Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Mikel Kairies
Mikel Kairies
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Mikel Kairies * 1872

Herrenweide 17 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
MIKEL KAIRIES
JG. 1872
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 10.8.1943
‚HEILANSTALT‘ MAINKOFEN
ERMORDET 9.5.1944

Mikkeles (genannt Mikel) Kairies, geb. 11.11.1872 in Schudnaggen, Krs. Memel (heute Lūžgaliai, Litauen), vom 23.12.1929 ab Aufenthalte in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" und den "Alsterdorfer Anstalten" (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 10.8.1943 abtransportiert in die "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" bei Deggendorf, dort gestorben am 9.5.1944

Herrenweide 17

Mikkeles (genannt Mikel) Kairies kam am 11. November 1872 in Schudnaggen, Kreis Memel in Ostpreußen (heute Lūžgaliai, Litauen), als Sohn des Ziegenkätners Martin Kairies und seiner Ehefrau Marie, geborene Lavrenz, zur Welt. (Kätner waren Kleinbauern, die eine eigene oder in Erbpacht bewirtschaftete Katenstelle hatten, auf der zumindest Ziegen gehalten wurden.)

Der unverheiratete Mikel Kairies wurde am 23. Dezember 1929 in der Hamburger Staatskrankenanstalt Friedrichsberg aufgenommen.

In den 1920er Jahren lebten in der damals selbstständigen preußischen Stadt Harburg einige Menschen mit dem Nachnamen Kairies, die mit ihm verwandt gewesen sein könnten, darunter die Familie des gleichnamigen Fabrikarbeiters Mikkeles Kairies, der am 30. August 1870 in Schudienen, Kreis Tilsit in Ostpreußen (heute Sūdėnai, Litauen) geboren wurde. Eine verwandtschaftliche Verbindung ließ sich jedoch nicht bestätigen.

Im Jahr 1929 wohnte Mikel Kairies in der Straße Herrenweide 17 im Stadtteil St. Pauli, und zwar zur Untermiete in einer Kellerwohnung.

Aufgrund der Diagnose "Irresein (Verfolgungswahn)" des niedergelassenen Arztes Kurt Michaelis, Reeperbahn 14, wurde Mikel Kairies von zu Hause mit einem Fahrzeug der Sanitätskolonne in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg eingeliefert. Dort erzählte er dem behandelnden Arzt, dass er die Dorfschule besucht und danach auf dem Lande gearbeitet habe. In den Jahren 1892 bis 1894 habe er Militärdienst geleistet. Während des Krieges sei er in Russland und Rumänien verwundet worden.

Seine Eltern seien verstorben, und von den Geschwistern, über die er keinen näheren Angaben machte, habe er seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr gehört.

Wir wissen nicht, wann Mikel Kairies nach Hamburg kam.

Er berichtete im Staatskrankenhaus Friedrichsberg, dass er ab 1908 verfolgt wurde. Er fühlte sich von einer Frauenstimme beschimpft, habe reagiert und erneut Beschimpfungen erhalten. Bereits kurz nach seiner Militärzeit habe ihm eine Kartenlegerin seine künftigen psychischen Probleme geweissagt: Böse Menschen würden ihn in seinem Leben verfolgen.

Mikel Kairies glaubte, durch "Funkwellen" belästigt und überall als "schlechter Mensch" verleumdet zu werden, so dass er nirgendwo Arbeit fände. Dennoch habe er das Schustern gelernt und sich seinen Lebensunterhalt verdienen können. Die Bekannten, denen er von seinen Problemen erzählte, hätten ihn bald gemieden, sodass er vereinsamte.

Seinen Aufenthalt im Staatskrankenhaus Friedrichsberg führte er auf das Werk von "Verbrechern" zurück, die ihn mit Stimmen belästigt hätten.

Während der Zeit in Friedrichsberg änderte sich Mikel Kairies‘ Situation kaum. Er war nicht zur Arbeit zu bewegen und saß meistens teilnahmslos auf einem Stuhl. Bald galt er als streitsüchtig und neigte zu Balgereien mit jüngeren Patienten. Dabei zeigte sich, dass der inzwischen Sechzigjährige kraftvoll war und sich gewandt bewegte. Ein Pfleger berichtete, dass Mikel Kairies sich "allem widersetzte" und sich rechthaberisch verhielt.

Als Mikel Kairies in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg als "austherapiert" galt, wurde er am 18. Januar 1935 in die "Staatskrankenanstalt Langenhorn" im Norden Hamburgs verlegt. Auch in Langenhorn wurde seine Krankheit mit "Irresein, Verfolgungswahn" angegeben.

Mikel Kairies wurde am 28. August 1939 von der inzwischen als "Heil- und Pflegeanstalt" bezeichneten Einrichtung in Langenhorn in die damaligen "Alsterdorfer Anstalten" verlegt. Der Grund für die Verlegung ist aus den Akten nicht ersichtlich.
Erst zwei Jahre nach seiner Aufnahme in Alsterdorf, am 6. Oktober 1941, wurde eine zusammenfassende Beurteilung über ihn verfasst: "Pat.[ient] macht einen intelligenten Eindruck und ist an seiner Umgebung sehr interessiert. Neigt zu Jähzornausbrüchen. Er verrichtet Handreichungen, ist durchaus selbständig. Hält sich peinlich sauber. Sein Appetit ist normal." Erst am 25. März 1943 erfolgte ein weiterer Bericht, der im Wesentlichen dem von 1941 ähnelte. Die Diagnose lautete nun Schizophrenie.

Am 10. August 1943 notierte der Anstaltsarzt SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg über Mikel Kairies: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Mainkofen. Gez. Doktor Kreyenberg."

Nachdem die Alsterdorfer Anstalten während der schweren Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") Schäden erlitten hatten, nutzte der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, diese Situation und bat die Hamburger Gesundheitsbehörde um Genehmigung für den Abtransport von etwa 750 Bewohnerinnen und Bewohnern, weil sie durch die Bombenangriffe obdachlos geworden seien. Daraufhin verließen zwischen dem 7. und dem 16. August 1943 drei Transporte mit insgesamt 469 Mädchen, Jungen, Frauen und Männern Alsterdorf in verschiedene Richtungen. Am 10. August 1943 verließ ein Transport mit 113 Männern und Jungen Alsterdorf mit dem Ziel "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" in der Nähe von Deggendorf.

Mikel Kairies gehörte zu diesem Transport, der am 12. August 1943 in Mainkofen eintraf. Dort erkrankte er im März 1944 angeblich an Lungentuberkulose. Wie im Leichenschauschein vermerkt, starb er daran am 5. Mai 1944. Als sein Grundleiden wurde Schizophrenie notiert.

Auf dem Patientenblatt von Mikel Kairies in der "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" befindet sich ein Stempeleintrag mit folgendem Inhalt: "Meldebogen a. d. Reichsmin. d. I. eingesandt am 15. Okt. 1940". Der Meldebogen wurde vermutlich noch von den Alsterdorfer Anstalten zusammen mit weiteren 406 Meldebogen verfasst und am 15. Oktober an die "Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin geschickt. Ob es eine Reaktion der "Euthanasie"-Zentrale auf den Meldebogen über Mikel Kairies gab und wie diese ausfiel, wissen wir nicht. Unverständlich bleibt auch, warum der Stempelaufdruck auf Mikel Kairies‘ Mainkofener Patientenblatt erst mit der Jahresangabe 1943 erscheint.

Mit den sogenannten Meldebögen wurden die in Psychiatrien lebenden Patientinnen und Patienten während der ersten Phase der NS-Krankenmorde zwischen 1939 und August 1941 erfasst. In der "Euthanasie"-Zentrale wurde über Leben und Tod der Betroffenen entschieden. Im Laufe der "Aktion T 4", Tarnbezeichnung nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, wurden wahrscheinlich mehr als 200 000 Patientinnen und Patienten mittels Meldebogen erfasst und 70 000 von ihnen in dafür eingerichteten Tötungszentren mit Kohlenmonoxid erstickt.

Die "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen", die vor der Zeit des Nationalsozialismus ein psychiatrisches Krankenhaus war, wurde systematisch zu einer Sterbeanstalt umfunktioniert. Von dort wurden während der ersten Phase der "Euthanasie"-Morde bis August 1941 Menschen in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim in der Nähe von Linz verschleppt und mit Gas ermordet. 606 von ihnen sind namentlich bekannt. Später wurden die Patientinnen und Patienten in Mainkofen selbst ermordet, und zwar durch Nahrungsentzug im Rahmen des "Bayrischen Hungererlasses" (Hungerkost, fleisch- und fettlose Ernährung, in Mainkofen als "3-B-Kost" bezeichnet), pflegerische Vernachlässigung und überdosierte Medikamentengaben. Nach dem Wissensstand von 2016 starben 760 Mainkofener Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner an Unterernährung. Als Todesursache wurde insbesondere Darmkatarrh, Tuberkulose, Lungenentzündung bzw. Lungentuberkulose angegeben.

Von den 113 Alsterdorfer Jungen und Männern, die am 12. August 1943 in Mainkofen eintrafen, verstarben 74 bis Ende 1945. Als Todesursache tauchte, wie in anderen Sterbeanstalten auch, immer wieder "Lungentuberkulose” auf – vierzig Mal bei den 74 in Mainkofen verstorbenen Patienten aus Alsterdorf. "Darmkatarrh” wurde fünfzehn Mal als Todesursache genannt. Nur 39 Menschen aus Alsterdorf überlebten das Jahr 1945, darunter 15 Erwachsene sowie 24 Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre. Die überlebenden Patienten wurden am 19. Dezember 1947 nach Alsterdorf zurückverlegt.

Es ist davon auszugehen, dass Mikel Kairies dem in Mainkofen üblichen Nahrungsentzug zum Opfer gefallen ist.

Stand: Oktober 2025
© Ingo Wille

Quellen: Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Bewohnerakte V 399 (Mikel Kairies). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 315-330.

druckansicht  / Seitenanfang