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Anne Liese Neumann
Anne Liese Neumann
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Anne Liese Neumann * 1925

Poßmoorweg 1 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
ANNE LIESE NEUMANN
JG. 1925
EINGEWIESEN 1938
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT‘ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 3.10.1944

Anne Liese Neumann, geb. 16.11.1925 in Horst (heute ein Teil von Seevetal), am 30.4.1938 aufgenommen in den damaligen "Alsterdorfer Anstalten" (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 16.8.1943 abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof"), dort gestorben am 3.10.1944

Poßmoorweg 1

Anne Liese Neumann wurde am 16. November 1925 in Horst, heute ein Teil der Gemeinde Seevetal, geboren. Ihre Mutter, Auguste Marie Neumann, geborene Langkeit, geboren am 10. März 1896, stammte aus dem Ort Dorf Neuhausen im damaligen Kreis Königsberg. Ihr Vater war der Kraftfahrer Johann August Neumann, geboren am 10. Dezember 1873 in Peterkowke im Norden der damaligen Provinz Posen (heute Woiwodschaft Großpolen). Das Paar hatte am 23. Dezember 1922 in Hamburg geheiratet.

Anne Liese war das jüngere der beiden Kinder von Auguste Marie und Johann August Neumann. Über ihr Geschwisterkind ist uns Näheres nicht bekannt.

Anne Liese Neumann lernte im Alter von einem Jahr zu sprechen, konnte jedoch mit vier Jahren noch nicht laufen. Seit ihrer sechsten Lebenswoche wurden epileptische Anfälle beobachtet, bei denen Zuckungen auftraten und sich die Augen verdrehten. Ihre geistige Entwicklung verlief nicht altersgemäß.

Aufgrund anhaltender starker Krämpfe (Status epilepticus) wurde Anne Liese Neumann vom 14. bis 18. Juni 1929 im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek aufgenommen. Das Kind – so das ärztliche Personal – habe sich in ständiger motorischer Unruhe befunden und unverständliche Worte gesprochen. Sein rechter Arm zeige deutliche Spasmen. Anne Liese Neumann konnte nur kurze Zeit allein sitzen, sie fiel ohne Stütze sofort zurück. Ihr rechter Arm und ihr rechter Fuß entsprachen nicht dem Entwicklungsstand eines dreieinhalbjährigen Kindes. Im Krankenhaus wurde auch frühkindliches Innenschielen auf beiden Augen (Strabismus convergens) beobachtet.

Obwohl eigentlich eine frühe Diagnose und Behandlung durch einen Augenarzt wichtig war, um langfristige Folgen zu vermeiden, ist über eine Behandlung in dem Bericht des Krankenhauses Barmbek, der der Patientenakte der "Alsterderdorfer Anstalten" beiliegt, nichts vermerkt. Wir wissen auch nicht, wie Anne Lieses Leben verlief, bis sie 1938 in den damaligen "Alsterdorfer Anstalten" aufgenommen wurde, außer, dass sie nie eine Schule besuchte.

Anne Lieses Mutter litt nach der Extraktion von zwei Backenzähnen im März 1938 unter anhaltenden starken Schmerzen. Sie hoffte auf Hilfe im Krankenhaus Barmbek. Die Ärzte beobachteten eine zunehmende Verschlechterung ihres Allgemeinbefindens. Infolge einer Lungenentzündung starb Auguste Marie Neumann am 30. März 1938.

Einen Monat nach dem Tod der Mutter brachte der Vater Anne Liese Neumann am 30. April 1938 in die damaligen "Alsterdorfer Anstalten". Ein niedergelassener Arzt hatte am Tag zuvor festgestellt: "Die Aufnahme der Patientin in die Alsterdorfer Anstalten ist wegen Imbezillität erforderlich. Gezeichnet: Dr. Jahn."

("Imbezillität” ist ein nicht mehr gebräuchlicher Ausdruck für eine mittelgradige geistige Behinderung.)

Die Aufnahmediagnose in den "Alsterdorfer Anstalten" lautete: "Epilepsie, Imbezillität, (untere Grenze), Gehirnmissbildung? Völlig ataktisch. Kann nicht allein stehen und gehen. Lebhafter Nystagmus. Kann sprechen und leichte Additionsaufgaben rechnen."
(Der Begriff "ataktischer Gang" bezeichnet einen unsicheren, schwankenden und unkoordinierten Gang, Nystagmus bedeutet Augenzittern, das zu einer Einschränkung des Sehvermögens führen kann.)

Bei ihrer Aufnahme verhielt sich Anne Liese Neumann lt. Patientenakte "sehr ungezogen, stellt immer dieselben Fragen oder spricht alles nach und singt sehr laut." Sie musste sich zunächst im "Wachsaal" aufhalten.
In "Wachsälen" wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. In den Alsterdorfer Anstalten wurden sie Ende der 1920er Jahre eingeführt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

In den folgenden Monaten und Jahren beobachtete das Personal wiederholt Krampfanfälle. Anne Liese Neumann war bei der Körperpflege sowie beim An- und Auskleiden vollständig auf Hilfe angewiesen und benötigte Hilfe beim Gehen. In längeren ruhigen Phasen beschäftigte sie sich mit Bauklötzen und Legespielen. Besonders hervorgehoben wurde, dass sie viele Opern und Operetten sowie die entsprechenden Komponisten kannte.

Die in den Alsterdorfer Anstalten vorgenommenen Eintragungen in Anne Liese Neumanns Patientenakte endeten am 16. August 1943 mit der Notiz: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalt durch Bombenangriff verlegt nach Wien. Gez. Dr. Kreyenberg".

Durch die massiven Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde die Gelegenheit, um sich eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 aus Alsterdorf 228 Frauen und Mädchen sowie 72 Mädchen und Frauen aus der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") abtransportiert. Unter ihnen befand sich Anne Liese Neumann

Während des Aufnahmegesprächs in Wien konnte Anne Liese Neumann ihren Namen und ihr Alter in langsam gesprochenen Worten richtig nennen. Sie berichtete, dass ihre Mutter bereits verstorben sei und ihr Vater in Hamburg lebe. Sie konnte das aktuelle Datum angeben, wenn auch nicht das Jahr. Sie hielt ihre Augen zunächst geschlossen und bemühte sich, den Aufnahmearzt nach Aufforderung mit dem rechten Auge anzusehen, links wirkte sich ihr Strabismus stark aus. Anne Liese Neumann konnte einfache Rechenaufgaben nicht richtig lösen. Sie wusste jedoch, dass "Deutschland ganz weit weg" war.

Während ihrer Zeit in Wien soll die junge Frau "zeitweise sehr rauflustig" gewesen sein und sich "keck bis ordinär" geäußert haben.

Am 12. Februar 1944 starb Anne Lieses Vater in Hamburg. Es ist nicht bekannt, ob sie davon Kenntnis erhielt.

Bis Oktober 1944 wurden keine weiteren Einträge in die Akte von Anne Liese Neumann vorgenommen. Ihr Gewicht, das in Hamburg zuletzt noch 42 kg betragen hatte, hatte sich bei der letzten Messung im August 1944 in Wien auf 30 kg vermindert. Sie starb am 3. Oktober 1944 angeblich an Lungenentzündung.

Ihr Leichnam wurde von dem Leiter der "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", Hans Bertha, seziert, ihr Gehirn lt. Totenschein "zu weiteren Untersuchungen in 4 % Formalin fixiert".

Unter der Leitung von Hans Bertha, einem der Hauptverantwortlichen für die Umsetzung des nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programms in Wien stiegen die Todesfälle in der Wiener Anstalt massiv an. Die Anstalt war 1907 am Stadtrand entstanden. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich wandelte sie sich zu einem Zentrum der beschönigend als "Euthanasie" bezeichneten Krankenmorde. Während der ersten Phase der NS-"Euthanasie” vom Oktober 1939 bis August 1941 war die Anstalt Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Gasmorde in den Tötungsanstalten wurde in den bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt, massenhaft weitergemordet, durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten und vor allem durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: Oktober 2025
© Ingo Wille

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 7214 Sterberegisterauszug Nr. 684/1938 (Auguste Marie Neumann/Langkeit), 9945 Sterberegisterauszug Nr. 103/1944 (Johann August Neumann). Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte V 144 (Anne Liese Neumann). Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 399. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331-371. Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425-467. Peter Schwarz, Die Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Markus Rachbauer / Florian Schwanninger (Hg.), Krieg und Psychiatrie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit in österreichischen Heil- und Pflegeanstalten im Ersten und Zweiten Weltkrieg (= Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, Bd. 5), Innsbruck 2022, S. 101-173. Zu Hans Bertha: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Hans_Bertha, Zugriff am 30.9.2025.

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