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Eduard Eddie Stimler * 1914
Stresemannstraße 108 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)
HIER WOHNTE
EDUARD EDDIE
STIMLER
JG. 1914
´POLENAKTION` 1938
BENTSCHEN / ZBASZYN
ERMORDET IM
BESETZTEN POLEN
Weitere Stolpersteine in Stresemannstraße 108:
Pinkus Majer Stimler, Breindel Tzirel Stimler, Isaak Stimler, Jakob Stimler, Chaja Klara Stimler, Samuel Stimler, Zheni Stimler
Pinkus Majer (Meier, Pinka, Pinchas) Stimler, geb. 27.2.1875 in Brzesko, Galizien, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Breindel Tzirel (Bertha Cerl) Stimler, geb. Pistrong, geb. 12.2.1875 in Radomysl, Galizien, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Isaak Stimler, geb. 22.11.1906 in Brzesko, Galizien, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Jakob Stimler, geb. 5.5.1912 im damaligen Altona, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Eduard Edward Eddie (Eddy) Stimler, geb. 5.4.1914 in Altona/Hamburg, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Chaja Klara Stimler, geb. Engländer, geb. 27.10.1915 in Köln, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Samuel Stimler, geb. 15.1.1917 in Altona, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Zheni Eugenie Stimler, geb. 1927 in Altona, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch: Bentschen) zwangsausgewiesen, ermordet im besetzten Polen
Stresemannstraße 108 (St. Pauli)
Das jüdische Ehepaar Pinkus Majer (auch: Meier, Pinka, Pinchas) Stimler, geboren am 27. Februar 1875 in Breszko, Galizien, und Breindel Tzirel (auch: Cerl Bertha) Stimler, geborene Pistrong recte Eisland, geboren am 12. Februar 1875 in Radomysl, Galizien, wohnte nach seiner Heirat zunächst in Breszko und dann in Radomysl. Beide Orte gehören heute zu Polen. Zwischen 1907 und 1909 ließ sich das Paar in der damals noch selbstständigen preußischen Stadt Altona nieder.
Ihre Enkeltochter Cäcilie Landau, Polly genannt, beschrieb Pinkus Majer Stimler in ihren Lebenserinnerungen als streng orthodox. Sie nannte ihn einen Talmud-Gelehrten und Tzadik (Ehrentitel im Judentum für Personen von Rechtschaffenheit) und schilderte ihn als hingebungsvollen Ehemann und Vater. Seine Geburtsstadt Brzesko lag in der Nähe von Krakau und Bobowa, in der die chassidische Gemeinschaft Bobov entstand, die heute ihren Sitz in Brooklyn, New York, hat.
Laut Cäcilie Landaus Bericht hatte auch Breindel Tzirel Stimler eine streng orthodoxe Erziehung genossen. Sie sei eine treusorgende Hausfrau gewesen, die die jüdischen Speisevorschriften (Kaschrut) genau eingehalten und immer für ein schönes und gut gepflegtes Haus gesorgt habe, in dem Gastfreundschaft vorrangig gewesen sei.
Pinkus Majer Stimler verlor ein Auge durch einen Unfall: Eines Abends, noch in Brezsko, als er sein nächtliches Talmudstudium beenden wollte, verlöschte die Kerosinlampe. Er nahm ein Stück Holz und schnitzte ein dünnes Stück in Form einer Kerze, um es anzuzünden. Ein Splitter flog hoch und verletzte sein Auge so stark, dass es operiert werden musste. Der Bobover Rabbiner Ben Zion Halberstam (1874-1941) riet ihm, für die Operation nach Deutschland zu gehen. Pinkus Majer Stimler folgte dem Rat. Er reiste mit seiner Ehefrau und vier Kindern nach Altona. Die Ärzte ersetzten das verletzte Auge durch eines aus Glas. Sobald er seine Brille trug, so die Enkelin, habe niemand erkennen können, dass ein Auge künstlich war.
Pinkus Majer Stimler kehrte nicht nach Galizien zurück. Er nahm einen Wohnsitz für sich und seine Familie in Altona.
Fünf der zehn Kinder von Pinkas und Breindel Stimler waren noch in Polen geboren worden:
Charlotte (Chaja) am 2. Mai 1898, Sarah am 1. März 1900, Hermann (Hirsch) am 11. Juli 1902, Zippora (Eigra) am 31. Juli 1904, diese vier kamen in Radomysl zur Welt. Das fünfte Kind, Isaak, wurde am 22. November 1906 in Breszko geboren.
Die weiteren fünf Kinder erblickten in Altona das Licht der Welt: Salomon Leb (Siegfried) am 5. Juni 1909, Frieda Jette (Friedel) am 7. November 1910, Markus Jakob (Max), am 5. Mai 1912, Eduard Edward Edmund (Eddie, Eddy) am 5. April 1914, und Samuel (Semi) am 15. Januar 1917.
Eine bei Yad Vashem liegende Page of Testimony, verfasst von der Nichte Sarah Schulewitz aus Bnei Brak/Tel Aviv lässt vermuten, dass ein weiteres Kind in der Familie lebte, Zheni (Eugenia) Stimler, geboren 1927. (Bestätigungen dafür finden sich in Eintragungen über die Familie Stimler bei geni.com und ancestry.de.) Wir wissen jedoch nicht, ob Zheni eine Tochter von Pinkus Majer und Breindel Tzirel Stimler war oder als Verwandte in der Familie wohnte.
Alle Kinder von Pinkus Majer und Breindel Tzirel Stimler gingen in die Altonaer jüdischen Schulen in der Kleinen Papagoyen-Straße und in der Straße Palmaille. Die Familie war sehr musikalisch. Charlotte spielte sehr gut Klavier, Isaak und Siegfried sogar vierhändig, Siegfried auch Geige.
Die Familie Stimler lebte nach ihrer Einwanderung immer in Altona. Pinkus Majer Stimler betrieb dort zunächst eine Kleiderhandlung, dann einen Handel mit Partiewaren und von 1911 bis 1920 wieder eine Kleiderhandlung. Die Familie wohnte an mehreren Adressen, bis sie 1919 das Gebäude Kleine Gärtnerstraße 75 kaufen konnte. Diese Straße, 1930 in Stresemannstraße umbenannt, hieß ab 1933 General-Litzmann-Straße, seit 1945 trägt sie wieder den früheren Namen Stresemannstraße.
Hier handelte Pinkus Majer Stimler nach 1920 mit Säcken, bis er 1925 einen Großhandel mit Kurzwaren begann, der sich erfolgreich entwickelte. Er vertrieb u.a. Knöpfe, Zwirne, Schnallen, Nadeln, Reißverschlüsse, Strümpfe und Parfüms, die Kleinhändler von Haus zu Haus anboten.
Anders als die vielen aus Polen eingewanderten Juden in Altona trug Pinkus Majer Stimler weiterhin die chassidische Tracht mit Schtremel und Beketche (Kopfbedeckung aus Pelz und Gehrock) sowie in seinen Geschäftsräumen sichtbar Schläfenlocken (Pejes), die er außerhalb aber hinter die Ohren schob.
Tochter Charlotte Stimler heiratete am 11. März 1920 in Altona den Kaufmann und Rabbiner Lemel (auch: Alter Usher Leonel Halevi) Landau, geboren am 26. Februar 1888 in Sanok/Galizien. Er war ein Urgroßenkel des Prager Oberrabbiners Ezechiel Landau. Lemel Landau betrieb ein Geschäft mit Kleiderstoffen am Schulterblatt 65. Das Ehepaar wohnte mit seinen Kindern Toby (Toni), geboren am 9. Februar 1922, Cäcilie (Polly), geboren am 9. Oktober 1923, und Sarah (Sari), geboren am 21. Oktober 1927, in der Brunnenhofstraße 16.
Sechs der Stimler-Kinder arbeiteten nach Schulabschluss in dem elterlichen Kurzwaren-Großhandel.
Siegfried Stimler absolvierte nach seiner Schulzeit in Altona eine kaufmännische Lehre bei der Textilgroßhandlung Seeligmann & Frank in Hamburg. Anschließend arbeitete er in dem väterlichen Unternehmen.
Frieda Stimler besuchte zunächst die Gronesche Handelsschule in Hamburg und trat dann in das Unternehmen ihres Vaters ein. 1932 übernahm sie die Geschäftsleitung, als Pinkus Majer Stimler sich aus dem Unternehmen zurückzog.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten litt das Unternehmen wie alle Geschäfte jüdischer Inhaber unter wachsenden Diskriminierungen und Boykotten, so dass die Geschäftsergebnisse rapide zurückgingen. Pinkus Majer und Breindel Stimler konnten den Zins- und Tilgungsverpflichtungen für das Gebäudegrundstück in der General-Litzmann-Straße 75 nicht mehr nachkommen. Sie verloren es durch Zwangsversteigerung an die Hypothekengläubigerin, das Altonaer Unterstützungs-Institut (später von der Hamburger Sparcasse übernommen). Der Unternehmens- und der Familienwohnsitz musste deshalb 1935 in das angemietete Gebäude General-Litzmann-Straße 108 verlegt werden.
Entsprechend der tatsächlichen Unternehmensleitung firmierte der Kurzwarenhandel ab 1936 unter dem Namen Frieda Stimler. Sie heiratete 1936 in Frankfurt am Main den aus Köln kommenden Kaufmann Jacob (Yakoov) Wendum, geboren am 12. Mai 1902 in Krakau. Das Paar hatte eine Tochter mit Namen Goldie.
In der General-Litzmann-Straße 108 wohnte auch Isaak Stimler. Er war verheiratet mit Klara (Chaja), geborene Engländer, geboren am 27. Oktober 1915 in Köln.
Am 28. Oktober 1938 wurden etwa 17 000 Juden polnischer Herkunft im Rahmen der sogenannten Polenaktion aus dem Deutschen Reich über die polnische Grenze zwangsausgewiesen. Die polnische Regierung hatte zuvor damit gedroht, die Pässe der im Ausland lebenden Polen zu konfiszieren. Dadurch wären sie zu Staatenlosen geworden. Die NS-Regierung befürchtete deshalb, dass Tausende "Ostjuden" dauerhaft auf deutschem Gebiet bleiben würden. Ohne Vorwarnung und ohne Ansehen der Person wurden Männer, Frauen und Kinder von ihren Arbeitsplätzen oder aus ihren Wohnungen im gesamten Deutschen Reich abgeholt, an verschiedenen Orten zusammengetrieben und noch am selben Tag mit der Eisenbahn über die polnische Grenze bei Zbąszyń (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Bytom (Beuthen) in Oberschlesien deportiert. Die Kosten der Deportationsaktion sollten aus dem Reichshaushalt getragen werden, "soweit sie nicht [...] bei den deportierten Ausländern erhoben werden können".
Aus Hamburg, zu dem seit April 1938 auch Altona gehörte, wurden etwa Tausend Menschen zwangsweise nach Neu Bentschen (heute Zbąszynek) befördert und von dort mit Gewalt über die polnische Grenze in das etwa 10 km entfernte Zbąszyń gejagt.
Zu den Ausgewiesenen gehörten das Ehepaar Pinkus Majer und Breindel Tzirel Stimler mit den Kindern: Max, Eddy, Siegfried, Samuel Semi sowie Isaak Stimler mit seiner Ehefrau Klara (Chaja) und Charlotte mit ihrem Ehemann Lemel Landau und deren drei Töchtern Toby (Tony), Cäcilie (Polly) und Sara (Sari) sowie Friedas Ehemann Jacob Wendum und Zheni Stimler.
Siegfried Stimler durfte im Juni 1939 als einziger für einige Wochen nach Hamburg zurückkehren, um persönliche Angelegenheiten zu regeln. Als er keine Möglichkeit fand Deutschland legal zu verlassen, flüchtete er im Juli 1939 zusammen mit dem aus Zbąszyń geschmuggelten Jacob Wendum nach Belgien und 1940 weiter nach Frankreich in die Freie Zone. Dort heiratete er eine Engländerin mit dem Vornamen Sofie. Im September 1943 verhaftete ihn die Gestapo in Nizza, über das Sammellager Drancy wurde er am 20. November ins Konzentrationslager Auschwitz überstellt. Er blieb bis zur Befreiung am 27. Januar 1945 Häftling des Konzentrationslagers Monowitz (Buna-Lager). Sein Überleben verdankte er seinem Schulfreund Leo Ziegel aus Altona, der den fast verhungerten Siegfried Stimler in einem unbenutzten Schornstein versteckte und ihn fütterte, bis sich Siegfried erholt hatte. Siegfried Stimler zog sich durch Zwangsarbeit, Hunger und schlechte Behandlung ein schweres Nieren- und Herzleiden sowie durch Infektion und Erfrierung des Fußes ein schweres Fußleiden zu. Er kam mit einem Transport für befreite Kriegsgefangene, Häftlinge und französische Arbeiter zurück nach Frankreich. Dort fand er seine Frau wieder, die als britische Staatsbürgerin interniert, jedoch nicht deportiert worden war. Im Juli 1946 wanderten sie in die USA aus. Hier nahm Siegfried Stimler den Vornamen Jack an.
Die anderen zwangsausgewiesenen Mitglieder der Familie Stimler blieben bis zur Auflösung des Lagers im August/September 1939 in Zbąszyń. Sie durften mit all den anderen Flüchtlingen nach Polen einreisen. Jede Familie erhielt die Anweisung, in den Geburtsort des Vaters, meistens in die kleinen Schtetels, zu gehen. So kamen die Stimlers zunächst in Pinkus Majer Stimlers Geburtsort Brzesko bei seiner Schwester Rivke Zimet unter. Pinkus Majer Stimler schrieb seinem Sohn Hermann in London im August 1939, dass die Söhne Max, Samuel Semi und Eddy in einer Gepäckfabrik in Tarnow unweit von Brzesko arbeiteten und acht Zloty pro Woche erhielten. Später wurden sie zu Zwangsarbeit herangezogen. Seit 1940 sollen sich die noch lebenden Angehörigen der Familie Stimler im Zwangsarbeitslager Bochnia bei Krakau aufgehalten haben, in dem 3000 bis 4000 Gefangene für die "Deutsche Werkstätte Z.F.H." (Zentrale für Handwerkslieferungen) schuften mussten. Fast alle Gefangenen dieses Lagers wurden im September 1943 in das Zwangsarbeitslager Szebnie südöstlich von Krakau überstellt. Etwa 250 Gefangene blieben zunächst in Bochnia. Sie sollten im Februar 1944 in das Konzentrationslager Plaszow bei Krakau überstellt worden sein.
Das Schicksal von Pinkus Majer und Breindel Tzirel Stimler sowie das der anderen Familienmitglieder ist nicht sicher bekannt. Pinkus Majer soll nach einer Aussage des Zeugen Yitzack Landau, eines Neffen von Pinkus Majer, im Getto von Brzesko an Krebs gestorben und im Beisein sehr weniger Menschen beerdigt worden sein. Breindel Tzirel Stimler wurde zuletzt Anfang 1943 in Bochnia gesehen, als sie zusammen mit anderen alten Menschen abtransportiert wurde. Es gab nie mehr ein Lebenszeichen von ihnen und niemand kehrte zurück. Deshalb ist als sicher anzunehmen, dass außer Breindel Tzirel Stimler auch Max, Eddy, Samuel Semi sowie Isaak Stimler und seine Frau Klara (Chaja), geborene Engländer, abtransportiert und ermordet wurden. Zheni Stimler soll in einem Getto umgekommen sein, so die Angaben auf der oben erwähnten Page of Testimony.
Als Jakob Wendum zusammen mit den anderen am 28. Oktober 1938 in Altona verhaftet wurde, erhielt seine Ehefrau Frieda Wendum, geborene Stimler, einen kleinen Aufschub. Sie sollte noch das Nötigste für ihr etwa einjähriges Kind Goldie zusammenpacken und anschließend mit ihr sofort zum Bahnhof Altona kommen. Dort erschien sie jedoch nicht. Es gelang ihr, das Warenlager des Kurzwaren-Großhandels zu verkaufen und im Dezember 1938 zusammen mit Goldie aus Hamburg zu fliehen. Beide blieben zunächst drei Tage in Köln bei Verwandten, übertraten dann illegal die Grenze zunächst mit dem Ziel Brüssel. Kurz darauf wandten sie sich nach Antwerpen. Jacob Wendum, der zusammen mit Siegfried Stimler aus Zbąszyń geflohen war, fand kurz vor Beginn des Krieges in Antwerpen seine Familie wieder. Im September 1939 entkamen Frieda und Jacob Wendum mit ihrer Tochter Goldie nach Südfrankreich in die Freie Zone.
Nach zwei Monaten des Umherirrens kehrten sie nach Antwerpen, Van Imenelstraat 3, zurück. Als die Deutschen im Mai 1940 Belgien besetzten, nahm Frieda Wendum ihre Perücke ab, die sie aus religiösen Gründen trug, und färbte ihr Haar blond. Mit einem Kopftuch als "Nichtjüdin" verkleidet, riskierte sie Einkäufe außerhalb des Hauses. Ihr Mann, dessen Aussehen ihnen als zu "jüdisch" erschien, verließ nie die Wohnung. Durch ständiges Weinen der eineinhalbjährigen Goldie kam die kleine Familie in Gefahr entdeckt zu werden. In ihrer Verzweiflung gab Frieda Wendum ihre Tochter an ein belgisches Ehepaar in Pflege.
Jakob und Frieda Wendum wurden am 2. Januar 1941 in das Zwangsarbeitslager Diepenbeek in der Provinz Limburg eingewiesen, offenbar auf Grund der deutschen "Verordnung über polizeiliche Maßnahmen in bestimmten Gebieten Belgiens und Nordfrankreichs vom 12. November 1940". Von November 1940 an wurden mehrere hundert Juden aus Antwerpen in das Gebiet um Limburg verbracht. Die Häftlinge hielten sich dort unter prekären Bedingungen mehrere Monate auf. Im Laufe des Jahres 1941 wurde ihnen erlaubt, entweder nach Antwerpen zurückzukehren oder sich in bestimmten Gemeinden des Königreiches (die Gemeinden, die zu Brüssel gehörten, und Liége) niederzulassen. Aus Informationen der Kommunalverwaltungen ergibt sich, dass sie entweder in unbewohnten Häusern, in Schulen oder in Baracken untergebracht waren. Sie durften sich innerhalb der Gemeinde frei bewegen, diese aber keinesfalls verlassen und mussten sich regelmäßig im Gemeindehaus melden.
Nach der Entlassung aus Diepenbeek wandte sich das Ehepaar Wendum nach Brüssel, weil es glaubte, dort besser untertauchen zu können. Jakob und Frieda Wendum hausten in einem leerstehenden Gebäude in unbeheizten feuchten Räumen mit einem beschädigten Dach in der Rue Richard van der Veldestraat 66. Frieda Wendum wagte sich während der Dunkelheit unter Lebensgefahr auf die Straße, um etwas Essbares herbeizuschaffen. Dies reichte meist nur für eine Mahlzeit am Tage. Frieda Wendum wog damals nur noch 80 Pfund.
Im Oktober 1944 drang die Gestapo in den Unterschlupf des Paares ein und holte es nachts um drei Uhr aus dem Haus, wobei Frieda Wendum auch geschlagen wurde. Sie wurden in das Brüsseler Gestapogebäude in der Avenue Louise gebracht. Nach ungefähr zwei Tagen wurden sie in das Lager Kazerne Dossin in Mechelen überstellt. Dort blieben beide etwa drei bis vier Wochen.
Die Arolsen Archives berichteten später, dass ein Kuvert auf den Namen von Frieda Wendum und der Aufschrift "239/XXVII" gefunden worden war, das vermuten ließ, dass Frieda Wendum in den Transport Nr. 27 nach Auschwitz eingeordnet war, der aber infolge der Befreiung Belgiens am 25. Oktober 1944 nicht mehr abging.
Goldie Wendums Pflegeeltern weigerten sich zunächst, das Kind, das seine Mutter nicht mehr kannte, nach fast fünf Jahren herzugeben, bis das Kind schließlich doch zu seinen Eltern wollte.
Die Wendums blieben noch bis 1949 in Brüssel und gingen dann in die USA.
Lemel, Charlotte, Toby, Cäcilie und Sara Landau
Charlotte, geborene Stimler, und ihr Ehemann Lemel Landau wurden zusammen mit den drei Töchtern Toby, Cäcilie und Sara ebenfalls zwangsausgewiesen. Sie verließen Zbąszyń im August 1939 und reisten nach Sanok im Karpatenvorland, dem Geburtsort von Lemel Landau. Dort kamen sie zunächst bei einem Cousin von Lemel Landau unter. Eine Woche nach ihrer Ankunft begann der Zweite Weltkrieg. Nach einer kurzen Zeit des Umherirrens kehrte die Familie, die nur wenig jiddisch und nicht polnisch sprach, nach Sanok zurück. Die Gestapo verpflichtete alle Juden zur Arbeit in ihren Zwangsarbeitslagern. Etwa im Frühjahr 1940 begannen die Deportationen von Sanok und anderen Orten in die Konzentrationslager. Die Familie Landau versteckte sich in den Wäldern. Sie überquerte den Fluss San, einen Nebenfluss der Weichsel, dessen gegenüberliegende Seite zum sowjetisch besetzten Teil Polens gehörte. Teils zu Fuß und teils mit der Eisenbahn erreichten sie den Wohnort von Dr. Leib Landau in der Gegend von Lemberg, einem Cousin von Lemel Landau. Er überließ ihnen ein Sommerhaus, in dem sie eine Zeit lang leben konnten. In Lemberg versuchten die beiden Schwestern Toby und Cäcilie auf einem Markt Socken zu verkaufen, um an Geld zu kommen. Einer Verhaftung wegen illegalen Handels durch die russische Polizei entgingen sie nur mit Hilfe anderer Juden.
Im Sommer 1940 deportierte die sowjetische Regierung alle jüdischen Flüchtlinge, die aus dem von Deutschland besetzten Westteil Polens in den von der Sowjetunion besetzten Ostteil Polens geflohen waren, in die sibirische Taiga, unter ihnen die Familie Landau. Nach einer sieben Wochen dauernden Eisenbahnfahrt mit etwa 50 oder 60 Personen in einem Viehwaggon kamen die Menschen in den Verwaltungsbezirk Krasnojarsk am Fluss Jenissei etwa 3300 km östlich von Moskau an. Ein Lastkahn transportierte sie zu dem endgültigen Ziel, einem dichten Waldgebiet. Die Unterkunft der jüdischen Flüchtlinge bestand aus Baracken für je 50 bis 60 Leute. In dem rauen Klima mussten die Männer Bäume fällen, während die Frauen und Mädchen die Äste von den Bäumen entfernten.
Lemel Landau erkrankte an einem Herzleiden, Charlotte Landau hatte ein schweres Nierensteinleiden. Sie blieben mit Sara, der jüngsten Tochter in der Baracke. Cäcilie und Toby mussten im Freien arbeiten. Man sagte ihnen, sie müssten sich an die schwere Arbeit gewöhnen, sonst würden sie nicht überleben. Für die Arbeit bei Temperaturen von minus 40 bis 50 Grad Celsius erhielten sie zwar warme Kleidung und Stiefel, aber jede nur eine Scheibe Brot pro Tag. Während der milden Jahreszeit, die in der Gegend nur drei Monate andauerte, sammelten die drei Schwestern Pilze, Beeren und anderes Essbares, wann immer sie konnten.
Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 schloss der polnische Exilregierungschef Sikorski am 30. Juli mit der sowjetischen Regierung ein Abkommen über die Bildung einer polnischen Armee im Osten (Sikorski-Maiski-Abkommen). Daraufhin erließ die sowjetische Regierung eine Amnestie für Polen, die zwischen 1939 und 1941 aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen in die Sowjetunion deportiert worden waren. Die Familie Landau erhielt die Möglichkeit, nach Minusinsk, einer Stadt in der Region Krasnojarsk zu gehen, in der viele russische Juden lebten und heimlich ihrem Glauben folgten. Das Büro der dortigen Jüdischen Sozialagentur half den Landaus eine Unterkunft zu finden und versorgte sie auch mit der Unterstützung anderer Juden in Minusinsk in den ersten Tagen mit Brennstoff und Lebensmitteln. Die Familienmitglieder lernten bald Russisch und Jiddisch zu sprechen. Abhängig von der Jahreszeit arbeiteten alle auf Bauernhöfen und auf den Feldern bis zur Ernte.
Die Zeit in Minusinsk entwickelte sich zu einer vergleichsweise problemlosen Phase des Exils. Lemel Landau ging mit anderen Juden in der Stadt, wenn auch verdeckt, den religiösen Pflichten nach. Cäcilie, die als Kind von ihrem Onkel Siegfried ein Maniküre-Set erhalten hatte, lernte nach und nach Handpflege und verdiente damit Geld.
Nach Kriegsende dauerte es noch bis Ende April 1946, bis Familie Landau Minusinsk verlassen konnte und sieben Wochen später Krakau erreichte. Dort versorgten der Jewish Joint und die UNRRA (United Relief and Rehabilation Agency) sie mit Lebensmitteln. Toby lernte einen gläubigen jungen Mann mit Namen Naftali Trencher kennen und heiratete ihn bald darauf.
Nach einem erschütternden Kurzbesuch im völlig zerstörten Altona ließ sich die Familie zunächst in Bad Nauheim nieder. Charlotte und ihr Ehemann Lemel Landau sowie deren Töchter Toby mit dem Ehemann Naphtali Trencher und Sarah mit dem Ehemann Mendel Hamer wanderten um 1949/1950 nach New York aus.
Charlotte Landau starb 1984 in Brooklyn. Hermann Stimlers "Chavruta" (Partnerschüler), Rabbiner Shlomo Halberstam aus Bobov (1907-2000), der die chassidische Dynastie nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten wiederbegründete, nahm als Zeichen der Nähe und Loyalität zusammen mit seinen Gemeindemitgliedern an Charlotte Landaus Beerdigung teil.
Cäcilie Landau heiratete den 1922 bei Lublin geborenen ebenfalls jüdischen Baruch Mehl. Er hatte während der Verfolgung durch die Nazis überlebt, indem er sich mit seinen Familienangehörigen in unterirdischen Höhlen versteckte. Er überlebte, musste aber den Tod seiner Eltern und seines jüngsten Bruders miterleben. Aus Cäcilie und Baruch Mehls Ehe gingen 1950 in Frankfurt der Sohn Leon und 1952 in Zürich der Sohn Norbert hervor. Die Familie ließ sich 1952/1953 in Buenos Aires nieder. Zwischen 1983 und 1993 zog sie nach New York.
Zippora Stimler, eines der noch in Galizien geborenen Kinder des Ehepaares Stimler, heiratete am 23. August 1928 in Wiesbaden den am 19. Januar 1899 in Kolbuszowa/Galizien geborenen Kaufmann Chaskel Weiss. Das Paar bekam vier Söhne: Hermann (Zvi Asher), geboren 1929, Oscar, geboren 1930, Jacob, geboren 1932, und Max (Moshe Yechiel), geboren 1939. Die Familie lebte in Frankfurt am Main. Sie konnte Deutschland kurz nach der "Polen-Aktion" verlassen und erreichte über Havanna im Januar 1941 New York.
Sarah Stimler heiratete den am 23. Dezember 1896 in Padomysl geborenen Herschel Zvie Keller. Mit ihren vier Kindern Freide (Frieda) geboren am 21. August 1925, Malka (Mali, Maly), geboren am 18. Juni 1927, Perel (Paula), geboren am 2. Februar 1933, und Chaim (Joachim), geboren am 7. April 1937, lebte das Paar in Köln. Sarah Keller flüchtete mit ihrem Mann und den Kindern 1938 nach Belgien. Nach der Besetzung kamen sie in ein Getto. Als Sarah Keller an hohem Fieber erkrankte, schmuggelte ihr Ehemann sie in ein Nonnenkloster. Zum Zeitpunkt ihrer Gesundung war ihre Familie am 15. Januar 1943 aus dem Transitlager Mechelen nach Auschwitz deportiert worden. Alle Familienangehörigen von Sarah Keller wurden ermordet.
Hermann Stimler lebte ebenfalls in Frankfurt am Main mit seiner Frau Regina Stimler, und den Söhnen Wolfgang (Volli), geboren 1928, Jacob (Jacki), geboren 1932 und Chaim. Die drei Brüder reisten 1938 nach Zürich. Hermann Stimler floh 1938 nach Antwerpen. 1941, nach der deutschen Besetzung Belgiens, war er mit mehreren Verwandten auf der Flucht. Er wurde an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz verhaftet und sollte nach Auschwitz deportiert werden, konnte aber mit einem Cousin fliehen. Die Familie in der Schweiz erfuhr von ihrer Notlage und schickte Geld an die Résistance in Frankreich, die die französische Gendarmerie bestach und die beiden 1942 hinausschmuggelte. Dann versteckten sie sich auf einem Bauernhof bis zur Befreiung Frankreichs 1944.
Dank an Norbert Mehl
Dieser Bericht über die Familie Stimler, zu der auch die durch Heirat hinzugekommenen Familienzweige gehören, war so nur möglich, nachdem die Verfasserin und der Verfasser über geni.com Kontakt zu Norbert Mehl, einem Sohn von Cäcilie Mehl, geborene Landau, gefunden hatten. Er überließ uns den über 500 Seiten umfassenden, bisher unveröffentlichten Familienbericht seiner Mutter Cäcilie (Polly) Mehl, geborene Landau, und erlaubte uns, ihn in diese Biografie einzubeziehen.
Ohne Cäcilie (Polly) Mehls Aufzeichnungen wäre die sonst nur auf offizielle Dokumente gestützte Familienbiografie zwangsläufig fragmentarisch geblieben. Erst dieser Bericht vermittelte uns einen direkten Einblick in die viele Jahre andauernde Verfolgung der Familie Stimler.
Wir danken Norbert Mehl für die Überlassung der Familiengeschichte und für das uns entgegengebrachte Vertrauen.
Stand: Januar 2025
© Ingo Wille/Susanne Rosendahl
Quellen: Adressbuch Altona (diverse Jahrgänge ab 1910); StaH 314-15 Oberfinanzpräsident FVg 3582 (Stimler); 332-5 Standesämter 113593 Geburtsregister Nr. 1371/1909 (Salomon Leb Stimler), 114056 Geburtsregister Nr. 2467/1910 (Frieda Jette Stimler), 115810 Geburtsregister Nr. 966/1912 (Markus Jakob Stimler); 213-13 Landgericht Hamburg – Wiedergutmachung 9982 (Pinkas Stimler); 351-11 Amt für Wiedergutmachung 2909 (Erbengemeinschaft Stimmler), 2647 (Breindel Stimler), 34355 (Siegfried Stimler), 35732 (Frieda Wendum geb. Stimler), 48590 (Sarah Hamer geb. Landau); 522-01 Jüdische Gemeinden 0992b (diverse Steuerkarten). Bundesarchiv - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, diverse Einträge von Mitgliedern der Familie Stimler. Yad Vashem diverse Pages of Testimony. Arolsen Archives, Sign. 631200005 (Herschel Zwie Keller). Alina Bothe, Gertrud Pickhan (Hrsg.). Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der "Polenaktion", Berlin 2018. Ina Lorenz und Jörg Berkemann. Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39, Band II, S. 1096-1107, Göttingen 2016. Jerzey Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung, Warschau 1998, S. 15 ff. The lives of Baruch und Tzipora Mehl, Tzipora (Polly) Mehl, unveröffentlichtes Manuskript, 2011.


