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Anna Messias (geborene Hesse) * 1867

Jungfrauenthal 8 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1942 Theresienstadt
weiterdeportiert am 21.9.1942 nach Treblinka, dort ermordet

Weitere Stolpersteine in Jungfrauenthal 8:
Iwan Hesse, Martha Meyer, Ruth Meyer, Lothar Meyer, Pauline Wolff

Anna Messias geb. Hesse
geb. 31.5.1867 in Grevesmühlen/Mecklenburg, deportiert am 15.7.1942 nach Theresienstadt, weiterdeportiert am 21.9.1942 nach Treblinka und dort ermordet

Jungfrauenthal 8 (Harvestehude)

Anna Hesse, später verheiratete Messias, stammte aus dem westmecklenburgischen Ort Grevesmühlen, rund 10 km östlich von Lübeck. Ihre Eltern, Siegesmund Hesse (1838–1878) und Bertha Hesse geb. Heimann (1840–1923) lebten laut Volkszählung vom 3. Dezember 1867 im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin in Grevesmühlen in der Straße Vogelsang 218 mit Tochter und Amme. In die Spalte mit der Staatsbürgerschaft wurde bei dem Rentier Siegesmund Hesse "America" eingetragen. Das heißt, er hatte sich zeitweilig in den USA aufgehalten und konnte von seinem oder dem vom Vater ererbten Vermögen leben.

Die Familie zog zwischen 1868 und 1871 nach Hamburg. 1872 wurde in der Hansestadt Annas Bruder Iwan geboren. Vermutlich gründete der 34jährige Siegesmund Hesse, aus dem mecklenburgischen Gadebusch gebürtig (rund 20 km südöstlich von Grevesmühlen) und jüdischer Konfession, 1872/73 in Hamburg zusammen mit Siegmund Brüssel das Fondsgeschäft Brüssel & Hesse (Börsenbrücke 2). Seinen Vornamen ließ er anscheinend im Hamburger Adressbuch als Siegmund eintragen. Vermutlich 1876 eröffnete er eine eigene Firma, ein Jahr später lautete sein Adressbucheintrag "Fondsgeschäft" und die Adresse Glockengießerwall 17. 1878 war er als Kaufmann unter gleicher Adresse eingetragen. Den kurzen Wirtschaftsaufschwung nach der Reichsgründung 1871 folgte von 1873 bis 1879 eine schwere Wirtschaftskrise, die Banken, Industrie und Landwirtschaft in Deutschland traf – für Siegmund Hesse scheinen die Auswirkungen aber nicht existenzbedrohend gewesen zu sein. Am Morgen des 26. Januar 1878 fand die Polizei seine Leiche in der Hamburger Außenalster bei Pantelmanns Steg (Höhe Alstertwiete, heute Seitenstraße des Atlantic-Hotels). Nähere Angaben zu den Umständen des Todes veröffentlichte der Hamburgische Correspondent in ihrer Sonntagsausgabe vom 27. Januar 1878 unter der Rubrik Tages-Neuigkeiten: "Der Fondshändler Sigmund Hesse, wohnhaft Glockengießerawll No. 17, wurde heute Vormittag als Leiche in der Alster bei Pantelmann’s Steg aufgefunden. H., der sehr gut situiert war (er soll ein Vermögen von 130.000 Thalern hinterlassen), hielt sich am Freitag Abend bis gegen 8 Uhr in der Börsenhalle auf und verließ dieselbe in Begleitung eines Freundes, von dem er sich in der Nähe seiner Wohnung verabschiedete, um angeblich noch einen Geschäftsweg zu machen. Als man ihn lange vergeblich in seinem Hause erwartete und sich schließlich in sein Arbeitszimmer begab, fand man seine Uhr nebst Kette, sein Portemonnaie und seine Brieftasche auf seinem Tische zusammengepackt, so daß er anscheinend schon beim Fortgehen entschlossen war, nicht wieder heimzukehren. Ein Unglücksfall dürfte hier wohl schwerlich vorliegen. Den Hut und Rock des Verstorbenen, der in den letzten Tagen an schwerer Melancholie litt, fand man in unmittelbarer Nähe des Steges." Nach dem Tod ihres Ehemannes lebte Bertha Hesse von 1879 bis 1886 mit ihren beiden Kindern in der Dammthorstraße 40 (Neustadt). Neben den Bürgerhäusern prägte vor allem das Stadttheater (heute Staatsoper) diese Straße. Anna Hesse war damit knapp elfjährig Halbwaise geworden; ihre mecklenburgischen Großeltern, Tanten und Onkel lebten zu weit entfernt, um ihr das Gefühl zu vermitteln, in einer großen Familie zu leben.

Im Februar 1886 heiratete sie mit noch nicht einmal 19 Jahren den Hamburger Schneider Philipp David Messias (1858–1917), der Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde war. Als Trauzeugen fungierten der Vater des Bräutigams, Schneidermeister Joel David Messias (1831–1903), wohnhaft Bergstraße 23 (Altstadt) sowie der aus Grevesmühlen stammende Kaufmann und Hamburger Bürger Siegmund Friedheim (1836–1917). Der Vater des Bräutigams stammte aus dem westpreußischen Hohensalza (bis 1772 polnisch Inowraclaw) und hatte 1857 das Hamburger Bürgerrecht erworben. Erst nach Heirat und Gründung eines eigenen Hausstandes wurde auch Philipp Messias im Hamburger Adressbuch geführt. 1889 erwarb auch er das Hamburger Bürgerrecht, was bereits zu diesem Zeitpunkt auf gute Einnahmen hindeutet. Das Hamburger Adressbuch weist für Philipp und Anna Messias als Wohnadressen Große Bleichen 9 (1887), Hermannstraße 15/17 (1889–1890), Neuer Jungfernstieg 6 (1891–1897) und Grindelallee 19 (1897–1900) aus. Gleichzeitig wurde mit dem Zusatz "in obiger Firma" auf seine Beteiligung an der väterlichen Firma J. D. Messias & Sohn, Schneidermeister, Garderobenmagazin am Alsterdamm 42 (heute Ballindamm) (u.a. 1885–1890) und am Neuen Jungfernstieg 6 (u.a. 1891–1899) hingedeutet.

Die beiden Kinder Siegfried (geb. 26.11.1886 in Hamburg) und Dalbert (geb. 2.6.1894 in Hamburg) dürften in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen sein. Von 1900 bis 1906 und 1909 bis 1917 lebte die Familie im noch preußischen Klein Flottbek (Friedrichstraße 5) vor den Toren der Hansestadt. Die Eröffnung der Vorortbahn Altona-Blankenese im Jahr 1867 hatte einen verstärkten Zuzug Hamburger Bürger in dieses gehobene Wohngebiet im Grünen zur Folge. Neben Philipp David Messias und seiner Familie hatte sich im April 1900 auch sein verwitweter Vater Joel David Messias nach Klein Flottbek (seit 1890 zur preußischen Stadt Altona gehörend) abgemeldet. Bereits nach dem Tod seiner Hamburger Ehefrau Sarah geb. Halle (1834–1897) in der gemeinsamen Wohnung Fröbelstraße 12 (Rotherbaum), hatte er von 1897 bis 1900 in der Grindelallee 19 Parterre (Rotherbaum) bei seinem Sohn Philipp D. Messias und dessen Familie gewohnt. Sarah und David Messias wurden beide auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf beigesetzt.

Philipp Messias erwarb 1908, fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters, drei neu erbaute Mietshäuser in der Schanzenstraße 81, 83 und 85 (St. Pauli) von E. W. A. Schröder aus Harburg, vermutlich hatte das Harburger Baugeschäft Emil Schröder (Meritstr. 24) die Häuser erbaut und anschließend mit Gewinn weiterveräußert. Mit dem Kauf der Häuser und der sich daraus ergebenden Vermietung von 38 Wohnungen und 8 Geschäften änderten sich Tätigkeit und Einnahmen des 50jährigen Philipp Messias. Folgerichtig ließ er als neue Berufsbezeichnung "Grundstücksverwalter" im Adressbuch eintragen. Von 1906 bis 1909 lautete seine letzte Hamburger Privatadresse Schäferkampsallee 39 (Eimsbüttel), ehe er sich endgültig nach Klein Flottbek (Friedrichstraße 5) abmeldete. Die väterliche Firma dürfte zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelöst oder verkauft worden sein.

Nach dem Tod ihres 59jährigen Ehemannes, 1917 in der Privatklinik des Klein Flottbeker Arztes Dr. Stender (Eidelstedterweg 19) an einem Gallenleiden, zog die 50jährige Anna Messias wieder nach Hamburg in die Rothenbaumchaussee 71 (Rotherbaum) und meldete sich auch wieder bei der dortigen Jüdischen Gemeinde an. In den 1920er Jahren wurden für Anna Messias ("Wwe Ph.") und für "Dr. jur. D. Messias" jeweils eigene Einträge mit der Adresse Rothenbaumchaussee 71 im Adressbuch ausgewiesen, das heißt, Mutter und Sohn hatten beide eine eigene Wohnung im 1. Stock des viergeschossigen Mietshauses, in dem 16 Mietparteien wohnten. Bis 1930 änderte sich hieran nichts. 1931 wurde für den mittlerweile verheirateten Dalbert Messias als Adresse der Loogestieg 3 (Eppendorf), ein sechsgeschossiges Mietshaus, und für Anna Messias weiterhin die Rothenbaumchaussee notiert. 1932 lautete für Anna Messias die Wohnadresse Jungfrauenthal 8 (Harvestehude), ein viergeschossiges Mietshaus mit 10 Mietparteien, in dem auch ihr Bruder Iwan Hesse lebte. Hierher zog auch der jüngere Sohn nach seiner Scheidung 1936.

Der jüngere Sohn Dalbert Messias (Jahrgang 1894) hatte nach dem Besuch des Christianeums in Altona (1905–1906) und des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg-Rotherbaum (1906–1913), dort auch 1913 das Abitur abgelegt. Nach Beginn des Jurastudiums in Freiburg/ Breisgau (1913–1914) und München (1914) war er im Ersten Weltkrieg vier Jahre an verschiedenen Fronten eingesetzt (u.a. bei Verdun) und gehörte zeitweilig dem 162. Infanterie-Regiment an. Dalbert Messias erhielt das Eiserne Kreuz II.Klasse, das Verwundeten-Abzeichen und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer. An bleibenden körperlichen Schäden hatte er aus diesem Krieg rheumatische Beschwerden und Probleme mit dem Ischias sowie einen leichten Gedächtnisverlust durch eine Graben-Verschüttung bei Verdun erlitten. Nach Kriegsende und Demobilisierung als Feldwebel Ende November 1918 war er Angehöriger des Bahrenfelder Freikorps bzw. des im Juli 1919 gebildeten Korps des Generals von Lettow-Vorbeck. Es folgten die Beendigung des Jurastudiums in Hamburg und die Promotion im Dezember 1920 ("Das Schuldproblem beim einfachen Bankrott"). Seine Juristenlaufbahn im Staatsdienst verlief über die Beförderungen zum Assessor (1922), Hilfsrichter (1924), Richter am Amtsgericht (1925) und Richter am Landgericht (1927). Er trat 1922 als eigenständiges Mitglied in die Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburg ein und heiratete 1924 eine Frau evangelischer Konfession aus Altona; die Ehe wurde 1936 geschieden. 1933 wurde er als Richter des Landgerichts gemäß des von den Nationalsozialisten konzipierten "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Anfang 1939 wurde Dalbert Messias ohne Angaben von Gründen verhaftet und 11 Tage interniert. Seine Freilassung erfolgte unter der Bedingung, innerhalb von 14 Tagen Deutschland zu verlassen. Für eine geregelte Vermögensauflösung und Beantragung eines Visums war keine Zeit mehr. Schnell wurden Liftvans von der Spedition Brasch & Rothenstein (Inhaber Harry W. Hamacher, Rödingsmarkt 69) gepackt und im Hamburger Freihafen für einen Schiffstransport nach London eingelagert. Darunter befanden sich Teile des Herren- u. Wohnzimmers mit Bücherschränken, Büchern, Schreibtisch, Zigarrenschrank, Standuhr, Spieltisch mit Bridgekarten, Porzellan-Service, Rauchständer mit Rauchutensilien, Onyx-Leuchter, ein Ölgemälde von Bürger und eines von Zeller sowie ein Aquarell und zwei Radierungen. Daneben wurden auch antike Möbel aus Korridor und Garderobe sowie Bett und Waschkommode aus dem Schlafzimmer verpackt. Die ebenfalls mitgenommene Vogtländer Mittelformatkamera Bessa 6x9 und das Opernglas geben Hinweise auf seine Freizeitbeschäftigungen. Für die Mitnahme dieser Gegenstände mussten im Vorwege insgesamt 3.150 RM gezahlt werden. Dennoch beschlagnahmte die Hamburger Gestapo die Transportkisten und ließ ihren Inhalt zwangsversteigern. Seinen 67jährigen Onkel Iwan Hesse hatte Dalbert Messias Mitte März 1939 zum Generalbevollmächtigten ernannt und auch dem Rechtsanwalt Max Heinemann (Berufsverbot zum 30.11.1938, danach Nachlass- und Vermögensverwalter für jüdische Klienten, Büro Schauenburger Straße 49; arbeitete 1943–1945 für die Rest-Reichsvereinigung der Juden in Deutschland), hatte er laut Akte des Oberfinanzpräsidenten eine Vollmacht erteilt. Am 24. März 1939 emigrierte Dalbert Messias per Flugzeug nach England, da für eine Schiffspassage die gesetzte Ausreisefrist zu kurz war. Die deutschen Behörden sperrten seinen Reisepass ab 28. März 1939, eine Rückkehr wäre damit nur mit einer neuerlichen Genehmigung möglich gewesen und ab Kriegsbeginn ohnehin ausgeschlossen.

Im Juni 1940 wurde er als ehemaliger deutscher Staatsangehöriger, durch die Kriegssituation nun als "enemy alien" (feindlicher Ausländer) eingestuft, nach Australien in ein Internierungslager verschifft. Hier traf er auch auf den ehemaligen Hamburger Landgerichtsdirektor Dr. jur. Franz Goldmann (geb. 29.7.1881 in Hamburg), der zum 1. April 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war und im Juli 1939 mit seiner Ehefrau nach England emigriert war. Erst im Januar 1943 konnte Dalbert Messias von Australien nach Großbritannien zurückkehren, nahm die britische Staatsangehörigkeit an und arbeitete in der Folgezeit in Großbritannien als einfacher Büroangestellter. 1952 wurde er wegen schwerer diabetischer Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert, es kam zu massiven Kreislaufstörungen und seine Sehschärfe verminderte sich rapide. Im Februar 1957 starb Dalbert Messias in England an einem Herzinfarkt; die Wiedergutmachungszahlungen kamen für ihn zu spät.

Der ältere Sohn Siegfried Messias (Jahrgang 1886) litt an Schizophrenie und konnte daher keinen Beruf ergreifen. Auf seiner Kultussteuerkarte der Deutsch-Israelitischen Gemeinde wurde im April 1921 handschiftlich vermerkt: "krank ohne Beruf u. Eink.". Er lebte längere Zeit bei seiner Mutter, starb im November 1934 im Alter von 48 Jahren in der "Staatskrankenanstalt Friedrichsberg" und wurde in der Nähe seines Vaters auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf beigesetzt.

Anna Messias‘ Bruder Iwan Hesse (geb. 31.1.1872 in Hamburg) war selbständiger Kaufmann und ledig. Er wohnte von 1921 bis 1931 in der Rothenbaumchaussee 71, wo bis zu ihrem Tod 1923 auch seine Mutter Bertha Hesse geb. Heimann bei ihm lebte, und ab 1932 im Jungfrauenthal 8 im 2.Stock. Mit der Regierungsübergabe an die Nationalsozialisten durch den greisen Reichspräsidenten von Hindenburg wurde der Antisemitismus schrittweise in den deutschen Alltag integriert. Boykotte gegen Geschäfte jüdischer Unternehmer führten bereits 1934 bei vielen kleineren Geschäften zum Ruin. Erhöhte Steuern, Schwierigkeiten mit Gewerbescheinen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sollten jüdische Firmeninhaber zur Aufgabe nötigen. 1938/39 wurde dann die "Arisierung" großer lukrativer Firmen flächendeckend im Deutschen Reich umgesetzt. Ab wann Iwan Hesse seine Tätigkeit als selbständiger Kaufmann nicht mehr ausüben konnte, ist nicht bekannt. Der Entrechtung folgte die systematische finanzielle Ausplünderung durch den NS-Staat: die Sperrung aller Bankguthaben, die Abgabepflicht für Edelmetalle und Radios sowie die Zahlung spezieller Sondersteuern. Mit dem 1. Januar 1939 musste der männliche Zwangsvorname "Israel" geführt und auch bei Unterschriften verwendet werden. Per Polizeiverordnung war auch Iwan Hesse ab 19. September 1941 gezwungen, deutlich sichtbar auf der linken Brustseite einen gelben "Judenstern" zu tragen. Die jahrelangen Schikanen und Demütigungen hatten seinen Lebensmut gebrochen. Um der befürchteten Deportation zu entgehen, schnitt er sich am 28. Oktober 1941 in einer Bedürfnisanstalt im Hamburger Stadtpark, Nähe Jahnkampfbahn mit einem Rasiermesser Halsschlagader und Luftröhre auf und starb kurz nach der Einlieferung ins Israelitische Krankenhaus (Johnsallee 68). Ein Oberwachtmeister der Schutzpolizei vom 16. Polizeirevier (Heidberg 64 in Winterhude) suchte Anna Messias noch am gleichen Tag auf. Ihre Aussagen hielt er in der Sprache der Polizei-Protokolle fest: "Mein Bruder befürchtete, dass er evakuiert werden würde und hatte aus diesem Grunde in der letzten Zeit ein ängstliches Wesen. Nach außen gab er sich den Anschein, als ob er sich mit seinem Schicksal abgefunden, es lag jedoch noch kein Evakuierungsbefehl gegen ihn vor. Seine Sachen hatte er aber bereits gepackt, da er bestimmt mit seinem Abtransport rechnete. Heute morgen nun ging er gegen 9.30 Uhr fort, angeblich um Besorgungen zu machen. Er hat mir keinerlei Angaben über Selbstmordabsichten gemacht, sonst hätte ich ihn gar nicht fortgelassen. Er war auch ruhig, ich habe jedenfalls nicht Außergewöhnliches an ihm wahrgenommen. Wenn mein Bruder seinem Leben ein Ende machte, so ist dies nur auf seine Angst vor der Evakuierung zurückzuführen."

Julius Saladin (geb. 1.11.1883 in Hamburg) aus der Isestraße 89, ehemaliger Inhaber der väterlichen Firma A. Saladin (Heymannhaus, Neuer Wall 42), die im September 1939 im Handelsregister gelöscht wurde, unterstützte Anna Messias bei den nun anstehenden Behördengängen wegen des toten Bruders. (Im Formular der Kriminalpolizei wurde Julius Saladin bereits mit seinem Zwangsvornamen "Israel" geführt. 1942 musste er auf Veranlassung der Hamburger Gestapo in die Rentzelstraße 52 umziehen, von hier aus wurde er noch 1945 ins Getto Theresienstadt deportiert.)

Anna Messias, wohlhabende Witwe mit Mieteinnahmen aus zwei Häusern, wurde wie alle jüdischen Deutschen systematisch ausgeplündert. Mit den neu geschaffenen Instrumenten "Judenvermögensabgabe" (84.000 RM), Abgabe von Wertpapieren an den staatlich kontrollierten Jüdischen Religionsverband (51.000 RM) sowie der Abgabe von Gold- und Silbergegenständen an staatliche Ankaufstellen konnte sich der NS-Staat bereits große Teile des beweglichen Vermögens von Anna Messias aneignen. Diese Form des administrativen Raubes war sehr effektiv und verursachte in der Öffentlichkeit keine Ablehnung, anders als SA-Boykottposten vor Geschäften oder die sogenannte Reichskristallnacht, denn diese Arte der Gewalt war fast unsichtbar.

Nach dem erzwungenen Verkauf der beiden Häuser im Dezember 1938 und Februar 1939 flossen die Erlöse auf das Girokonto von Anna Messias, das aber bereits mit einer Verfügungssperre blockiert worden war – die Finanzbehörde bestimmte den monatlich abzuhebenden Betrag. Sämtlicher Bürgerrechte beraubt, wurde sie im Jüdischen Gemeindehaus in der Heimhuderstraße 70 (Rotherbaum) einquartiert, das nun als Jüdisches Altersheim diente und von den NS-Machthabern für die Vorbereitung der Deportationen als "Judenhaus" genutzt wurde. Am 15. Juli 1942 wurde die 75jährige Anna Messias ins Getto Theresienstadt und am 21. September 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Das genaue Todesdatum von Anna Messias geb. Hesse ist nicht bekannt.
Der NS-Staat bemächtigte sich nach ihrer Deportation des noch verbliebenen Hausrates (u.a. Teppiche, Ölbilder und die Briefmarkensammlung von Iwan Hesse), die anscheinend am 3. November 1942 zugunsten des Deutschen Reichs versteigert wurden. Auch das restliche Girokonto-Guthaben bei der Deutschen Bank wurde zugunsten des Staates eingezogen.

Auch für Pauline Wolff geb. Koppel (geb. 30.1.1870 in Leer/Ostfriesland, Witwe von Kaufmann Emanuel Albert Wolff) wurde vor dem Haus Jungfrauenthal 8 ein Stolperstein verlegt. Sie war staatlicherseits in ein "Judenhaus" in der Bogenstraße 27 (1913 erbautes Haus mit Stiftswohnungen) umquartiert worden. Von hier wurden dann die Bewohner/innen in die Gettos und später Vernichtungslager deportiert. Pauline Wolff nahm sich am 14. Juli 1942, einen Tag vor dem angesetzten Deportationstermin, mit Schlaftabletten das Leben. Die Kriminalpolizei reichte eine kurze Nachricht an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) in Hamburg weiter: "Die Verstorbene sollte evakuiert werden."

© Björn Eggert

Quellen: Staatsarchiv Hamburg (StaH) 241-2 (Justizverwaltung Personalakten), A 1207 (Dalbert Messias, 1920–1964); StaH 314-15 (Oberfinanzpräsident), F 1703 (Dr. Dalbert Messias, 1939); StaH 331-5 (Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle), 3 Akte 1941/1611 (Iwan Hesse); StaH 332-5 (Standesämter), 40 u. 379/1878 (Sterberegister 1878, Siegesmund Hesse); StaH 332-5 (Standesämter), 2695 u. 166/1886 (Heiratsregister 1886, Philipp Messias u. Anna Hesse); StaH 332-5 (Standesämter), 7906 u. 34/1897 (Sterberegister 1897, Sara Messias geb. von Halle); StaH 332-5 (Standesämter), 4811 u. 23/1903 (Sterberegister Flottbek 1903, Joel David Messias); StaH 332-5 (Standesämter), 8073 u. 85/1923 (Sterberegister 1923, Bertha Hesse geb. Heimann); StaH 332-5 (Standesämter), 7157 u. 1118/1934 (Sterberegister 1934, Siegfried Mesias); StaH 332-7 (Staatsangehörigkeitsaufsicht), A I e 40 Bd. 7 (Bürger-Register 1845–1875, L-R, Joel David Messias, Schneidermeister); StaH 332-7 (Staatsangehörigkeitsaufsicht), A I e 40 Bd. 10 (Bürger-Register 1876–1896, L-Z, Phil. Dav. Messias, Schneider); StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei 1892–1925) Philipp David Messias, Bertha Hesse geb. Heimann, Siegmund Friedheim; StaH 351-11 (Amt für Wiedergutmachung), 1246 (Anna Messias, 1955–1973); StaH 351-11 (Amt für Wiedergutmachung), 16173 (Dalbert Messias, 1955–1972); StaH 351-11 (AfW), 5645 (Dr. Franz Goldmann); StaH 351-11 (AfW), 6467 (Julius Saladin); StaH 522-1 (Jüdische Gemeinden), 992b (Kultussteuerkartei der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg, ab 1913) Anna Messias (1917–1941), Dalbert Messias (1922–1937), Siegfried Messias (1917–1923); StaH 741-4, S 12683 (Hamburgischer Correspondent, Sonntag, 27.1.1878, Seite 13); Hamburger Adressbuch (Messias) 1885–1892, 1895, 1898–1899, 1902, 1908, 1909, 1925, 1927, 1929–1932; Hamburger Adressbuch (Iwan Hesse) 1921, 1922, 1925, 1929, 1931–1933; Hamburger Adressbuch (Brüssel) 1873; Hamburger Adressbuch (Straßenverzeichnis, Schanzenstraße) 1910; Hamburger Adressbuch 1941 (Ämter, Polizeirevier); Adressbuch Altona (inkl. Klein Flottbek), 1910; Harburger Fernsprechbuch, 1908 (Schröder); Hamburger Börsenfirmen, Hamburg 1935, S. 729 (A. Saladin); Handelskammer Hamburg, Firmenarchiv (A. Saladin); Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus, Gedenkbuch, Hamburg 1995, S. 165 (Iwan Hesse), S. 283 (Anna Messias geb. Hesse), S. 440 (Pauline Wolff); www.ancestry.de (Volkszählung Mecklenburg-Schwerin, Haushaltsliste "No. 366, Grevismühlen", Rentier Hesse).

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