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Jenny Reich * 1887

Güntherstraße 40–44 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
JENNY REICH
JG. 1887
VERLEGT 1941 AUS
’HEILANSTALT’
BENDORF-SAYN
ERMORDET

Jenny Reich, geb. am 7.8.1887 in Hamburg, am 30.4.1942 deportiert aus der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn nach Krasniczyn/Lublin, dort ermordet

Güntherstraße 44

Jenny Reich wurde in doppelter Weise Opfer der nationalsozialistischen Ideologie von der "reinen germanischen Rasse": als Jüdin und als psychisch Kranke. Sie stammte aus einer kinderreichen Kaufmannsfamilie. Ihr Vater, Siegesmund Reich, geboren am 10. Mai 1854 in Tönning, Kreis Eiderstedt, war 1880 nach Hamburg gekommen. Dort hatte er am 22. August 1881 Mathilde Schmul geheiratet, geboren am 5. April 1859 in Krotoschin in der preußischen Provinz Posen. Beide gehörten der jüdischen Gemeinde an und betrieben zunächst in der Hamburger Altstadt, in der Spitaler Straße 69, ein Eier-, Frucht- und Feuerungsgeschäft. Ihr erstes Kind war 1882 der Sohn Martin. Ihm folgten Gertrud (1884), Jenny (1887), Benno (1888), Wilhelm (1891) und Betti (1893), am 8. März 1898 gesellte sich der Nachkömmling Max dazu. Zur Familie gehörte außerdem Louis, ein jüngerer Bruder Siegesmunds, mit seiner Ehefrau Paula, geborene Heymann, und den Kindern Angela und Bruno. Louis Reich handelte wie sein Bruder mit Lebensmitteln.

Siegesmund Reich änderte die Schreibweise seines Vornamens und eröffnete um 1900 als Siegmund Reich einen Eier- und Fruchthandel in der Spaldingstraße in St.Georg. Sein Geschäft warf ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 3000 Mark ab – genug, um die Aufnahme in den Hamburgischen Staatsverband zu beantragen. Am 4. Juli 1902 wurde die gesamte Familie eingebürgert. Martin war bereits Handlungsgehilfe, Max ging noch nicht zur Schule. Die anderen Kinder waren entweder in der schulischen oder in der beruflichen Ausbildung.

Jenny Reich wurde Kontoristin. Ihre ältere Schwester Gertrud arbeitete als Haushilfe, Verkäuferin, Gesellschafterin und Inhaberin eines Papierwarengeschäfts in Berlin, Köln und Leipzig. Sie kehrte immer wieder zu ihrer Familie zurück, bis sie offenbar 1924 ihren Wohnsitz ganz nach Berlin verlegte, wo sie am 12. Februar 1934 starb. Auch Wilhelm, Jennys zweitjüngster Bruder, ging nach Berlin, sein weiterer Lebensweg ist nicht bekannt.

Martin und Benno Reich wurden wie ihr Cousin Bruno im Ersten Weltkrieg Soldat. Keiner von ihnen überlebte den Krieg. Martin Reich diente als Musketier in einem Reserve-Infanterie-Regiment und starb im Juni 1915, 32-jährig, bei einem Gefecht beim Dorf Stubno in Galizien. Benno Reich, 26 Jahre alt, war als Pferdepfleger im Ersatz-Pferde-Depot in Altona-Bahrenfeld im Einsatz, als er im Mai 1915 im Reservelazarett I in Altona ums Leben kam.

Bevor sich Siegmund Reich 1917 in der Güntherstraße 44b in Hohenfelde niederließ, führte er noch eine Steinzeughandlung in der Wandsbeker Chaussee 136, anschließend ein Geschäft für Hausstandsartikel im Eilbeker Weg 147 und danach unter der selben Adresse einen Großhandel mit Südfrüchten. Nach dem Umzug in die Güntherstraße firmierte er nur noch als "Kaufmann" im Hamburger Adressbuch. Die jüngste Tochter Betti war bei ihren Eltern als Schneiderin gemeldet. Max Reich absolvierte eine Gärtnerausbildung. 1921 wurde er Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde und trat 1926 als Friedhofsinspektor auf dem Friedhof Ihlandweg, heute Ilandkoppel, in Hamburg-Ohlsdorf in ihren Dienst. Im selben Jahr starb Siegmund Reich. Er wurde auf dem Friedhof beerdigt, auf dem sein Sohn tätig war. Mathilde Reich blieb bis zu ihrem Tod am 16. Januar 1930 mit ihren Töchtern Jenny und Betti in der Güntherstraße. Max zog nach seiner Heirat mit Erna, geborene Levy, in eine Dienstwohnung auf dem Friedhof. Dort wurde am 3. September 1932 ihre Tochter Fanni geboren.

Als Jenny Reich 1923 der jüdischen Gemeinde beitrat, arbeitete sie als Kontoristin bei den Ölwerken Stern-Sonneborn, einer Aktiengesellschaft. Eine Zeitlang übertrafen ihre Beiträge deutlich die ihres Bruders Max. Die Ölwerke kamen in der Inflationszeit in finanzielle Schwierigkeiten. 1928 wurde ihr Gesellschaftsvermögen komplett auf die Rhenania-Ossag Mineralölwerke AG übertragen (ab 1947 Deutsche Shell AG), 1932 war die Liquidation abgeschlossen. Die neuen Inhaber entfernten 1933 die jüdischen Firmengründer aus dem Aufsichtsrat. Jenny Reichs Einkommen blieb weiterhin in etwa gleich, nur zahlte sie ab Januar 1934 bis 1936 ihren Beitrag monatlich selbst an die Gemeinde, die ihn dann dem Finanzamt meldete. 1938, sie war inzwischen 51 Jahre alt, erwarb sie neu emittierte Reichsschatzanweisungen im Wert von 8000 Reichsmark. Diese wurden in ihrem Wertpapierdepot bei der Deutschen Bank verwahrt.

Dann erkrankte sie. Nach damaligem Sprachgebrauch wurde sie nerven- und gemütskrank. Solange sie nicht anstaltsbedürftig war, lebte sie bei ihrer Schwester Betti in der Breitenfelderstraße 64 in Eppendorf. Als sich ihr Zustand jedoch verschlechterte, wurde sie mit der Diagnose "Involutionsparanoia" – "Psychose der Wechseljahre" – am 13. April 1939 in der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz untergebracht. Sie blieb aber Mitglied der Hamburger jüdischen Gemeinde. Da die Wechseljahre hinter ihr lagen, blieb ihr die Zwangssterilisation erspart.

Die Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn geht zurück auf die Jacoby’sche Anstalt. Dabei handelt es sich um eine von vier Anstalten, die im 19. Jahrhundert als "Heil- und Pflegeanstalten für Nerven- und Gemütskranke" in Bendorf gegründet wurden und sich nach Sayn ausweiteten. Die Jacoby’sche Anstalt war um 1870 von Meier Jacoby für die Versorgung jüdischer Kranker unter Einhaltung orthodoxer Vorschriften gegründet worden, was in den drei anderen Anstalten nicht gewährleistet war. Sie überstand dank eines 1903 gegründeten Hilfsvereins als einzige die Inflationszeit. In ihr wurden nicht nur wohlhabende Privatpatienten und -patientinnen aufgenommen, sondern auch von der Fürsorge unterhaltene Kranke. Mit der Maßgabe einer Erweiterung wurde die Anstalt am 1. April 1940 an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland übergeben, die Bettenzahl stieg von 190 auf 474. Gemäß dem Runderlass des Reichsinnenministers vom 12. Dezember 1940 mussten "geisteskranke Juden" von da an in der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn untergebracht werden.

Jennys jüngere Schwester Betti Reich heiratete am 2. August 1939 den 18 Jahre älteren Wilhelm Samson. Er übernahm die Vormundschaft für seine Schwägerin Jenny. Seit 1937 wurde sie in der jüdischen Gemeinde als "Selbständige" geführt und leistete nach wie vor nennenswerte Beiträge. Die Quelle ihrer Einkünfte ließ sich nicht ermitteln. Da ihr Vermögen den Betrag von 5000 Reichsmark überstieg, unterlag es einer "Sicherungsanordnung". Es fehlten allerdings entsprechende Unterlagen des Hamburger Oberfinanzpräsidenten. Aus Jenny Reichs Wertpapierdepot bei der Deutschen Bank in Hamburg wurden am 1. Oktober 1939 zwei von fünf Raten der Judenvermögensabgabe in Höhe von je 900 Reichsmark geleistet. Die drei übrigen Raten zahlte sie offenbar aus Rücklagen bei einem anderen Geldinstitut. 1940 entrichtete sie einen Jahresbeitrag von 80,70 Reichsmark an den Jüdischen Religionsverband in Hamburg. Ihr letzter Beitrag an ihre Heimatgemeinde betrug 10 Reichsmark für das Jahr 1941. Mit dem 31. März 1941 schied sie aus der jüdischen Gemeinde Hamburg aus.

Jenny Bruder Max Reich und seine Familie entkamen der nationalsozialistischen Verfolgung am 6. Juni 1941 in die USA. Noch im selben Monat starb die Schwester Betti Samson. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Ilandkoppel beerdigt. Wilhelm Samson wurde am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Danach war von Jennys Verwandten nur noch ihre Tante Paula in Hamburg, die Witwe ihres Onkels Louis Reich. Deren Tochter Angela hatte 1924 Percy Felix Spiegel geheiratet, der bereits 1936 gestorben war. Sie hatten zusammen zwei Kinder. Mit ihnen war Angela Reich 1938 nach Großbritannien ausgewandert.

Am 22. März 1942 begannen die Deportationen der Kranken aus Sayn, wie die Anstalt abgekürzt hieß. In dem ersten Koblenzer Transport von rund 300 Jüdinnen und Juden befanden sich 93 Patientinnen und Patienten. Der zweite Transport mit rund 100 Personen, fast alle aus Sayn, verließ Koblenz am 30. April und war bis zum 3. Mai unterwegs. Ihm waren auch Jenny Reich und vier weitere aus Hamburg nach Sayn verlegte Kranke zugewiesen worden. Ursprünglich sollte er nach Trawniki gehen. Dann wurde er nach Isbicza umdirigiert und endete schließlich in Krasnikow/Krasniczyn bei Lublin, wo die Deportierten ins Getto geschafft wurden. Dort verlieren sich ihre Spuren. Zu dem dritten Transport am 15. Juni 1942 gehörten 322 Personen aus Sayn, die vermutlich alle in den Vernichtungslagern Majdanek und Sobibor ermordet wurden. Nach zwei weiteren kleinen Transporten wurde die Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn aufgelöst und als Reservelazarett bereit gehalten.

Jenny Reichs Tante Paula wurde am 15. Juli 1942 in das Getto von Theresienstadt verbracht und bereits am 21. September 1942 weiter nach Treblinka, wo sie unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurde.

Jenny Reich wurde vermutlich 55 Jahre alt. Im Dezember 1942 überwies die Deutsche Bank die bei ihr verbliebenen Papiere und das Restvermögen im Wert von rund 9300 Reichsmark an den Reichsfinanzminister.

Stand: Mai 2016
© Hildegard Thevs

Quellen: 1; 2; 4; 5; 9; StaH 314-15 OFP Abl. 1998, R 306; StaH 332-5 Standesämter 913 u. 389/1929; 7105 u. 69/1930; 2143 u. 2755/1887; 5309 u. 1315/1915; 6943 u. 510/1915; 8174 u. 212/1941; 13164 u. 543/1899; StaH 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht B III 68596; StaH 332-8 Meldewesen K 6783; StaH 351-11 AfW 21414 (Angela Spiegel, geb. Reich), 21845 (Max Reich); StaH 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn 183; JFHH O 2 – 326/327; Alfred Gottwald, Diana Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden, 2005; Dietrich Schabow, Die israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke/Jacoby’sche Anstalt, 1869–1942, und die spätere Verwendung der Gebäude, S. 55–95, in: Rheinisches Eisenkunstguss-Museum (Hrsg.), Die Heil- und Pflegeanstalten für Nerven- und Gemütskranke in Bendorf, Bendorf-Sayn, 2008; Landeshauptarchiv Koblenz, 512,1 Gesundheitsamt, Nrn. 2568 u. 2570, durch freundliche Recherche von Dietrich Schabow, 27.11.2013.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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