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Wilhelmine Posselt * 1874
Simon-von-Utrecht-Straße 76 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)
HIER WOHNTE
WILHELMINE POSSELT
JG. 1874
EINGEWIESEN 1890
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 5.3.1944
Wilhelmine (Minna) Posselt, geb. am 22.9.1874 in Hamburg, aufgenommen am 14.10.1890 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), abtransportiert am 16.8.1943 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 5.3.1944
Simon-von-Utrecht-Straße 76 (früher Eckernförder Straße 76)
Marie Johanne Wilhelmine (Rufname Wilhelmine, genannt Minna) Posselt, wurde am 22. September 1874 als älteste Tochter der Eheleute Karl Gotthelf August Posselt und Dorothea, geborene Knolle, in Hamburg geboren. Ihr Vater war 1831 in Hartau, heute ein Ortsteil von Zittau im Südosten Sachsens, zur Welt gekommen. Er bekannte sich zur evangelisch-lutherischen Konfession. In den 1870er Jahren gab er seinen Beruf als Zimmermann an, später bezeichnete er sich als Arbeiter. Minna Posselts Mutter wurde am 11. Februar 1846 in Hildesheim geboren. Sie gehörte der katholischen Kirche an.
Zur Zeit der Geburt von Minnas jüngerer Schwester Johanne Marie, geboren am 9. April 1877, wohnte das Ehepaar Posselt im Hohlerweg 17. Diese Straße befand sich im früheren Hamburger Gängeviertel (heute ein Teil der Michelwiese unterhalb der Hauptkirche St. Michaelis). Ihr folgte am 31. Januar 1880 die jüngste Schwester Sophie Dorothea. Zu dieser Zeit wohnte die Familie im Paradieshof 3. Der Gang (sehr schmaler Weg) Paradieshof verlief zwischen der heutigen Michaelisstraße und dem Alten Steinweg im Gängeviertel. Die Wohnverhältnisse entsprachen weder im Hohlerweg, noch im Paradieshof "paradiesischen" Verhältnissen. Es handelte sich um Elendsquartiere.
Im Jahr 1881 hielt sich die Familie in Hartau auf. Minna Posselt wurde am 6. Januar 1881 in Zittau katholisch getauft und besuchte ab Ostern 1881 die Schule in Hartau.
In dieser Zeit befand sich Minnas Vater nicht bei seiner Familie, sondern in Hamburg. Die Gründe dafür sind uns nicht bekannt. Er starb am 22. April 1881 in seiner Bleibe im Paradieshof 3.
Nach einem sechsjährigen Besuch wurde Minna Posselt am 12. April 1889 aus der Schule in Hartau entlassen. Ihre Leistungen wurden als "kaum genügend" bewertet. Die Schulentlassung erfolgte "wegen Konfirmation", wie es im Entlassungszeugnis hieß. Die dafür notwendige protestantische Taufe fand zwei Tage später am 14. April 1889 in Zittau statt. Den Beweggrund für den Konfessionswechsel kennen wir nicht.
Dorothea Posselt kehrte mit ihren Töchtern 1889 oder 1890 nach Hamburg zurück. Sie fand ein Untermietverhältnis in der damaligen Eckernförderstraße 76 im Stadtteil St. Pauli (heute Simon-von-Utrecht-Straße).
Im Oktober 1890 erstellte der Amtsarzt C. W. Reinhard ein Gutachten für die Allgemeine Armenanstalt bezüglich der möglichen Aufnahme von Minna Posselt in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Er kam zu dem Ergebnis, dass Minna "hochgradig schwachsinnig" sei. Am besten wäre es, sie in einer "Anstalt für Idioten", beispielsweise in den Alsterdorfer Anstalten, unterzubringen. Zur Begründung führte er an, dass die sechzehnjährige Minna wie ein zehn oder elf Jahre altes Mädchen aussehe und geistig auf einer sehr niedrigen Stufe stehe. Sie könne nicht lesen und nur einfache Additionsaufgaben im Zahlenraum bis zehn lösen. ("Schwachsinn" und "Idiotie" sind heute nicht mehr verwendete Begriffe für eine mittelgradige geistige Behinderung bzw. für eine schwere Form der Intelligenzminderung).
Am 14. Oktober 1890 wurde Minna Posselt von der Allgemeinen Armenanstalt in die damaligen Alsterdorfer Anstalten eingewiesen.
Die Patientenakte ist nur unvollständig überliefert. Es fehlen Berichte aus vielen Jahren. Für 1900 und 1901 ist vermerkt, dass Minna Posselt leichte Hausarbeiten verrichte und "ordentlich stricken" könne. Ihre undeutliche Sprechweise sei kaum zu verstehen. Ihr Charakter wurde als gutmütig und fügsam beschrieben.
Minna Posselt erhielt öfter Besuch von ihrer Mutter und ihrer Schwester Johanne Sophie, die 1896 geheiratet hatte und nun den Nachnamen Martens trug.
1908 hielt sich Minna Posselt mehrmals "zur Erholung im Lazarett" auf. Ein Grund für die Erholungsnotwendigkeit wurde nicht vermerkt. 1912 befand sie sich "im Lazarett wegen Erregung". Ihre Arbeitsleistungen ließen im Laufe der Jahre nach, und sie soll "zänkisch" geworden sein. In den folgenden Jahren konnte sie Hausarbeiten verrichten.
In den 1930er Jahren wurde berichtet, Minna Posselt habe während der Besuchszeiten versucht, die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu lenken, indem sie "laut schrie, Räubergeschichten erzählte oder Kleinigkeiten aufbauschte". Sie sei im Umgang mit ihren "Mitzöglingen" nicht nett, sei "falsch, gehässig und lüge mit großer Frechheit". Ihre Arbeitsleistung sei gering. Sie sei treu und gewissenhaft, besorge ihre Körperpflege selbst, halte sich in ihrer Kleidung sauber und ordentlich. Wenige Monate später hieß es: "Sie ist sehr aufgeregt, streitsüchtig und weint beim geringsten Anlass. Sie spielt gerne die Schwerbeleidigte und niemals Verstandene."
Im Jahr 1937 wurde vermerkt, Minna Posselt sei unfähig zu sprechen. Ihr Gesichtsnerv soll gelähmt gewesen sein, so dass ihre Mimik beeinträchtigt war. Ihr rechter Arm soll schlaff herabgehangen haben, bis er schließlich gelähmt war. 1940 erlitt sie einen Schlaganfall, der sie in ihren Bewegungen weiter beeinträchtigte.
Im Februar 1943 wurde sie laut Patientenakte zum "Pflegling, der ganz und gar besorgt werden" musste. Beim Gehen musste sie geführt werden. Sie galt einerseits als ruhig und bescheiden, andererseits aber auch als sehr erregt, sobald sie sich durch etwas gereizt fühlte.
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha”) erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde die Gelegenheit, sich eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Am 16. August 1943 wurden mit einem dieser Transporte 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") in Wien "verlegt". Unter ihnen befand sich Minna Posselt.
Auch bei der Aufnahme in der Wiener Anstalt sprach Minna Posselt nur sehr schwer verständlich. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Die frühere geringe Rechenfertigkeit war verlorengegangen. Ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein waren weiterhin teilweise gelähmt, sodass sie nur mit Unterstützung gehen konnte. Zudem wurde ein Strabismus (Schielen) diagnostiziert. Zudem vermuteten die Ärzte eine Schädigung des zentralen Nervensystems.
Ende September 1943 lautete die Diagnose "Imbezillität bei Hirngefäßverkalkung". Kurz darauf wurde Minna Posselt als "sehr hinfällige Pat.[ientin]" beurteilt.
(Imbezillität ist ein nicht mehr gebräuchlicher Ausdruck für eine mittelgradige geistige Behinderung).
Die Schwester Johanne Martens erfuhr, Minna Posselt befände sich im "bedenklichen Zustand" infolge einer "Darmverstimmung". Doch dies habe sich im November wieder gebessert. Auch Anfang 1944 litt Minna Posselt zeitweise an Durchfall. Sie nahm laut Krankenbericht nur wenig Nahrung zu sich. Im Januar 1944 wog sie nur noch 32 kg.
Minna Posselt starb am 5. März 1944 angeblich an Hirngefäßverkalkung, Pneumonie und Darmentzündung. Sie wurde 69 Jahre alt.
Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.
Stand: Juli 2025
© Ingo Wille
Quellen: Adressbuch Hamburg (mehrere Jahrgänge); StaH 332-5 Standesämter 1906 Geburtsregister Nr. 1817/1877 (Johanne Marie Posselt), 1974 Geburtsregister Nr. (Sophie Dorothea Posselt), 2869 Heiratsregister Nr. 777/1896 (Johanne Marie Posselt/Johannes Heinrich Friedrich Martens), 104 Sterberegister Nr. 1192/1881 (Carl Gotthelf Posselt), 5345 Sterberegister Nr. 69/1922 (Dorothea Posselt); Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 131 (Minna Posselt). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff.


