Namen, Orte und Biografien suchen
Bereits verlegte Stolpersteine
Suche
Margareta Liebitz * 1884
Averhoffstraße 5, ggü. Nr. 6 (Hamburg-Nord, Uhlenhorst)
HIER WOHNTE
MARGARETA LIEBITZ
JG. 1884
EINGEWIESEN 1935
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
TOT 19.5.1945
Margaretha Liebitz, geb. am 28.1.1889 in Hamburg, anschließend aufgenommen im Waisenhaus Hamburg, vom 18.8.1900 bis 12.8.1918 in den damaligen "Alsterdorfer Anstalten" (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), vom 13.8.1918 bis 7.2.1920 im Werk- und Armenhaus (1919 umbenannt in Versorgungsheim), am 7.2.1920 aufgenommen in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, am 8.8.1935 erneut aufgenommen in den "Alsterdorfer Anstalten", am 16.8.1943 abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof"), dort gestorben am 19.5.1945.
Averhoffstraße 5, gegenüber Nr. 6 (ehemaliges Waisenhaus Hamburg)
Margaretha Liebitz wurde am 28. Januar 1889 in der Entbindungsanstalt Pastorenstraße 16 in Hamburg-Neustadt geboren, einer Einrichtung, die im Jahre 1795 durch private Initiative für wohnungslose oder unbemittelte ledige Schwangere gegründet worden war.
Ihre Mutter Friedchen Anna Sophie Liebitz war am 13. Januar 1862 in Greifswald geboren worden. Sie brachte insgesamt acht Kinder zur Welt, außer Margaretha am 31. Januar 1882 Wilhelmine Christina Frieda, danach Alphons Friedrich Wilhelm am 1. April 1887 (gestorben am 5. Mai 1887), Johanna Sophie Friederike am 15. März 1892 (gestorben am 10. April 1892), Maria Clara Gertrud am 1. Juli 1896 (gestorben am 23. November 1896), Adolfine am 29. April 1898 und schließlich Julius Adolf am 17. August 1899 (gestorben am 16. Mai 1900), alle geboren in Hamburg. Über den oder die leiblichen Väter der Kinder ist uns nichts bekannt.
Friedchen Anna Sophie Liebitz blieb unverheiratet. Sie hielt sich, wie sich aus den Angaben in den Geburtsregisterauszügen ergibt, als Arbeiterin, kurzzeitig auch als "Dienstmädchen" "über Wasser". Sie muss in prekären Verhältnissen gelebt haben, so dass sie zur Zeit der Geburt von Maria Clara Gertud 1896 im Werk- und Armenhaus Oberaltenallee im Stadtteil Uhlenhorst und erneut um 1920 im 1919 umbenannten Versorgungsheim untergebracht war.
Über Margarethas Geschwister, die die ersten Monate nach der Geburt überlebten, wissen wir nichts. Uns ist lediglich bekannt, dass Wilhelmine Christina Frieda und Maria Clara Gertrud später heirateten.
Margaretha Liebitz wurde im Anschluss an ihre Geburt im Waisenhaus Hamburg in der Averhoffstraße 5 in Hamburg-Uhlenhorst aufgenommen und von dort am 13. August 1900 neunjährig in die damaligen "Alsterdorfer Anstalten" (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) verlegt. Das Aufnahmeattest bescheinigte ihr "Imbezillität". ("Imbezillität" ist ein nicht mehr gebräuchlicher Ausdruck für eine mittelgradige geistige Behinderung.)
Über diese erste Phase ihres Aufenthalts in den Alsterdorfer Anstalten ist Näheres nicht überliefert. Am 9. August 1918 kam Margaretha Liebitz in das Werk- und Armenhaus in der Oberaltenallee im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Sie galt dort als "hochgradig schwachsinnig", jedoch als körperlich gesund und zu leichter Arbeit fähig. Am 17. August wurde sie in die Zweiganstalt in Farmsen versetzt, wegen "Unreinlichkeit" aber schon am 27. August wieder in die Anstalt in der Oberaltenallee zurücküberwiesen. Hier wurde sie als "bösartig" wahrgenommen und, nachdem sie ihre Umgebung angegriffen und Kleidungsstücke zerrissen hatte, am 7. Februar 1920 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg überstellt. Margaretha Liebitz war jetzt 21 Jahre alt. Die 1,47 m große Frau wies ein enormes Übergewicht auf, das auf Erkrankungen des Hormonsystems zurückgeführt wurde. Sie litt unter Dermographismus, einer Reaktion der Haut, bei der nach Druck, Reiben, Kratzen oder Schrubben erhabene rote oder weiße Streifen (Quaddeln) oder Striemen entstehen, die wie eine Handschrift wirken können und zu Juckreiz führen.
Nach einer anfangs rastlosen Phase verhielt sich Margaretha Liebitz meist ruhig und wirkte zufrieden. Ab 1925 in Füßen und Beinen aufgetretene Schmerzen wurden auf "statische Beschwerden" zurückgeführt. Soweit es ihre Füße und das auf 111 kg angestiegene Gewicht erlaubten, bemühte sie sich zu stehen und zu gehen. Sie soll soviel gegessen haben wie ihr nur möglich war und nach einer Mahlzeit gleich auf die nächste gewartet haben. 1930 soll sie nach Aufforderung etwas bei der Hausarbeit geholfen haben. Ihr Gewicht stieg Mitte 1933 auf 124,6 kg an, so dass sie sich nur schwerfällig bewegen konnte.
Wir wissen nicht, ob Friedchen Anna Sophie Liebitz ihre Tochter jemals besuchte. Sie starb 1932. Auf der Sterbeurkunde wurde die 70jährige als "ledige Arbeiterin" bezeichnet. Dies deutet daraufhin, dass Margarethas Mutter auch im Rentenalter in ärmlichen Verhältnissen lebte.
Am 8. August 1935 wurde Margaretha Liebitz wieder in die "Alsterdorfer Anstalten" verlegt. Dort lebte sie sich gut ein und arbeitete gerne in der Gemüsestube. Nachdem sie zunächst als verträglich wahrgenommen wurde, kam es 1937 zu einem Zwischenfall mit einer Mitbewohnerin. Margaretha Liebitz schlug sie so heftig, dass diese stürzte und sich am Kopf verletzte.
In Erregungsphasen zerkratzte Margaretha Liebig völlig ihre Arme. Sie nässte sich regelmäßig ein und wurde dafür bestraft, angeblich mit der Folge, dass sie kurzzeitig trocken blieb. Die Geburtstagsschokolade wurde ihr dann nach erneutem Einnässen vorenthalten.
Im Mai 1938 verletzte sich Margaretha Liebitz bei einem Sturz am rechten Knie. Als sie sich nicht behandeln lassen wollte und die "Schwestern" (Betreuerinnen) drastisch beschimpfte, verordnete ihr der Arzt vier Tage Strafkost. Sie reagierte mit heftigen Aggressionen und schlug mehrere Mitpatientinnen. In der Folge wurde sie im "Wachsaal" isoliert. "Wachsäle" wurden in den 1910er Jahren in psychiatrischen Einrichtungen eingerichtet. In ihnen wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. Im Laufe der dreißiger Jahre wandelten sie sich zu Zwangseinrichtungen zur Ruhigstellung von Patientinnen und Patienten mit Medikamenten, Fixierungen und anderen Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.
1940 soll Margaretha Liebitz ihre Körperpflege soweit selbstständig übernommen haben, wie es ihr die Körperfülle ermöglichte. Sie war nun solange fleißig und freundlich, wie sie ihre Nahrungsbedürfnisse befriedigen konnte. Sobald sie ihre vier bis fünf Essensportionen je Mahlzeit nicht erhielt, wurde sie jedoch wütend, zerkratzte sich Arme und Gesicht. Sie äußerte dann unflätige Schimpfwörter.
Im Laufe des Jahre 1941 verminderte sich Margaretha Liebitz‘ Gewicht auf 98 kg, 1942 auf 85 kg. Wie dies gelang, ist nicht überliefert.
Die Eintragungen in Margaretha Liebitz‘ Patientenakte enden am 16. August 1943 mit der Notiz des Leitenden Arztes der "Alsterdorfer Anstalten", SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien."
Durch die schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") abtransportiert. Unter ihnen befand sich Margaretha Liebitz.
Bei der Aufnahme in Wien wurde Margaretha Liebitz‘ Gewicht mit noch 78 kg angegeben. Sie galt als "mangelhaft orientiert", "Intelligenzfragen blieben unbeantwortet". Beschäftigungsversuche in der Wäscherei scheiterten. Auch in Wien verhielt sie sich "unbeholfen". Sie musste bei der Körperpflege unterstützt werden. Ihr Appetit soll weiterhin gut gewesen sein.
Im Dezember 1944 war Margaretha Liebitz‘ Gewicht weiter auf 56 kg zurückgegangen. Ursachen dafür wurden nicht vermerkt. Am 13. Dezember 1944 wurde sie in den als "Infektionspavillon" verwendeten Pavillon 19 verlegt. An Tuberkulose Erkrankte oder Patientinnen mit Tuberkulose-Verdacht wurden in diesem Pavillon konzentriert. Spätestens dort infizierten sich noch gesunde Patientinnen oder Patienten mit Tuberkulose.
Noch am 26. Januar 1945 wurde Margaretha Liebitz‘ Appetit und Schlaf als gut bezeichnet. Das Gewicht hatte sich im April weiter auf 50 kg vermindert. Am 12. Mai wurde "Zunehmende Hinfälligkeit, Erscheinungen einer Tuberkulose, Durchfälle" festgehalten.
Margaretha Liebitz starb am 19. Mai 1945 angeblich an Marasmus und Lungentuberkulose.
(Als Marasmus wird eine schwere, chronische Form der Mangelernährung bezeichnet, die zu starkem Gewichtsverlust, Muskel- und Fettabbau führt.)
Die Anstalt in Wien war 1907 am Stadtrand entstanden. Sie wandelte sich nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich zu einem Zentrum der beschönigend als "Euthanasie" bezeichneten Krankenmorde. Während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 war die Anstalt in Wien Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Gasmorde in den Tötungsanstalten wurde in den bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt, massenhaft weitergemordet: durch Überdosierung von Medikamenten, durch Nichtbehandlung von Krankheiten und vor allem durch Nahrungsentzug. Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.
Margaretha Liebitz‘ Rufname wurde in offiziellen Dokumenten oft als "Margarete" geschrieben. Diese Schreibweise findet sich auch auf dem Stolperstein, der an sie erinnert. Demgegenüber weist ihre Geburtsurkunde "Margaretha" als korrekte Schreibweise aus.
Margaretha Liebitz befand sich während ihres Lebens immer in Heimen bzw. (Kranken-) Anstalten, in denen sie unfreiwillig untergebracht war. Die ersten elf Lebensjahre lebte sie im Waisenhaus Hamburg in der Averhoffstraße. Diese Adresse ist die einzige, die als nicht unfreiwillig angesehen werden kann. Deshalb wurde der Stolperstein, der an Margaretha Liebitz erinnert, dort in den Fußweg eingelassen.
Anders als auf dem Stolperstein angegeben wurde Margaretha Liebitz nicht 1884 sondern 1889 geboren.
Stand: Oktober 2025
© Ingo Wille
Quellen: Adressbuch Hamburg (diverse Jahrgänge); StaH 332-5 Standesämter 8963 Geburtsregister Nr. 407/1882 (Wilhelmine Christina Frieda Liebitz), 8984 Geburtsregister Nr. 797/1884 (Marie Margareta Helene Liebitz), 9021 Geburtsregister Nr. 1733/1887 (Alphons Friedrich Wilhelm Liebitz), 2196 Geburtsregister Nr. 549/1889 (Margaretha Liebitz), 9079 Geburtsregister Nr. 662/1892 (Johanna Sophie Friederike Liebitz), 9150 Geburtsregister Nr. 1108/1898 (Adolfine Liebitz), 13096 Geburtsregister Nr. 2108/1899 (Julius Adolf Liebitz), 9127 Geburtsregister Nr. 1782/1896 (Maria Clara Gertrud Liebitz), 9848 Sterberegister Nr. 431/1892 (Johanna Sophie Friederike Liebitz), 7821 Sterberegister Nr. 1640/1887 (Alphons Griedrich Wilhelm Liebitz), 6820 Sterberegister Nr. 1619/1896 (Maria Clara Gertrud Liebitz), 444 Sterberegister Nr. 998/1899 (Julius Adolf Liebitz), 992 Sterberegister Nr. 65/1932 (Friedchen Sophie Liebitz); Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv (Sonderakte V 163 Margaretha Liebitz). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331-371. Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425-467. Peter Schwarz, Die Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Markus Rachbauer / Florian Schwanninger (Hg.), Krieg und Psychiatrie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit in österreichischen Heil- und Pflegeanstalten im Ersten und Zweiten Weltkrieg (= Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, Bd. 5), Innsbruck 2022, S. 101-173.

