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Harry Dreher * 1931
Oberaltenallee 72, Versorgungsheim (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)
HIER WOHNTE
HARRY DREHER
JG. 1931
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 10.8.1943
‚HEILANSTALT‘ MAINKOFEN
ERMORDET 6.5.1945
Harry Dreher, geb. 22.8.1931 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten am 18.1.1939, "verlegt" in die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen bei Deggendorf, dort gestorben am 6.5.1945
Oberaltenallee 72
Harry Günter Ernst (Rufname Harry) Dreher wurde am 22. August 1931 in Hamburg geboren. Seine Mutter, Hertha Johanna Minna Dreher, war zur Zeit der Geburt im damaligen Versorgungsheim Oberaltenallee als Hausangestellte tätig. Über sie ist Näheres nicht bekannt. Harry Drehers Vater ist unbekannt.
Wir wissen nicht, ob Harry Dreher nach der Geburt bei der Mutter lebte oder gleich in städtische Obhut genommen wurde. Vor seiner Aufnahme in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) lebte er im Kinderheim "Friede" in der damaligen Bürgerstraße 39 (heute Thedestraße) in Altona, lt. Adressbuch einer Einrichtung der Großstadtmission. Der Junge hätte Ostern 1937 eingeschult werden müssen. Der Beginn des Schulbesuchs war wohl schon um ein Jahr hinausgeschoben worden, als dieser ohne Angabe von Gründen ein weiteres Jahr später auf den 1. April 1939 festgesetzt wurde.
Das Jugendamt veranlasste Harry Drehers Einweisung in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Die Aufnahme erfolgte am 18. Januar 1939. Bei der Aufnahmeuntersuchung war er, so der Bericht, "ruhig und artig, sagte auf Befragen seinen Namen, bezeichnete den untersuchenden Arzt als ‚Mann‘. Zu weiterer Wortbildung nicht zu veranlassen."
Auf einer Postkarte ohne Absenderadresse teilte die Mutter mit, dass der Impfpass ihrer Kinder verloren gegangen sei. Daraus lässt sich schließen, dass Harry Dreher zumindest ein Geschwister hatte. Näheres wissen wir jedoch nicht.
Harry Dreher besuchte ab Oktober 1939 die Spielschule (eine Form der vorschulischen Erziehung) in den Alsterdorfer Anstalten. Dort soll er nur nach Aufforderung gesprochen haben. "Bei allen Beschäftigungen ist er langsam und bequem. Nur wenn er sich unbeobachtet glaubt, wird er lebhafter, unterhält sich mit seinen Kameraden und vollführt unzählige Streiche. Er ist unverträglich, egoistisch, hört gern Musik, ohne sich an dem Singen von kleinen Liedern zu beteiligen. Bei kleinen Handfertigkeiten ist er zaghaft und ungeschickt. Dem Zeigen von Bildern folgt er gern. Das Stillsitzen wird ihm schwer", hieß es in seiner Schulakte.
Auch in dem einzigen im Jahre 1940 verfassten Bericht wurde wiederholt, dass Harry Dreher sich unter Beobachtung ruhig verhalte. Sobald er sich unbeobachtet fühle, sei er sehr wild. Er weine oft "unbegründet", oft schon, wenn ein anderes Kind ihn nur anfasse. Er spreche wenig, laufe schlecht und esse sehr "unmanierlich". Er sei in der Körperpflege unselbstständig, müsse angekleidet werden.
Im Jahre 1941 wurde von Entwicklungsrückschritten berichtet. Seine Bewegungen seien schwerfälliger geworden und er falle oft hin. Harry Dreher besuchte weiterhin die Spielschule, jedoch ohne Fortschritte.
Im Alter von zehn Jahren wurde Harry Dreher in den Männerbereich der Anstalt verlegt. Dort soll er sich mit seinen Mitpatienten gut vertragen haben.
Die wenigen Eintragungen in Harry Drehers Patientenakte enden am 11. August 1943 mit folgender Notiz: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Mainkofen. Gez. Dr. Kreyenberg"
Nachdem die Alsterdorfer Anstalten während der schweren Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") Schäden erlitten hatten, bat der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, die Hamburger Gesundheitsbehörde um Genehmigung für den Abtransport von etwa 750 Anstaltsbewohnerinnen und -bewohnern, weil sie durch die Bombenangriffe obdachlos geworden seien. Zwischen dem 7. und dem 16. August 1943 verließen drei Transporte mit insgesamt 469 Mädchen, Jungen, Frauen und Männern die Alsterdorfer Anstalten in verschiedene Richtungen, darunter am 10. August 1943 ein Transport mit 113 Männern, Jugendlichen und Jungen mit dem Ziel "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" bei Deggendorf in der Nähe von Passau. Unter ihnen befand sich Harry Dreher.
Über Harry Drehers Aufenthalt in der Mainkofener Anstalt sind keine Aufzeichnungen überliefert. Seine Patientenakte enthält nur einen von dem Arzt Dr. Reichart unterschriebenen Leichenschau-Schein, nach dem Harry Dreher am 6. Mai 1945 morgens um 4:15 Uhr angeblich an Lungentuberkulose starb.
Die Anstalt informierte den "Oberbürgermeister Hamburg" und die zur Euthanasie-Zentrale in Berlin gehörende "Zentralverrechungsstelle für Heil- und Pflegeanstalten", die sich zu der Zeit in Mühlhausen/Thüringen befand, über Harry Drehers Ableben. Angeblich konnten "Weder Angehörige noch die dienstl.[ichen] Stellen infolge der gegenwärtigen Verhältnisse" benachrichtigt werden.
Die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen, in der vornationalsozialistischen Zeit ein psychiatrisches Krankenhaus, wurde während der NS-Zeit systematisch zu einer Sterbeanstalt entwickelt. Von dort wurden während der ersten Phase der "Euthanasie"-Morde bis August 1941 Menschen in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim in der Nähe von Linz verschleppt und mit Gas ermordet. 606 von ihnen sind namentlich bekannt (Stand 2016). In der Zeit danach wurden die Patientinnen und Patienten in Mainkofen selbst ermordet, und zwar durch Nahrungsentzug im Rahmen des "Bayrischen Hungererlasses" (Hungerkost, fleisch- und fettlose Ernährung, in Mainkofen als "3-b Kost" bezeichnet), pflegerische Vernachlässigung und überdosierte Medikamentengaben. Nach dem Wissensstand von 2016 starben 760 Mainkofener Anstaltsbewohner an Unterernährung. Als angebliche Todesursache wurde insbesondere Darmkatarrh, Tuberkulose, Lungenentzündung bzw. Lungentuberkulose angegeben.
Von den 113 Alsterdorfer Jungen und Männern, die am 12. August 1943 in Mainkofen eintrafen, verstarben 74 bis Ende 1945. Als Todesursache tauchte, wie in anderen Sterbeanstalten auch, immer wieder "Lungentuberkulose" auf, so vierzig Mal bei den 74 Alsterdorfer Patienten. "Darmkatarrh" wurde fünfzehn Mal als Todesursache genannt. Nur 39 Menschen aus Alsterdorf überlebten das Jahr 1945, davon 15 Erwachsene sowie 24 Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 21 Jahren. Die überlebenden Patienten wurden am 19. Dezember 1947 zurück nach Alsterdorf verlegt.
Es kann als sicher angenommen werden, dass Harry Dreher keines natürlichen Todes starb. Er wurde nur 13 Jahre alt.
Seit 2014 befindet sich auf dem Gelände des heutigen Bezirksklinikums Mainkofen ein "Lern- und Gedenkort", an dem die ermordeten Patienten namentlich genannt werden und ihrer gedacht werden kann. Eine weitere Gedenktafel erinnert an die über fünfhundert Jugendlichen und Erwachsenen, an denen Zwangssterilisationen durchgeführt wurden.
Für Harry Dreher ist kein Ort sicher bekannt, an dem er zusammen mit seiner Mutter lebte. Da sie längere Zeit im Versorgungsheim Oberaltenallee tätig war, ist es denkbar, dass auch ihr Sohn dort gewesen ist. Deshalb wurde der Stolperstein zur Erinnerung an Harry Dreher im Fußweg vor dem ehemaligen Versorgungsheim in der Oberaltenallee 72 in Uhlenhorst eingelassen.
Stand: August 2025
© Ingo Wille
Quellen: Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv (Sonderakte V 424, Harry Dreher). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 315 ff.