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Elise Kramer
Elise Kramer
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Elise Kramer * 1906

Borstelmannsweg 70 (Hamburg-Mitte, Hamm)


HIER WOHNTE
ELISE KRAMER
JG. 1906
EINGEWIESEN 1931
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 7.4.1944

Elise Emma Kramer, geb. am 23.5.1906 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten am 5.8.1931, verlegt nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") am 16.8.1943, dort gestorben am 7.4.1944

Borstelmannsweg 70 (Hamm)

Elise Emma Kramer (Rufname Elise) war am 23. Mai 1906 in Hamburg-Hammerbrook, Jenischstraße 6 (heute Wandalenweg) geboren worden. Dort wohnten ihre Eltern mit zwei Söhnen und dann auch mit Elise Kramer in einer Kellerwohnung.

Der ältere Bruder mit Namen Paul Christian Adam Hermann war am 16. März 1898 ebenfalls dort geboren worden. Der zweite Bruder, dessen Namen und Geburtsdatum wir nicht kennen, war vor Elises Geburt gestorben.

Die Eltern, der Bäcker Christian Carl August Theodor Kramer, geboren am 17. Oktober 1868 in Niederwildungen (heute Bad Wildungen) in Nordhessen, und die Mutter, Emma Dorothea Margarethe Kramer, geborene Weinreich, geboren am 16. Mai 1878 in Hamburg, hatten am 6. Mai 1897 in Hamburg geheiratet.

Christian Kramer unternahm offenbar mehrere Anläufe, um sich beruflich selbstständig zu machen. Im Hamburger Adressbuch von 1900 wurde er in der Jenischstraße 6 mit dem Hinweis "Grünwaren" geführt, in den Jahren nach Elise Kramers Geburt betrieb er dem Adressbuch zufolge ein Brotgeschäft.

Elise Kramer wurde in ihrem Geburtsjahr evangelisch-lutherisch getauft. Bereits früh bemerkten die Eltern Entwicklungsverzögerungen. Das Mädchen lernte das Laufen erst im Alter von fünf Jahren. Zudem war es schwerhörig und brauchte lange, um Dinge zu verstehen. Der Besuch der Hilfsschule Rosenallee in Hammerbrook blieb ohne Erfolg (Hilfsschule ist ein heute nicht mehr verwendeter Name für eigenständige sonder- oder heilpädagogische Förderschulen).
Seit ihrem zehnten Lebensjahr traten bei Elise Kramer häufig "Anfälle" auf, während der sie tobte und schrie. Das von dem behandelnden Hausarzt verordnete Luminal (ein Barbiturat zur Epilepsiebehandlung) führte zunächst zu ruhigen Phasen, in denen Elise einfache Arbeiten im elterlichen Haushalt verrichten konnte. Das Medikament verlor jedoch nach einiger Zeit seine Wirkung, so dass die wieder einsetzenden Anfälle zunehmend heftiger verliefen. Die Nachbarschaft fühlte sich nachts von Elise Kramer stark gestört.

Während der Jahre in der Jenischstraße firmierte Christian Kramer im Hamburger Adressbuch als Brothändler. Nach dem Umzug in den Borstelmannsweg 70 etwa 1929/1930 findet sich die Berufsbezeichnung "Bäcker" im Adressbuch. Sein Gesundheitszustand, die Herausforderungen durch Elises Einschränkungen und Verhaltensprobleme sowie die potenziell beeinträchtigte Gesundheit seiner Ehefrau könnten zu dem Verlust seiner beruflichen Selbstständigkeit beigetragen haben. Emma Dorothea Margarethe Kramer starb am 26. Oktober 1930 im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg im Alter von 58 Jahren.

Elise Kramers Vater wurde nach dem Tode seiner Ehefrau zunächst von seiner alleinstehenden Schwester, deren Namen wir nicht kennen, bei der Betreuung seiner Tochter unterstützt. Am 15. Juli 1931 stellte er bei der Hamburger Wohlfahrtsbehörde einen Antrag auf Unterbringung seiner Tochter in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Zur Begründung führte er an, er sei herzleidend, und seine Tochter würde ununterbrochen schreien und toben. Daraufhin wurde die 25 Jahre alte Elise Kramer am 5. August 1931 in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen.

Dort wurde ,,erethischer Schwachsinn/Idiotie" und "Schizophrenie" diagnostiziert. ("Schwachsinn" und "Idiotie" sind nicht mehr gebräuchliche Begriffe für eine mittelgradige geistige Behinderung bzw. für eine schwere Form der Intelligenzminderung).

Elise Kramer verhielt in den Alsterdorfer Anstalten nach den Berichten über sie anfänglich teilnahmslos, still und zurückgezogen sowie gutmütig, freundlich und verträglich. Sie habe Stimmen gehört und dauernd Selbstgespräche geführt.

Angeblich wechselten ihre Stimmungen stark. Im August 1931 soll sie nachts sehr laut gewesen sein und in einer Nacht mehr als sechs Stunden ohne Unterbrechung laut gelacht, geschrien und geweint haben, so dass sie im "Wachsaal" von den anderen Patientinnen getrennt untergebracht worden sei. In "Wachsälen" wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. In den Alsterdorfer Anstalten wurden Wachsäle Ende der 1920er Jahre eingeführt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

1933 hatte sich Elise Kramers Hörfähigkeit soweit zurückgebildet, dass eine Kontaktaufnahme und Verständigung mit ihr nur durch Berührung und wiederholtes Rufen direkt in ein Ohr möglich war. Sie bemühte sich, mit Nadel, Zwirn und Stoffresten zu arbeiten. Auf die Frage, was daraus werden solle, habe sie geantwortet "Ein Buchstabe Heil". Es sei gut zu erkennen gewesen, dass sie ein Hakenkreuz habe nähen wollen. Aus künstlichen Blumen konnte sie geschickt verschiedene Figuren herstellen. Einmal schnitt sie sich aus Pappe eine Sohle, die genau in ihre Sandale passte.

Elise Kramer war nach den Berichten in den Folgejahren fähig, ihre Körperpflege allein zu besorgen. Sie kannte die Namen ihrer Mitpatientinnen, war ihnen gegenüber freundlich, hielt sich aber meistens für sich allein. Sie wusste sich zu beschäftigen, galt weiter als gutmütig, freundlich und verträglich.

Elises Vater starb am 9. November 1938 auf dem Transport von der Wohnung im Borstelmansweg in das Krankenhaus St. Georg an Coronarsklerose. Wir wissen nicht, ob Elise Kramer davon Kenntnis erhielt. In ihrer Patientenakte findet sich dazu kein Hinweis.

Anfang 1943 wurde die inzwischen 36 Jahre alte Elise Kramer als "Spielkind" bezeichnet, das ganz in seiner Gedankenwelt lebe, sich aber immer zu beschäftigen wisse. Sie soll sich sehr sauber gehalten haben und ordentlich mit ihren Sachen umgegangen sein. Zudem wurde sie erneut als gutmütig, umgänglich und anhänglich beschrieben.

Am 16. August 1943 notierte Oberarzt Gerhard Kreyenberg: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien."

Die Alsterdorfer Anstalten, entstanden im 19. Jahrhundert als eine diakonische Einrichtung für geistig, körperlich behinderte und psychisch erkrankte Kinder und Erwachsene, hatten sich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 unter Leitung des späteren SA-Mitgliedes Pastors Friedrich Lensch und des Oberarztes Gerhard Kreyenberg zur Heil- und Pflegeanstalt, einem "Spezialkrankenhaus für alle Arten geistiger Defektzustände" gewandelt, wie es im entwürdigenden Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hieß. Ende Juli/Anfang August 1943 wurden auch die Alsterdorfer Anstalten von schweren Bombenangriffen ("Operation Gomorrha") getroffen. Der Anstaltsleiter nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Elise Kramer wurde am 16. August 1943 zusammen mit 227 Mädchen und Frauen aus den Alsterdorfer Anstalten sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") abtransportiert.

Über das Aufnahmegespräch in Wien wurde in Elise Kramers Akte notiert, sie bewege auf Fragen nur die Lippen, gebe jedoch keine verständliche Antwort. Sie soll so um sich geschlagen haben, so dass sie "die Jacke kriegen musste". Mit diesem Begriff war die umgangssprachlich genannte "Zwangsjacke" gemeint, mit der eine weitgehende Bewegungseinschränkung erzwungen werden konnte. Über Elises Kramers anschließenden Aufenthalt in der Anstalt in Wien finden sich kaum Aufzeichnungen. Wegen andauernder Schwäche habe sie im Bett bleiben müssen. Am 6. April 1944 stieg ihre Temperatur auf 39 Grad. Angeblich litt sie unter "Mundspeicheldrüsenpneumonie".

Elise Kramer starb am 7. April 1944. Sie wurde 37 Jahre alt.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" ab Oktober 1939 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Gasmordanstalten Ende August 1941 wurde in bisherigen Zwischenanstalten, auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: Mai 2025
© SchülerInnen der Berufsschule Anckelmannstraße und Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg diverse Jahrgänge; StaH 332-5 Standesämter 2450 Geburtsregister Nr. 640/1898 (Paul Christian Adam Hermann Kramer), 14701 Geburtsregister Nr. 929/1906 (Elise Emma Kramer), 2895 Heiratsregister Nr. 185/1897 (Emma Dorothea Margarethe Weinreich/ Christian Carl August Theodor Kramer), 963 Sterberegister Nr. 1616/1930 (Emma Dorothea Margarethe Kramer), 1084 Sterberegister Nr. 1945/1938 (Paul Christian Adam Hermann Kramer); Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv Sonderakte V 178 (Elise Kramer). Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff. https://www.alsterdorf.de/geschichte/#nationalsozialismushttps://www.alsterdorf.de/geschichte/#nationalsozialismus (Zugriff am 20.2.2025), https://www.gedenkstaettesteinhof.at/de/ausstellung/14-mord-durch-hunger (Zugriff am 20.2.2025)

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