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Johanna Stüve * 1923

Kanalstraße 52 (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)


HIER WOHNTE
JOHANNA STÜVE
JG. 1923
EINGEWIESEN 1931
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 30.3.1944

Meta Johanna Stüve, geb. 14.3.1923 in Twielenfleth, aufgenommen am 2.2.1928 in der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt zu Langenhagen bei Hannover, am 23.7.1931 aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 16.8.1943 abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 30.3.1944

Kanalstraße 52 (früher Canalstraße), Winterhude

Meta Johanna Stüve (Rufname Johanna) wurde am 14. März 1923 in dem kleinen Ort Twielenfleth (heute Hollern-Twielenfleth im Landkreis Stade) geboren. Ihre Mutter, die am 18. Oktober 1898 in der damals noch selbstständigen preußischen Stadt Wandsbek geborene Meta Martha Magdalena Stüve, war zur Zeit der Geburt ihrer Tochter nicht verheiratet. Sie wohnte während ihrer Niederkunft bei ihren Eltern Theodor und Katharina Stüve in Twielenfleth. Als Johannas leiblicher Vater wird Bernhard Winzer angenommen.

Johanna Stüve war seit ihrer Geburt blind. Ihr fehlten beide Augäpfel. Personen erkannte sie an ihren Stimmen. Von Geburt an litt das Mädchen zudem unter einer geistigen Behinderung. Es konnte nicht sprechen, lernte verspätet und nur beeinträchtigt Gehen.

Johanna Stüve lebte in den ersten Lebensjahren bei ihren Großeltern in Twielenfleth, die seit etwa 1926/1927 den Eindruck gewannen, dass sich ihr Enkelkind zurückentwickelte. Johanna Stüves Großmutter und die Gemeindeschwester von Twielenfleth brachten das Mädchen am 2. Februar 1928 in die Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt zu Langenhagen, nördlich von Hannover gelegen. Johanna soll bei der Aufnahme nur wenige Worte gesprochen haben. Sie habe ihre Mutter gekannt, sei folgsam und reinlich gewesen. Das grazil gebaute Mädchen habe sich selbst an- und auskleiden können. Wenige Wochen darauf wurde notiert, Johanna spiele nicht mit Spielzeug, behalte es auch nicht in der Hand, sie habe es gern, wenn Pflegerinnen sie "an sich nehmen und spielen". Sie habe dann an deren Kleidung gezupft, ihnen in die Finger gebissen, in deren Hände geklatscht. Allein habe sie nur unsicher stehen und nur mit Unterstützung gehen können. Insgesamt wurde Johanna als ein "stilles, bescheidenes Mädchen" beschrieben, "freundlich, unauffällig, tiefstehend, muss völlig besorgt werden". Auf Wunsch ihrer Mutter wurde Johanna Stüve am 1. Mai 1928 aus der Anstalt in Langenhagen entlassen. Gründe dafür sind nicht angegeben.

Die Landesdirektion der Provinz Hannover, zu deren Zuständigkeitsbereich Twielenfleth damals gehörte, ordnete 1929 oder 1930 an, dass Johanna Stüve in der Provinzial- und Blindenanstalt in Hannover-Kirchrode eingeschult werden sollte. Noch vor der Einschulung zog ihre Mutter mit dem Kind jedoch in die Canalstraße 52 in Hamburg-Uhlenhorst (heute Kanalstraße). Mutter und Tochter wohnten dort in einem Keller zur Untermiete.

Mit dem Umzug war die Zuständigkeit für Johannas Schulbesuch auf die Stadt Hamburg übergegangen. In einem von den Ärzten Ubenauf und Villinger der Wohlfahrtsbehörde Hamburg unterschriebenen Vermerk aus der auszugsweise vorliegenden Fürsorgeakte wurde Johanna Stüves arbeitslose Mutter als eine sehr ordentliche und rechtschaffene, aber geistesschwache Frau beschrieben. Sie habe angegeben, ihre Tochter habe erst mit sechs Jahren Laufen gelernt und spreche immer noch unartikuliert. Die Ärzte attestierten Johanna Stüve einen guten körperlichen Allgemeinzustand. Bis auf das Fehlen beider Augäpfel gäbe es keine missgebildeten Körperformen. Die Augenlider seien bis auf einen kleinen Schlitz zusammengewachsen. Dagegen wurde Johannas Hörvermögen als gut eingestuft. Nach Überwindung der ersten Scheu habe sich Johanna ziemlich ungehemmt verhalten, ständig grunzende Laute ausgestoßen, mit den Füßen gestrampelt und die Arme rhythmisch bewegt. Ein einstudiertes Lied habe sie weitgehend richtig wiedergegeben. Insgesamt wurde eine "cerebrale Missbildung verbunden mit einer Geistesschwäche mäßigen Grades" (angeborene Fehlbildung der Blutgefäße innerhalb des Gehirns) diagnostiziert. Im Ergebnis wurde empfohlen, Johanna Stüve in die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) einzuweisen.

Dort wurde Johanna Stüve am 23. Juli 1931 aufgenommen. Sie zeigte anfangs starkes Heimweh und weinte viel. Ihre Mutter besuchte Johanna 1932 und 1933 mehrmals. Verschiedene Verwandte nahmen das Mädchen auf Urlaub zu sich.

Anfang 1934 vermerkte das Personal, Johanna Stüve versuche allein zu gehen und sich nach Geräuschen und Stimmen zu orientieren. Sie sei sehr lebhaft geworden und habe einige Wörter sprechen können. Auch zu ihren Mitpatientinnen habe sie intensiv Kontakt gesucht und sie liebkost.

In den nächsten Jahren wiederholten sich die Berichte, insbesondere über Johannas Versuche selbstständiger zu werden, bis sich die Eintragungen in ihrer Patientenakte ab 1941 veränderten. Nun wurden nicht mehr Fort-, sondern Rückschritte in ihrer Entwicklung betont: "Muss in der Körperpflege vollkommen besorgt und gefüttert werden. Im Wesen ist sie ruhig, verträglich und folgsam, spielt nur mit einem Löffel. Ihre Bedürfnisse sagt sie an, ist sauber hört gern Musik."

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") "verlegt". Unter ihnen befand sich Johanna Stüve.

Meta Stüve, Johannas Mutter, gebar am 2. Mai 1932 ihr zweites Kind, Karl Stüve. Im Juli 1933 heiratete sie Friedrich Wilhelm Heinrich Graht, geboren am 15. Dezember 1904. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor: Rudolf, geboren am 28. Februar 1934, und Heinz Wilhelm, geboren am 22. Februar 1935. Die Ehe wurde im Juli 1938 geschieden. Meta Graht war, wahrscheinlich zusammen mit ihren Söhnen, vor den Luftangriffen auf Hamburg im Juli/August 1943 nach Goeschnitz in Oberfranken evakuiert worden. Vermutlich in Sorge um ihre Tochter während der Luftangriffe auf Hamburg fragte sie am 23. August 1943 telegrafisch in den Alsterdorfer Anstalten an, ob Johanna noch dort sei. Sie erhielt die Antwort, dass "Hannele nach Wien, Wagner von Jauregg-Anstalt, verlegt worden ist, da die Alsterdorfer Anstalten durch Bombenschaden so viele Räume verloren haben, dass eine Evakuierung von ca. 500 Pflegebefohlenen notwendig geworden ist. Schwester Alwine hat Hannele mit den übrigen Pfleglingen selbst nach dort begleitet und in der Anstalt abgeliefert und hat den Eindruck gewonnen, dass unsere Pflegebefohlenen es dort gut haben werden".

Bei ihrer Ankunft in Wien wog Johanna Stüve 31 kg. Ließen die letzten Beurteilungen in Alsterdorf schon wenig Zugewandtheit erkennen, so waren die Bemerkungen über die inzwischen junge Frau von noch deutlicherer Distanz geprägt: "Pflegebedürftig, verblödet, unrein, Sprache unausgebildet, schwer verständlich, teilnahmslos. Diagnose: Angeborener Schwachsinn (1a). Mutter und eine Tante beschränkt."

Johanna, die in Alsterdorf bemüht gewesen war, ihre Gehfähigkeit zu verbessern und sich trotz Blindheit auch örtlich zu orientieren, befand sich seit November dauernd im Bett. Am 19. Januar 1944 wurde sie in den "Infektionspavillon" 19 verlegt, der ein Ort herbeigeführten Sterbens war. Die letzte Notiz in ihrer Wiener Krankenakte lautete: "Dauernd zu Bett, blass, nimmt an Gewicht ab." Die Gewichtstabelle wies nach fünf Monaten in Wien noch 24 kg aus. Dies entspricht 77 % des Anfangsgewichts.

Als sich Johanna Stüve am 6. Februar 1944 angeblich die Hände aufbiss, wurde ihre Bewegungsmöglichkeiten mit einer Schutzjacke eingeschränkt (euphemistischer Begriff für umgangssprachlich "Zwangsjacke"). Zwei Monate später, am 28. Februar, hieß es wieder: "Zu Bett" und "hinfällig, ruhig, unrein, pflegebedürftig, Selbstbeschädigung".

Johanna Stüve starb am 30. März 1944.
Obwohl sich in der Patientenakte bis dahin kein Hinweis auf eine Lungentuberkulose findet, wurde als Todesursache wie in vielen anderen Fällen "Lungentuberkulose" notiert.


Die Chefärztin Barbara Uiberrak, die tief in das Krankenmordgeschehen in der Wiener Anstalt eingebunden war, zeichnete verantwortlich auch für die Obduktion des Leichnams von Johanna Stüve. Sie vermerkte als pathologisch-anatomische Todesursache "Gangraenapulmonum" (Lungenbrand, brandiges Absterben einzelner Partien der Lunge unter Fäulniserscheinungen) und verfügte "vorläufige Fixation des Gehirns in 4% Formol."

Wie Johannas Mutter von dem Ableben ihrer Tochter erfuhr, ist nicht überliefert. Sie telegraphierte am 31. März nach Wien, dass sie am Sonntagmorgen zur Beerdigung nach Wien kommen wolle. Gemeint war der 2. April. Ob sie dies verwirklichen konnte, ist nicht bekannt.

In der "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" wurden Patientinnen und Patienten auch nach dem offiziellen Stopp der Krankenmorde in den Gasmordanstalten Ende August 1941 systematisch weiter gemordet, durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem durch Nahrungsentzug. Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen 257 bis Ende 1945 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: August 2024
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg verschiedene Jahrgänge, StaH 332-5 Standesämter3897 Geburtsregister Nr. 127/1898 (Meta Martha Magdalena Stüve), 14098 Heiratsregister Nr. 375/1933 (Friedrich Wilhelm Heinrich Graht/Meta Martha Magdalena Stüve; Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, V 229 (Sonderakte Johanna Stüve). Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 534.Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff. Geschichte der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt zu Langenhagen https://psychiatrie-langenhagen.krh.de/ueber-uns/geschichte (Zugriff 14.5.2024).

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