes Gescheidt, 8979 Geburtsregister 3218/1883 Martha Gescheidt, 13208 Geburtsregister 403/1899 Ernst Konrad Gescheidt,13410 Geburtsregister 731/1900 Hans Emil Alex, 13567 Geburtsregister 1852/1901 Alice Frida Gescheidt, 14715 Geburtsregister 1171/1906 Luna Gescheidt, 1172/1906 Carla Gescheidt, 6829 Sterberegister 283/1899 Ernst Konrad Gescheidt, 6928 Sterberegister 119/1914 Gerhard Helmut Julius Gescheidt, 6970 Sterberegister 385/1918 Helene Emilie Gescheidt, 7203 Sterberegister 228/1937 Dora Emma Martha Gescheidt,352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Helene Gescheidt; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Erbgesundheitskarteikarten; Archiv Gorzów Wielkopolski, Einleitung zum Findbuch des Bestandes Nr. 256; Wikipedia (Diätar), Zugriff am 8.4.2020; Hamburger Gedenkbuch Euthanasie Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 203.

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