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Bereits verlegte Stolpersteine



Angela Lucassen * 1943

Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik) (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


ANGELA LUCASSEN
GEB. 12.4.1943
ERMORDET 17.10.1944

Weitere Stolpersteine in Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik):
Andreas Ahlemann, Rita Ahrens, Ursula Bade, Hermann Beekhuis, Ute Conrad, Helga Deede, Jürgen Dobbert, Anneliese Drost, Siegfried Findelkind, Rolf Förster, Volker Grimm, Antje Hinrichs, Lisa Huesmann, Gundula Johns, Peter Löding, Elfriede Maaker, Renate Müller, Werner Nohr, Harald Noll, Agnes Petersen, Renate Pöhls, Gebhard Pribbernow, Hannelore Scholz, Doris Schreiber, Ilse Angelika Schultz, Dagmar Schulz, Magdalene Schütte, Gretel Schwieger, Brunhild Stobbe, Hans Tammling, Peter Timm, Heinz Weidenhausen, Renate Wilken, Horst Willhöft

Kinderkrankenhaus Rothenburgsort

Im früheren Kinderkrankenhaus Rothenburgsort setzten die Nationalsozialisten ihr "Euthanasie-Programm" seit Anfang der 1940er Jahre um.
33 Namen hat Hildegard Thevs recherchieren können.

Eine Tafel am Gebäude erinnert seit 1999 an die mehr als 50 ermordeten Babys und Kinder:

In diesem Gebäude
wurden zwischen 1941 und 1945
mehr als 50 behinderte Kinder getötet.
Ein Gutachterausschuss stufte sie
als "unwertes Leben" ein und wies sie
zur Tötung in Kinderfachabteilungen ein.
Die Hamburger Gesundheitsverwaltung
war daran beteiligt.
Hamburger Amtsärzte überwachten
die Einweisung und Tötung der Kinder.
Ärzte des Kinderkrankenhauses
führten sie durch.
Keiner der Beteiligten
wurde dafür gerichtlich belangt.



Weitere Informationen im Internet unter:

35 Stolpersteine für Rothenburgsort – Hamburger Abendblatt 10.10.2009

Stolpersteine für ermordete Kinder – ND 10.10.2009

Stolpersteine gegen das Vergessen – Pressestelle des Senats 09.10.2009

Die toten Kinder von Rothenburgsort – Nordelbien.de 09.10.2009

35 Stolpersteine verlegt – Hamburg 1 mit Video 09.10.2009


Wikipedia - Institut für Hygiene und Umwelt

Gedenken an mehr als 50 ermordete Kinder - Die Welt 10.11.1999

Euthanasie-Opfer der Nazis - Beitrag NDR Fernsehen 29.05.2010

Hitler und das "lebensunwerte Leben" - Andreas Schlebach NDR 24.08.2009
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Angela Lucassen, geb. 12.4.1943 in Eichede/Kreis Stormarn, ermordet am 17.10.1944

Angela Lucassen wurde am 3. Oktober 1944 im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort aufgenommen. Elf Tage später erhielt die Mutter eine Rechnung über 40 RM für weitere zehn Tage Krankenhausaufenthalt, doch am Ende dieser Zeitspanne lebte ihr Kind schon nicht mehr.

Angela war das erste Kind ihrer Eltern. Der Vater war 29 Jahre alt und aktiver Soldat, die Mutter 23 Jahre. Die Familie lebte in Bargteheide in einer 1-Zimmer-Wohnung mit Küche. Angela kam zum errechneten Geburtstermin zu Hause zur Welt und wog 3000 g. Nach Aussage der Mutter war die Geburt zwar leicht gewesen, aber Angela habe dabei eine Hirnblutung erlitten. Im Alter von viereinhalb Monaten traten zum ersten Mal Krämpfe auf. Die Anfälle wurden häufiger und schwerer und verschwanden auch unter der vom Bargteheider Arzt Sauer eingeleiteten Behandlung mit Luminaletten (Tabletten mit einer dem Säuglingsalter entsprechenden geringen Dosis Luminal) nicht.

Die Tochter der Wohnungsvermieterin, von Beruf Krankenschwester, empfahl der Mutter, sich an ihren Chef zu wenden, Wilhelm Bayer. Diesen suchte sie mit Angela Anfang 1944 in seiner Privatpraxis auf. Auch er verordnete Tabletten. Dann erkrankte Angela an Röteln. Nach deren Abklingen machte Frau Lucassen einen zweiten Besuch bei Bayer, da Angela bis zu neun Krämpfe am Tag erlitt. Er empfahl eine stationäre Aufnahme, die die Mutter jedoch ablehnte. Stattdessen suchte sie wieder Sauer auf, der inzwischen in Lübeck praktizierte. Er nahm eine Lumbalpunktion vor und entließ sie mit dem Bescheid, dass Angelas Zustand aussichtslos sei, er fügte hinzu: "Das Beste wäre es, wenn der liebe Gott sie wieder zu sich nähme."

Nach einem weiteren Besuch bei Bayer wies dieser Angela, die inzwischen eineinhalb Jahre alt war, mit der Diagnose "Krämpfe bei cerebraler Unterentwicklung" in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort ein.
Zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme traten die Anfälle viermal täglich auf und dauerten jeweils ein paar Sekunden. Angela nahm keinerlei Anteil an der Umgebung, konnte nicht laufen, nicht sprechen und war "nicht bettrein". Sie wurde auf der chirurgischen Station untergebracht. Die zuständige Ärztin, Ingeborg Wetzel, beschrieb Angela als ein körperlich gut entwickeltes Mädchen, "das sich unter schrillem Aufschreien gegen die Untersuchung wehrte. Die Aufmerksamkeit ist mit keinem Mittel zu erzielen." Ihre Diagnose lautete "Idiotie".

Angela wurde täglich zehn Stunden, meist auch länger, in den Luftschutzbunker gebracht. Zur Klärung, ob ein Hydrocephalus, ein Wasserkopf, vorliege, wurde am dritten Kliniktag eine Encephalographie (s. o. Erläuterung) vorgenommen. Sie ergab keinen Befund. Nach der Untersuchung erbrach sich Angela. Während ihres Klinikaufenthalts wurden keine weiteren Krampfanfälle registriert. Angela starb bereits nach zwei Wochen.

Offenbar hatte Bayer sie bereits vor ihrer Aufnahme im Krankenhaus dem "Reichsausschuss" gemeldet, ohne dass die Mutter zuvor ihre ausdrückliche Einwilligung in die "Behandlung" gegeben hatte. Im Ermittlungsverfahren gegen Bayer sagte sie, "wenn ich aber von Dr. Bayer gefragt worden wäre, hätte ich ihm die Genehmigung zur Behandlung erteilt, denn der Zustand des Kindes war derartig, dass ich das Letzte versucht hätte, um dem Kind zu helfen, wenn es auch derart gefahrvoll war, wie Dr. Bayer es geschildert hatte".

Angela erhielt von der Stationsärztin die tödliche Luminal-Spritze, wobei Stationsschwester Martha Müller assistierte. Ingeborg Wetzel gab als Todesursache "Kreislaufversagen" an.

Am 18. Oktober 1944, einen Tag nach Angelas Tod, wurde die Mutter informiert und um ihre Einwilligung in eine Sektion gebeten. Unter der Nummer 797 fasste Josef Heine vom AK St. Georg die Ergebnisse der Autopsie zusammen, die er vor dem Ermittlungsrichter wiederholte: "Das Kind A. L. hatte eine Pneumonie und eine frische Hirnblutung. Beide Gründe sind die Todesursache. Die Pneumonie und die Blutung können durch die Verabfolgung einer Luminalinjektion von 7–10 ccm hervorgerufen sein. Luminal ist nur durch eine chemische Untersuchung feststellbar. Diese ist nicht vorgenommen worden."

Das Krankenhaus selbst zeigte Angelas Tod vier Tage später, offenbar nach erfolgter Autopsie, beim Standesamt Billbrook an und nannte als Todesursache "cerebrale Anomalie, Pneu­mo­nie". Der Vater erhielt Sonderurlaub nach dem Tod seiner Tochter, kam aber zu spät zu Angelas Beerdigung.

Angela Lucassen befand sich zwei Wochen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, mithin von den uns bekannten "Reichsausschusskindern" die kürzeste Zeit, bis der Tod herbeigeführt wurde. Sie wurde eineinhalb Jahre alt.

© Hildegard Thevs

Quellen: StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht – NSG, 0017/001; 332-5 Standesämter, 1237+359/ 1944; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Abl. 2000/1, 63 UA 8.

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