Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Marikita Lindenheim * 1872

Lübecker Straße 13-15 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
MARIKITA LINDENHEIM
JG. 1872
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
WEITERDEPORTIERT 1944
AUSCHWITZ
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Lübecker Straße 13-15:
Adolf Robertson

Marikita Lindenheim, geb. am 3.12.1872 in Hamburg, deportiert am 15.7.1942 in das Getto Theresienstadt, am 15.5.1944 weiter deportiert in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, dort ermordet

Lübecker Straße 13–15

Den exotisch klingenden Vornamen Marikita suchte ihre Mutter für sie aus. Der Vater hatte die Familie verlassen, noch bevor seine Tochter geboren wurde. Ursprünglich stammte der Name aus dem Spanischen, nur die Schreibweise wurde eingedeutscht, aus Mariquita wurde Marikita. Ihre Mutter Jenny wählte diesen Namen für ihr zweites Kind wahrscheinlich deshalb, weil ihre Familie mütterlicherseits von der iberischen Halbinsel stammte. Nach der Flucht von dort nach Hamburg gehörten sie in der Hansestadt der portugiesisch-jüdischen Gemeinde an.

Jennys Mutter war die jüdische Hausfrau Mirjam, geborene Edreh, und ihr Vater der jüdische Kaufmann Isaac Jacobsen; sie selbst war im Mai 1848 in Hamburg zur Welt gekommen. Dort wuchs sie auch auf und heiratete im Oktober 1869 Gustav Lindenheim. Da zählte sie 21 und er 30 Jahre. Gustav war im März 1839 in dem kleinen brandenburgischen Ort Briesen geboren worden. Auch seine Eltern waren jüdisch, sie hießen Simon Zander Lindenheim und Jeannette, geborene Lippmann. Schon vier Monate vor der Hochzeit, im Juni 1869, kam Jennys und Gustavs erste Tochter Jane zur Welt. Deshalb zeigte Gustav Lindenheim die Geburt seiner Tochter zwar selbst beim Standesamt an, der Standesbeamte trug Jane jedoch als "unehelich" und Gustav nur als "angeblichen" Vater ein. Nach der Eheschließung ging Gustav ein zweites Mal zum Standesamt, woraufhin der zuständige Beamte nun notierte: "Kind wurde durch Heirat am 14.10.1869 legitimiert". Damals lebten Jenny und Gustav Lindenheim in der Hamburger Altstadt, in der Großen Johannisstraße 21. Gustav arbeitete als Zigarettenhändler und hatte sein Geschäft ganz in der Nähe, im Graskeller 3.

Offenbar war die Ehe zwischen Jenny und Gustav Lindenheim nicht glücklich, denn Gustav verließ seine Frau, als sie erneut schwanger war. Bereits 1870 war er erstmals mit dem Schiff von Hamburg nach New York gereist. Im Juni 1872 wanderte er dorthin aus und ließ Jenny mit der inzwischen dreijährigen Jane und dem noch ungeborenen zweiten Kind allein zurück. Das bedeutete jedoch noch nicht die endgültige Trennung des Ehepaars. Denn am 27. Januar 1875 brachte Jenny Lindenheim in Hannover eine weitere Tochter zur Welt, deren Vater ebenfalls Gustav Lindenheim war. Das Mädchen erhielt den Namen Marie Klara und kam zu Pflegeeltern nach Rendsburg.

Am 28. April 1876 wurde die Ehe zwischen Jenny und Gustav Lindenheim dann aber "gänzlich geschieden und aufgehoben", wie das zuständige Gericht am Ende des Scheidungsprozesses urteilte. Diesen hatte Jenny Lindenheim kurz nach der Geburt des dritten Kindes gegen ihren Mann angestrengt. Gustav Lindenheim wurde schuldig gesprochen und musste die Prozesskosten tragen. Mitte 1877 beantragte Jenny Lindenheim bei der Hamburger Vormundschaftsdeputation die offizielle Anordnung zweier Vormünder für ihre inzwischen zwei Jahre alte Tochter Marie Klara, da sie von ihrem geschiedenen Mann "seit langer Zeit" nichts mehr gehört habe. Diesem Antrag kam die Deputation nach. Beide Vormünder kümmerten sich umgehend darum, für dass Kind neue Pflegeeltern zu finden, bei denen es bleiben konnte. Das nichtjüdische Rendsburger Ehepaar Carl Heinrich Adolf und Henriette Franzke nahm Marie Klara auf und adoptierte sie auch 1889.

Gustav Lindenheim heiratete im November 1880 in New York erneut. Seine zweite Frau, Hulda Goetz, war 17 Jahre jünger als er. Da er nicht mehr die Absicht hatte, nach Deutschland zurückzukehren, ließ er sich 1892 in den Vereinigten Staaten einbürgern. Am 9. Januar 1909 starb er in New York. Er wurde 69 Jahre alt. Sein Grab befindet sich auf dem Mount Zion Cemetery in Maspeth im Bundesstaat New York. Bereits vor Gustavs Tod ließ sich Jenny Lindenheim als Witwe in das Hamburger Adressbuch eintragen. Möglicherweise war er für sie bereits seit dem Zeitpunkt "gestorben", als sie sich von ihm scheiden ließ.

In Hamburg hatte Marikitas ältere Schwester Jane am 3. November 1908 mit 39 Jahren den neun Jahre jüngeren, aus Schwerin stammenden Bankbeamten Albert Carl Heinrich Friedrich Theodor Bobzin geheiratet. Er war evangelisch und das gab auch Jane vor dem Standesamt als Religion an. Bereits im Februar jenes Jahres waren sie, Marikita und ihre Mutter Jenny zum evangelischen Glauben übergetreten und hatten sich taufen lassen. Jenny Lindenheim als Janes Trauzeugin teilte auch dem Standesamt mit, dass sie Witwe sei. 1922 bekamen Jane und Albert Bobzin einen Sohn, den sie Hans Georg nannten.

Bis zur Hochzeit ihrer Schwester hatte Marikita zusammen mit ihr und ihrer Mutter in St. Georg gelebt, in der Barcastraße 4. Sie und die Mutter blieben dort noch weitere vier Jahre, dann zogen sie nach Hohenfelde in den Mühlendamm 2. Im April 1927 starb Jenny Lindenheim im Alter von 79 Jahren im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek. Marikita konnte sich die Wohnung am Mühlendamm noch fünf Jahre lang allein leisten. 1933 zog sie in den dritten Stock des Hauses Lübecker Straße 45.

Im Januar 1933 hatte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Damit begann das nationalsozialistische Terrorregime. Die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden wurden wirtschaftlich ausgeplündert, schikaniert und verfolgt, waren Pöbeleien und Gewalttätigkeiten ausgesetzt. Antijüdische Verordnungen und Gesetze schränkten ihr Leben immer stärker ein. Obwohl evangelischen Glaubens, waren Marikita und Jane von den Nationalsozialisten zu Jüdinnen erklärt worden, weil mindestens drei ihrer Großeltern jüdisch waren. Durch ihre Ehe mit dem aus einer evangelischen Familie stammenden Albert Bobzin war Jane vor den nationalsozialistischen Repressionen noch verhältnismäßig geschützt. Auch als ihr Mann frühmorgens am 29. Dezember 1937 an seinem Arbeitsplatz, der städtischen Sparkasse in Wandsbek, tot aufgefunden wurde, verlor sie den Schutz nicht, da sie ihren minderjährigen Sohn noch versorgen musste. Zusammen mit ihm zog sie im Jahr darauf zu ihrer Schwester Marikita in die Lübecker Straße.

Marikita dagegen war der "rassischen" Verfolgung und der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten ungeschützt ausgeliefert. Im Juni 1941, da war sie 69 Jahre alt, fiel der Hamburger Melde- und Passpolizei auf, dass sie weder eine Kennkarte besaß, wozu Jüdinnen und Juden seit dem 23. Juli 1938 verpflichtet waren, noch den "zusätzlichen Namen" Sara trug, was Jüdinnen generell seit dem 17. August 1938 auferlegt war. Das 51. Polizeirevier lud sie daraufhin zur Vernehmung vor. Dort erklärte sie, dass sie eine christliche Schule besucht habe, niemals Mitglied der jüdischen Gemeinde gewesen sei, sondern seit 1908 der evangelischen Kirche angehörte und sich deshalb von beiden Verordnungen nicht betroffen gesehen hatte. Da dies für die NS-Rassenideologie aber keine Rolle spielte, erhielt sie am 13. November 1942 einen Strafbefehl und musste wegen des Verstoßes gegen die Verordnungen zwei Mal 10 Reichsmark zahlen. Zu der Zeit lebte sie von 69 Reichsmark Rente im Monat sowie zusätzlich 75 Reichsmark, die sie durch Zimmervermietung dazu verdiente.

Anfang 1942 musste Marikita Lindenheim aus ihrer Wohnung an der Lübecker Strasse in das zum "Judenhaus" erklärten Samuel-Levy-Stift an der Bundesstraße 35 ziehen. Am 15. Juli 1942 wurde sie, 70-jährig, in das "Altersgetto" Theresienstadt deportiert. Viele der überwiegend alten Leute aus den Transporten kamen körperlich geschwächt, verwirrt und hilflos in Theresienstadt an. Die meisten von ihnen mussten auf nacktem Boden schlafen, weil das Getto überfüllt war. Da sie wegen ihres Alters nicht arbeiten konnten oder durften, drohte ihnen zudem der Hungertod. Doch trotz Kälte, Unterernährung, Schmutz, Ungeziefer und minimaler medizinischer Versorgung überlebte Marikita Lindenheim in Theresienstadt fast zwei Jahre. Das lag möglicherweise mit daran, dass sie von ihrer Schwester Jane zumindest hin und wieder kleine Lebensmittelpakete geschickt bekam.

Am 15. Mai 1944 wurde Marikita weiter in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dieser Transport umfasste 2501 Personen. Mit ihm und zwei weiteren Transporten am 16. und 18. Mai 1944 sollte das überbevölkerte Getto Theresienstadt für den Besuch einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes "verschönert" werden. Nur 137 Jüdinnen und Juden des Transports vom 15. Mai überlebten Auschwitz. Schwache, Alte und Kranke, die nicht arbeitsfähig waren, wurden direkt nach der Ankunft in die Gaskammern geschickt und ermordet. Zu ihnen gehörte Marikita Lindenheim.

Ihre Schwester Jane Bobzin überlebte die Shoah. Sie wohnte zusammen mit ihrem Sohn Hans Georg ab 1943 im Abendrothsweg und starb am 22. November 1945 im Alter von 75 Jahren in Hamburg im Israelitischen Krankenhaus.

Stand: Mai 2016
© Frauke Steinhäuser

Quellen: 4; 5; 8; 9; StaH 211-5 Niedergericht B 3796; StaH 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht – Strafsachen 488/42; StaH 232-1 Vormundschaftsbehörde Serie II 8162; StaH 332-3 Zivilstandsaufsicht A Nr. 71 u. 3642/1869; StaH 332-3 Zivilstandsaufsicht A Nr. 143 u. 8266/1872; StaH 332-5 Standesämter 8198 u. 1000/1945; StaH 332-5 Standesämter 6462 u. 554/1908; StaH 332-5 Standesämter 541/1927; StaH 332-5 Standesämter 512/1937; StaH 373-7 I Auswanderungsamt I, VIII A 1 Band 024, S. 459; StaH 522-1 Jüdische Gemeinden Nr. 992 e 2 Band 4 Transport nach Theresienstadt am 15. Juli 1941 Listen 1 u. 2; Hamburger Adressbücher; Alfred Gottwaldt, Diana Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden, 2005, S. 430f.; New York City, Sterbeindex 1890–1945, online auf: www.ancestry.com (letzter Zugriff 3.2.2015); New York City Heiratsindizes 1866–1932, online auf: www.ancestry.com (letzter Zugriff 3.2.2015); US-Reisepassanträge 1795–1925, online auf: www.ancestry.com (letzter Zugriff 3.2.2015); National Adress and records Administration (Nara), Washington, D. C., Passport Applications 1795–1905 (letzter Zugriff 3.2.2015); Gustav Lindenheim, Find A Grave Memorial #130274472, Record added 24.5.2014, online auf: www.findagrave.com/cgi-bin/fg.cgi?page=gr&GSln=lindenheim&GSbyrel=all&GSdyrel=all&GSob=n&GRid=130274472&df=all&m (letzter Zugriff 3.2.2015); Marikita Lindenheim, www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/22163-marikita-lindenheim (letzter Zugriff 4.2.2015); Anna Hajkova, Mutmaßungen über deutsche Juden. Alte Menschen aus Deutschland im Theresienstädter Ghetto, in: Andrea Löw et al (Hrsg), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 106, München, 2013, PDF-Download von: www.academia.edu/3536642/_Mutma%C3%9Fungen_%C3%BCber_deutsche_Juden_Alte_Menschen_aus_Deutschland_im_Theresienstadt%C3%A4dter_Ghetto_ (letzter Zugriff 10.6.2015); USHMM, Timeline of Events. Deportation from Theresienstadt, online auf: www.ushmm.org/learn/timeline-of-events/1942-1945/deportation-from-theresienstadt (letzter Zugriff 3.3.2015).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang